Auf der Suche nach den Wurzeln der Familie Schmidt aus Neudorf (Warthe)
Dieses Neudorf liegt nicht mehr im Kreis Oststernberg, ist aber Nachbarort von Tempel. Wir hatten über die wundersame Rettung der Kirchenglocke von Neudorf berichtet (HB1/2016, S. 21-24: „Von der Odyssee einer Kirchenglocke in die alte Heimat“). Herr Labsch gehörte dabei zu den Hauptakteuren. (Anm. Habermann)
In diesem Sommer fuhr ich gemeinsam mit meinem Vater und einem Onkel nach Neudorf bei Schwerin an der Warthe, wo meine Großeltern Leo und Marie Schmidt herstammen. Gezielt wurde von uns als Reisetermin ein Sonntag ausgewählt, um so einen unkomplizierten Kontakt zum zuständigen Gemeindepfarrer herstellen zu können und um ggf. Einsicht in die Kirchenbücher des Ortes nehmen zu können. Es traf sich gut, dass wir glücklicherweise genau am Patronatsfest der St. Anna, am 12. Juni 2016, in Neudorf waren. Der Pfarrer Lewandowski war erfreut über unseren Besuch und zeigte uns stolz die Kirche, in der schon Urgroßeltern und Großeltern beteten. Ein großes Thema im Ort war die Rückkehr der Kirchenglocke. Wie wir erfuhren, wurde die Glocke im Krieg für Rüstungsproduktion abgehangen. Selbst der Widerstand von Gemeinde und Pfarrer Gruse blieben auf Dauer zwecklos.
Gott sei Dank wurde die Glocke, die im Jahre 1523 gegossen wurde, nicht eingeschmolzen und hatte den Weg zurück in die Heimat gefunden. Durch den Pfarrer erfuhren wir auch, dass ein alter Neudorfer großen Anteil an der Rückkehr der historischen Kirchenglocke hatte. Das hat uns neugierig gemacht, und wir wollten mehr über diesen engagierten Neudorfer erfahren. Auf Nachfrage erhielten wir die Adresse und Telefonnr. von Gerhard Labsch, der heute in Gransee, nicht weit von uns entfernt, lebt. Nach unserer Rückkehr war schnell der Entschluss gereift, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Herr Labsch freute sich über den Anruf eines Enkels von Schmidts und lud mich und meine Onkel spontan zu sich nach Hause ein. Wir sind davon ausgegangen, dass der Besuch nicht länger als eine Stunde dauern würde, da der zu Besuchende schon im hohen Alter von über 85 Jahren ist. Erstaunt waren wir nach der Begrüßung durch ihn über seine Vitalität und die sehr wache Erinnerung an alle Gegebenheiten des Ortes. Über einen gleich von ihm hervorgeholten Laptop führte er uns via Google Maps virtuell durch Neudorf und erklärte uns wer vor dem Krieg links und rechts der Dorfstraße wohnte. Am Geburts- und Wohnhaus meiner Großmutter Agnes Schmidt, geb. am 27. November 1920, machte er einen virtuellen Stopp und erklärte uns, wer damals noch in diesem Haus wohnte. Mit Freude und Erstaunen stellten wir fest, dass er fast alle Familien im Ort den Häusern zuordnen konnte. So kannte er auch die Angehörigen der Familie Schmidt. Mit Hubert, dem Bruder meiner Oma, ging er sogar in eine Klasse und erheiterte uns mit allerlei Anekdoten über ihn. Gezielt fragten wir auch nach dem älteren Bruder Paul Schmidt (geb.
30. Juni 1913), über den wir aus den Erzählungen meiner, am 22. August 1967 früh verstorbenen, Oma leider wenig erfuhren.
Wir wussten nur, dass er im Frankreichfeldzug war und dort wegen angeblichen Hörens von „Feindsender“ vom Kriegsgericht angeklagt wurde.
Durch Übermittlung der Oma hatte Paul sich schützend vor verheiratete Kameraden gestellt und die Schuld des verbotenen Hörens auf sich genommen. Die Konsequenzen daraus hatte er wohl unterschätzt.
Er wurde dann nach dem Prozess in einem der Emslandlager inhaftiert. Meine Oma fuhr von Neudorf über Köln nach Papenburg, um ihn dort 1943 im Lager Aschendorf II zu besuchen. Ein Treffen am Lager kam leider nicht zustande. Heute kann man davon ausgehen, dass auch das mitgebrachte Essenpaket ihn nicht erreicht hat.
Durch aktuelle Erkundigungen meines Onkels beim Niedersächsischen Landesarchiv Staatsarchiv Osnabrück konnte er Nachfolgendes in Erfahrung bringen:
Paul Schmidt war am 24. August 1942 mit einem Transport aus Richtung Münster in die Emslandlager gelangt. In der Transportliste ist er unter den „wehrunwürdigen Strafgefangenen für Strafgefangenenlager II“ aufgeführt. (Signatur Rep. 947 Lin Nr. 164, S. 502)
Als Haftgrund wurde „Diebstahl“ und als Haftzeit 15 Jahre angegeben, anzutreten nach Kriegsende.
Am 27. August 1942 wurde er in das Lager Aschendorf II eingewiesen. In der Transportliste ist er unter dem Kürzel „W.U.Z.“, dass als „wehrunwürdig, Zuchthaus“ aufzulösen sein dürfte, gelangt. (Signatur: Rep 947 Lin I Nr. 134, S. 255)
Ein rotes Kreuz hinter seinem Namen auf der Transportliste könnte zu diesem Zeitpunkt wohl alles Mögliche bedeuten. Die Gefangenenpersonalakte ist dort leider nicht erhalten geblieben.
Laut Auskunft des Standesamtes in Papenburg ist Paul Schmidt am 30. Juni 1944 an seinem Geburtstag im Alter von 31 Jahren in Aschendorf II an „Herz- und Kreislaufschwäche“ verstorben.
Heute befinden sich auf dem Gelände des Lagers eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum.
Dank der Hilfe des Gedenkstättenleiters und den Eintragungen in das Sterberegister des Standesamtes konnte die Lage seiner Grabstätte gefunden werden.
Agnes ist als junges Mädchen von Neudorf aus mit ihrer Tante Helene Wolf und weiteren Verwanden Richtung Westen vor den Russen geflüchtet. Ihre Mutter Marie Schmidt geb. 30. Dezember 1888 ist in Neudorf am 11. April 1940 gestorben und beerdigt. Der Vater Leo, geb. 12. Oktober 1889, wurde von den Russen verschleppt, sein Todesdatum ist uns unbekannt.
Agnes fand in Grünefeld ein neues Zuhause. Den aus der Gefangenschaft entlassenen jüngeren Bruder Hubert fand Agnes über das Deutsche Rote Kreuz wieder und holte ihn auch nach Grünefeld.
Aus der Ehe mit Erich Sonnemann gingen mein Vater und seine beiden Brüder hervor.
Neben Herrn Labsch konnte die Bürgermeisters-Tochter Hewig Wehming geb. Klempke, die heute bei Hamburg lebt, sich auch an meine Oma Agnes erinnern.
Ein Besuch bei ihr ist noch geplant.
Wir sind natürlich weiterhin an Geschichten aus Neudorf interessiert und würden uns über jeden Kontakt freuen.