Sprachgrenze wanderte im Knödelland nordwärts
Drossener redeten bis um 1500 „platt“ – Danach war das Mitteldeutsche bis zur Warthe verbreitet
R. Pankow
Wer in einem Lexikon oder Fachbuch auf große karthographische Darstellungen der deutschen Mundarten stößt, stellt fest, dass die „Maken/machen-” und die „Appel/Apfel-Linie” von West nach Ost durch Brandenburg und damit auch durch das Sternberger Land verläuft. Somit lebten wir also bis zur Vertreibung an der Grenze zwischen der niederdeutschen und der hoch- oder mittel-deutschen Sprache. In letzter Zeit lasen wir in Berichten über Bundestagsvorlagen und -debatten, dass das Niederdeutsche als selbständige Sprache (nicht etwa nur als Mundart) angesehen wird und deshalb u. a. durch Unterricht und Literaturförderung erhalten, vor dem Aus-sterben bewahrt werden soll. Da ich Einwohner unseres Knödelländchens nie platt sprechen hörte, habe ich mich ein wenig mit der Frage beschäftigt, ob und wo denn daheim eine Sprachgrenze verlief.
Ich stieß auf zwei Schriften zur Sache. Zunächst war da der Aufsatz „Deutsche Muttersprache im Osten” von Dieter Berger, den ich in dem 1951 in Braunschweig von L. Mackensen herausgegebenen Buch „Deutsche Heimat ohne Deutsche” fand. Weiter entdeckte ich einleuchtende Aussagen in einer in Rudolstadt verlegten Arbeit von Prof. Haushalter aus dem Jahre 1886 mit dem Titel „Die Grenze zwischen dem hoch-deutschen und dem niederdeutschen Sprachgebiet östlich der Elbe”. Das Ergebnis dieser Lektüre: Bis zum 15. Jahr-hundert gab es tatsächlich eine Sprachgrenze im Sternberger Land. Damals wurde in Göritz, Drossen und Zielenzig sowie nördlich davon (noch) nieder-deutsch beurkundet und geredet. Da-nach drang das Hoch- oder Mitteldeutsche nach Norden vor. Sein Einzugsgebiet endete um die letzte Jahrhundert-wende an der unteren Warthe und an der Netze.
Wie kam es zu der Sprachgrenze in Ostdeutschland? Nun, im Hochmittelalter zogen fast alle deutschen Stämme mit Ausnahme der Alemannen fast geradlinig von Westen nach Osten. So übertrug sich auf die neu besiedelten Lande die Dreiteilung der deutschen Mundarten. Das Oberdeutsche ging von Bayern aus. Thüringen wurde Durchgangsland für die Besiedlung Obersachsens und Schlesiens (mitteldeutsch). Im Norden zogen die Niederdeutschen nach Pommern, Brandenburg und Altpreußen. Von der geraden Richtung schwenkten Siedlerzüge vielfach seitlich ab, wo immer sie Raum und guten Boden fanden. In der Mitte, der Markgrafschaft Meißen, entstand der Staat der Wettiner. Aus vielen Mundarten bildete sich hier eine gemeinsame ostmitteldeutsche Siedlersprache.
Die Wanderung setzte sich fort und erschloss immer neue Gebiete. Hinter der Lausitz, wo eine starke Gruppe der Wen-den ansässig blieb, ging der Zug nach Schlesien. Von hier aus dehnte sich das Deutschtum bis nach Krak auf und/oder abwärts bis zur Warthemündung aus. Auch im Gebiet des Deutschen Ordens, also in Ost- und Westpreußen, siedelten sich viele „Mitteldeutsche” an.
Die Meißnische Sprache, die Sprache Luthers, das Ostmitteldeutsche, wurde zur allgemeinen Kanzleisprache. Der Reformator, der wollte, dass ihn alle verstehen, ließ in seine Bibelübersetzung auch ober- und niederdeutsche Wörter einfließen.
Siedler aus Flandern, vom Niederrhein, aus Westfalen und Niedersachsen wanderten an die Ostsee und an die Unterläufe der großen Ströme. Die Ritter und Kaufleute befuhren die Ostsee bis nach Schweden und zum Baltikum. Die Bauern wanderten im Tiefland nach Mecklenburg, ins Brandenburgische, nach Pommern und an die Haffküste. Viele niederdeutsche Ausdrücke flossen in die deutsche Hochsprache ein. Für Füße sagt man bis Breslau und Posen wie am Niederrhein „Beine” vom flandrischen „been”, das früher Fuß bedeutete. Der flämische „Kanten” ist ein Berliner Wort geworden.
Eine zweite Wanderwelle kam im 16. Jahrhundert aus Holland, die Mennoniten, tüchtige Bauern, Kaufleute und Handwerker. Sie siedelten vor allem an der Weichselmündung und in den Städten Altpreußens und nahmen die nieder-deutsche Mundart an, die sie neben dem Hochdeutschen sprachen.
Im Norden drang das Deutschtum allerdings nicht in breiter Bahn vor. Viel-mehr bildeten sich Inseln in Gebieten mit dünner Besiedlung. Langsam dehnten sich die Inseln aber aus und wuchsen zusammen. Die Slawen und Altpreußen wurden sprachlich eingedeutscht. Es entstanden Räume mit neuen nieder-deutschen Mundarten: dem Mecklenburgischen, dem Märkischen und dem Pommerschen. Ihr Gemeinsames Kennzeichen ist die Mehrzahlendung „-en” im Tätigkeitswort: „wi lopen, ji lopen, de lopen” (laufen). Im alten westlichen Niedersachsen hieß es dagegen “wi lopet”. Die Sprache der Hanse war das Nieder-deutsche wie es in Lübeck gesprochen wurde.
Noch im 15. Jahrhundert lief eine Art Sprachgrenze durch das Sternberger Land. Etwa entlang der Linie von Lebus über Drossen bis Zielenzig und nördlich davon sprach man damals zum Teil niederdeutsch. Das Hoch- bzw. Mittel-deutsche drang aber hier nach Norden vor. Ende des vorigen Jahrhunderts bildeten die untere Warthe und die Netze die Sprachgrenze zwischen dem Hoch-deutschen im Süden und dem Nieder-deutschen im Norden. Auch Berlin war bis zum Ausgang des Mittelalters eine niederdeutschsprachige Stadt, die erst zum Hochdeutschen überging, als die oberdeutschen Hohenzollern dort ihren ständigen Wohn- und Regierungssitz nahmen. Die letzte niederdeutsche Berliner Urkunde trägt das Datum 4. Mai 1484.
Am Ende des 19. Jahrhunderts ergaben Umfragen im Sternberger Land, dass dort plattdeutsch (niederdeutsch) weder geschrieben noch gesprochen und auch gar nicht verstanden wurde. Der Bürgermeister von Königswalde berichtete: „Die ländliche Bevölkerung der Umgebung spricht nicht plattdeutsch, viel-mehr ein verstümmeltes und corrumpiertes Hochdeutsch; z. B. nicht ,ich habe gesagt’, sondern ,ick ha gesat’; nicht ,das’, sondern ,det’; nicht ,komm’, sondern ,kumm’; nicht ,kommst du’, sondern ,kimmst du’; nicht ‚laufen’, sondern ,lofen’.” Reste des Niederdeutschen lassen sich hier freilich unschwer in „ick” und „det” wiedererkennen.
Nördlich der Warthe sprach man vor allem auf dem Lande eine Abart des Niederdeutschen, das Neumärkische Platt. In den Städten bürgerte sich verstärkt das Hochdeutsche ein, das mit zunehmernder Bildung auch auf ländliche Gebiete übergriff. Ferner spielte die steigende Mobilität gewiss eine Rolle bei dem Verwischen von Sprachgrenzen.