Ein Dreikäsehoch erinnert sich
Als ich zur Schule musste, regierte noch Kaiser Wilhelm. Er pfiff vielmehr auf dem letzten Loch. In den Munitionsfabriken begannen sie die Arbeit hinzuschmeißen. Nach Kohlrübenwinter und kalten Stuben mochte keiner mehr den Gürtel enger schnallen. Ich musste mit fünf in die Schule. Unsere Mutter bestand drauf, weil ich bis dahin das Tischgebet noch nicht sprechen konnte. Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und so weiter. Ein Spätzünder, sagte man. Ich kam zu Lehrer Zschitschick in die 6. Klasse, allemale 52 Mädels und Jungs.
Weil noch Krieg war, fingen wir nicht mit Lesen oder Schreiben an, sondern mit Nageln. Kriegsanleihe zeichnete keiner mehr, so holte man das Geld groschen-und sechserweise aus den Hosentaschen zusammen. In der Klasse gegenüber dem Konferenzzimmer hingen die runden Nagelbretter. Bemalt wie die Schießscheiben, die Blocks Hermann in der roten Affenjacke wie einen Rucksack durch die Straßen schleppen musste. Pfingsten, beim Umzug der Schützengilde. Die Scheiben in der Schule waren mit Heldensymbolen bepinselt. Der Frontsoldat im Stahlhelm. Der Adler überm Schlachtfeld. Das Eiserne Kreuz, gleich meterhoch. Und überall waren so kleine schwarze Punkte hingesprenkelt. Genau da sollte von uns genagelt werden.
Konrektor Haupt verkaufte die Nägel, mindestens sechs Sorten. Trompetengold (die teuren), silbern, stahlgrau oder bloß blau. Wie unter den Schuhsohlen die Zwecken, die wie Hufeisen Leder sparen sollten. Aber die meisten hatten Holzpantinen. Jeder konnte nageln, für den Endsieg, hurra. Wenn er zu Hause Geld geschnurrt hatte. Nach und nach bekam der Krieger seinen eisernen oder silbrigen Helm gehämmert und der Adler einen Goldschnabel. Je nach Kriegsdauer und ob wir bei Kasse waren. Vielleicht sind die Zigarrenkisten mit Münzen in der Inflation draufgegangen. Das kleckerweise Sammeln kam bald wieder, für NSV und WHW.
Schreiben lernten wir noch mit feinem Anstrich und kräftigem Abstrich. Angefangen beim i aus der Fibel von Ferdinand Hirth aus Breslau. Auf Seite 1 war eine Pumpe abgebildet, zu der wir Plumpe sagten. Ein Kind drückte den Schwengel runter, das nächste verspritzte das Wasser aus der Tülle, das dritte schrie iiii! Und wir hatten den ersten Buchstaben kapiert.
Als wir bis zum Z durch waren, wurde die Krakelei praktisch erprobt. Wir räumten Vaters Papierkorb aus und sammelten die Kuverts. Seine Adresse wurde durchgestrichen und eine andere raufgekritzelt. Meistens die von unseren Freundinnen, mit denen wir rumkalberten. Dann pesten wir mit dem Stapel zur Post, zum Briefkasten unterm Mittelfenster. Der wurde, wenn eine große Zeit durch eine größere abgelöst wurde, immer frisch gestrichen, mal gelb, mal rot, mal blau. Weil keiner an die Klappe reichte, machte einer Bock. Der andere kletterte rauf, hui ab ging die Post!
Nächsten Morgen lagen die Briefe auf dem Tisch. Vater sagte nichts. So bedienten wir uns öfter des öffentlichen Dienstes. Bis mal Taubendreck oder sowas zwischen die Sendungen rutschte. Da kam der dicke Postmeister Eggert rum und machte Radau. Er trug ein Monokel, was in Potsdam kaum die Offiziere noch riskierten. Ein gerühmtes Vorbild wurde er, als seine Frau Drillinge kriegte. Es trug auch zum Ruf der Stadt bei. Mehr als ewig Überschwemmungen und Heuhaufenbrände.
Die Post blieb eine Festung, bei unseren Schlachten und zum Verstecken. Die roten Mauern ließen sich knorke beschmarkeln. Mal mit Zeichnungen, die die Großen pfui Deibel fanden. Wenn Hehlemann mit dem Esel vorfuhr, die Post für‘s Krankenhaus abzuholen, waren wir zur Stelle. Erspähte uns der Graue, zog er die Oberlippe hoch, die gelben Zähne zu zeigen. Sein Schrei ging uns durch und durch. Die Bosheit zu erwidern, pirschten wir uns von hinten an. Ruckzuck war der Hosenschlitz aufgerissen und ihm an die Hinterhaxen gepinkelt. Was soll man machen gegen große Tiere?
Das feuchte Fell war ihm unangenehm, und wir waren quitt. Natürlich blieben wir Freunde. Und er tat uns bitter leid, wenn er vom Lindenberg bis zum Bahnhof den Korbwagen ziehen musste. Hehlemann auf dem Bock und hintendrin die dicken Krankenschwestern. Wie aufgeplusterte Dohlen in Dunkelblau mit weißen Hauben. So schinderten die Erwachsenen das kwade Tier.
Das erste Zeugnis war mau. Ich hatte für Schule keine Zeit. Den 1. Platz eroberte Deta. Schwarze Zöpfe, dunkle Augen, neidlos von allen beliebäugelt. Zu Ostern rückte ich auf Platz 2. Nie wieder verstieg ich mich so hoch. Zu Hause sagten sie, dem ist der Knoten geplatzt. Und neben Deta kam ich nicht zu sitzen. Jungs links, Mädels rechts und ein breiter Gang dazwischen, durch den der Lehrer fuchtelte. Später die Erfahrung, dass mang den Sitzenbleibern die besten Kumpels stecken. In der nächsten Klasse (Platz 7) wollte ich in die Erde versinken. Für immer. Saukälte und Schnee.
Die Schludderbahn auf dem Schulhof reichte vom Dicken Baum bis hinten an Dieckerts Zaun. Pausenaufsicht hatte Lehrer Jablonowsky, zugewandert aus St. Johannes. Ich hatte neue Randpantoffeln von Lebrecht Schmidt. Schuhe waren dagegen Mist. In endloser Schlange sausten wir davon. Nie hatte es sich schöner geschluddert. Da hatte mich „Jabbel“ am Kanthaken. Ob ich sein Verbot nicht gehört hätte? Nee, is wat? Schon schleifte er mich die Schultreppe hoch. Den Rohrstock zog er aus dem Mantelärmel. Mein tiefer Diener, viele hundert Augenpaare, die raufstarrten. Und gleichzeitig drei trockene Hiebe über den Hintern. Einen vierten heimtückisch in die Kniekehle. Gott, an Dresche und Hundebissen steckt ein Bengel allerhand weg. Aber solche Ungerechtigkeit, von dem Arschpauker! Und die Blamage. Als Schuldiener Tillack Sand auf die Rutschbahn streute, hatte ich schon beschlossen, Rache zu nehmen.
Rechnen lernte ich sowieso schon woanders. Bei Eichlers Wilhelm, Grünstraße 3. Der kannte sich aus. In jungen Jahren hatte er zu Pferde Heu nach Berlin gebracht. In die Kuhställe an der Landsberger Allee und zu Bolle. Die Gäule liefen bis Müncheberg. Am zweiten Tag rein in die Stadt und wieder raus. Am dritten Zuckeltrab zurück nach Sonnenburg. Einmal stürzte Wilhem von oben runter aufs Pflaster. Danach zog er die kaputte Hüfte mit der Krücke nach. Seine Wirtschaft hatte unser Vater gepachtet. Er verdiente mit dem Federhalter sein Geld und war schlau genug, im Krieg Landwirtschaft zu betreiben. Seine Rasselbande wollte Milch und außer Sirup mal Butterstullen haben. Mit einer Herdbuch von Fischers aus Havannah gings los. Als ich mit Ausmisten und Futtern dran war, standen schon drei Kühe im Stall. Eine wurde immer trockenstehend gemeldet. Wegen der verdammten Milchablieferung.
Nach dem Abendmelken hockten wir in Wilhems Stube. Da rief er zum Beispiel: zwölfeinhalb! Ich griff mir die Zeitung, suchte beim Viehmarkt von Friedrichsfelde die Rubrik „Kühe, sonstige, vollfleischig wie ausgemästet“ – und das Rechnen begann. Zentnerpreis 47 RM x 12 1/2 =? Und weiter so durch alle Rindvieh-Güteklassen. War auf dem Zeitungsrand noch Platz, kamen die Schafe dran. Oder aus der „Produkten-Börse“ tonnenweise Peluschken und Viktoria-Erbsen. Die Preise veränderten sich täglich. Die in Galopp gekommene Inflation beflügelte die Rechenkunst. Von den kleinen Zahlen bis zu den Billionen.
Warum bloß in die Schule gehen? Die klauten einem den halben Tag. Wilhelm verstand die Menschen und die Tiere. Und ich ihn. Alle Lebewesen waren gleichberechtigt, wenn manche auch andere abmurksen können. Er kannte Sachen, von denen Lehrer keinen Dunst haben. Hühner tasten und ihnen das Klucken abgewöhnen. Im Wassereimer zack fünfmal untertauchen. Bloß hintern Schwanz pusten – und man wusste bei den Karnickeln, ob Zibbe oder Bock. Häckseln: bei Futtermangel lässig Segge zulegen. Und Finger weg von den Messern. Mähen: erst mit der Sichel, Randstücke und Franzosenkraut, dann mit der großen Sense Gras und schließlich den Sommerroggen. Stattdessen die Schulbank drücken und die Bleylehosen abwetzen? Die mussten halten, konnten angestrickt und noch vererbt werden.
Die Arbeit riss nie ab. Man sah, was geschafft wurde. Kartoffelschalen ranschleppen, melken lernen, Runkeln stampfen, die Milch zur Molkerei bringen, Kannen wienern und und und. Da waren die Wiesen versoffen. Nun mussten die Kühe Streue fressen. Die Menschen begnügten sich längst mit Kunsthonig und Saccharin. Aber womit den Stall streuen? Ab in die Hasenheide zum Moosharken, wenn auch verboten. Drei Handwagen pro Woche. Wir werden dem dutzigen Köter das Ziehen beibringen. Abends musste uns Minna einsammeln. Sie stammte aus Fiddichow und wollte immer…. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.