„Der Besuch der alten Dame“*
Katharina von Bülow, Jahrgang 1938, geboren in Sofia, aufgewachsen in Berlin und in Herzogswalde. Der Großvater war preußischer Gesandter und Duzfreund von Kaiser Wilhelm II., der Vater Diplomat der Weimarer Republik, ein Onkel Bismarcks Patenkind. Nach der Flucht 1945 Kindheit in Meiningen und in der Nähe Potsdams. 1949 weiter nach Westen, Schulbesuch, Ballettausbildung in Düsseldorf. 1960 in die USA ausgewandert. Drei Jahre Tänzerin an der Metropolitan Opera in New York. Seit 1966 in Frankreich lebend und schriftstellerisch tätig, u. a. Arbeit mit Jean-Paul Sartre im Verlagshaus Les Presses d’aujourd hui. Trägerin des Henri-Hertz-Preises der Pariser Sorbonne.
Lagow. Ein schönes Wort. Ich kannte es nicht, wusste nicht, dass es der Name eines Dorfes in der Mark Brandenburg war. Wie aus einem Märchen entwischt, stand es plötzlich da. Aus Paris kommend, war die Umstellung besonders erstaunlich. Wie aus dem Nichts war die Kindheit wieder aufgetaucht. Dieses kleine, verklärte Dorf, mit seinem See, den bewaldeten Ufern, dem abendlichen Himmel, dem Vögelzwitschern, flüsterte mir zu: „Nun komm schon Kathie, hier warst du doch schon mal!“
Ja, hier fühle ich mich fast wie zu Hause. Der alte Schloss-turm wartet auf meinen Besuch, der Wind singt elegant und geheimnisvoll in dieser stillen Landschaft.
Ja, hier bin ich schon einmal gewesen, selbst wenn der Ort meiner Kindheit damals einen anderen Namen trug. Zubrov, zum Beispiel, sprich: Herzogswalde, nur ein paar Kilometer weiter geradeaus. Für einen guten Reiter ein Katzensprung. Für uns „Rückkehrer“ ein siebzig Jahre langer Lebensweg.
Plötzlich spricht mich ein Mitreisender an. „Helmut Munkow“, sagt er schüchtern, „Sind Sie Frau von Bülow?“ Ja, das bin ich. „Ich bin auch ein Herzogswalder“, fährt er fort. Ich habe jahrelang ein schlechtes Gewissen gehabt, weil wir Ihren Cousin Ernst, der immer mit uns spielen wollte, loswerden wollten, denn er wohnte doch bei den Herrschaften!!!“ Was für ein reizender Mensch er sein musste, um siebzig Jahre ein schlechtes Gewissen gehabt zu haben! Die Herrschaften gibt es nicht mehr, wie er, sind sie geflohen als die Russen auftauchten. Ernst ist ein bekannter Wissenschaftler geworden. Er hat in New York, Venedig und London gelebt. Er ist vor etwa einem Jahr verstorben.
Also, da sind wir nun: 25 heimatlose Pfadfinder auf der Suche nach Spuren unserer Kindheit. Wie friedlich die Gegend um uns herum ist. Mutter Erde ist der Geschichte offensichtlich entwischt. Sie steht da, als sei nichts geschehen. Nur die Ortschaften sind zweisprachig geworden. Polnische und deutsche Namen haben sich verehelicht.
Unsere Reise soll sechs Tage dauern. Herr Habermann, ein ausgezeichneter Pfadfinder, hat die Zeit geschickt aufgeteilt. Ein Jeder soll zu seinem Recht kommen, auch die Kunst natürlich. Als erstes können wir das Kloster Neuzelle bewundern. Die Mönche haben immer schon Sinn für Schönheit und angenehme Einsamkeit gehabt. Der Kreuzgang, der den Garten und den Besuchern Schatten mit seinen weiß angestrichenen Arkaden spendet, begrüßt uns mit seiner einfachen Eleganz. Die Kirche, im alten Barockstil erbaut, erfreut uns mit seinen vielen Engeln, der Orgel, den Gemälden, der Holzverkleidung an den Wänden und dem eindrucksvollen Altar. Die katholische Gegenreformation hat wohl beweisen wollen, dass die Strenge evangelischer Kirchen, von dem katholischen überschwenglichen Gottesverständnis überholt werden könne.
Weiter geht die Reise, zunächst nach Spiegelberg. Herr Habermann erwähnt mehrmals den Johanniter Orden; er sei auch in der Mark Brandenburg ansässig gewesen. Mir ist nur in Erinnerung geblieben, dass Wilhelm Karl, Prinz von Preußen, mit dem ich die griechischen Inseln besucht hatte, Ordensmeister (oder Großmeister?) des Ordens gewesen war. Nach dem Essen hören wir Frau Dr. Fouquet zu, die uns von den Zobeltitz-Brüdern erzählt. Ich habe nie von Ihnen gehört, aber meine so gebildete Familie wird sie gelesen haben. Ihr Vortrag hat mich neugierig gemacht. Sie ist charmant und sie ist außerdem eine treue Anhängerin von Heinrich von Kleist, dem ewig unglücklichen Dramatiker. Vor zweihundert Jahren hätte ich ihn in Paris treffen können. Mir ist kalt, ein starker Wind amüsiert sich, uns Wanderer an den so kalten Winter von 1944/1945 zu erinnern.
Ich gehe früh schlafen. Ein wenig einsam fühle ich mich, wie so oft in meinem Leben passe ich nirgendwo wirklich hin. Mein Hotelzimmer ist nicht geheizt. Warum sollte es auch geheizt sein? Laut Datum sind wir Mitte Juni und sobald die Sonne mühsam durch die Wolken einen Weg gebahnt hat, hat man Lust einen Hut zu greifen. Der sehr moderne Fernseher murmelt im Hintergrund. Er verweigert mir jegliches gelangweiltes Zuhören. Sieben Sender gibt es, aber alle treu dem Land ergeben. Leider verstehe ich die polnische Sprache nicht. Ich denke an meinen Sohn, der seinem Sohn vielleicht gerade ein Eis kauft, beim Bäcker, Ecke „Place de la République“ in Paris. An meine Schwester, die jeden Tag in Miami in ihr Schwimmbecken springen kann, an meine verstorbenen Eltern, an meine Hardenberger Verwandten und sage mir, wie klein die Welt doch ist, wenn Kinderaugen aus dem Fenster des heimatlichen Schlosses in Herzogswalde, auf zwei Schwäne fallen, die sich im Teich des Parkes zur Ruhe begeben.
Morgen früh geht es nach Zielenzig. Die Stadt hat sich fein heraus gemacht. Meine Mutter muss hier eingekauft haben! Auch Post hat sie wohl von dort abgeschickt, an den später verschollenen Vater. Einen besonderen Reiz hat die Stadt nicht. Es handelt sich natürlich um eine sehr persönliche Anschauung – manche Kollegen unserer Gruppe denken wohl ganz anders darüber.
Wir werden in einer Schule erwartet. Die Schüler, jung und hübsch, haben zu einer Vorstellung geladen. Sie spielen eine Kurzfassung des Märchens: Schneewittchen und die sieben Zwerge. Sie sprechen ein hervorragendes Deutsch und verdienen unser begeistertes Klatschen. Kaffee und selbst- gebackener Kuchen begleiten die dann folgenden offiziellen Reden. Danach wird Geld gesammelt. Die Schüler bereiten eine Reise nach Berlin vor: für sie eine Reise ins Ausland, für uns alt gewordene Heimatsuchende, ist Berlin die alte (und neue) Hauptstadt unseres Vaterlandes.
Vier Orte erwarten noch unseren Besuch. Meseritz, das Gut Arensdorf, das den Großeltern Frau von Böttinger gehört hat, Herzogswalde und Leichholz. Meseritz überrascht uns mit einem erstaunlichen Museum. Auf dem Katalog, den ich kaufe steht: „Wydanie Okolicznosciowe z okazji 50-Lecia Muzeum.“Wie sich das wohl ausspricht? Vier große Säle eröffnen uns alte „Sargportraits“, eines schöner als das nächste. Baltischer Herkunft, begleiteten sie ein Bestattungs-Ritual, das aus dem 16. Jahrhundert stammt. Als alte Berlinerin würde ich sagen: „Ick bin von den Socken“, so erstaunt und begeistert bin ich. Diese oft sechseckigen, meist auf Blech gemalten Portraits sind einfach eine Wucht. Ich möchte mich mit einem Kniefall bei jenen bedanken, die eine solche Ausstellung möglich gemacht haben.
Über Arensdorf gäbe es eine Menge zu berichten. Das alte Gutshaus ist beeindruckend und „moderner“ als die meisten Besitze dieser Gegend. Das Grundstück muss riesig gewesen sein und die uralten Bäume stehen noch immer schattenspendend vor und hinter dem „Schloss“. Frau von Böttinger erzählt uns, dass die weit verzweigte Familie liebend gerne zu einem Ferienaufenthalt auftauchte. Sie sucht nach dem Grab ihres Großvaters. Den Besitz hat ein polnischer Unternehmer gekauft. Ob er die vielen Erinnerungen mitgekauft hat, bleibt ein Geheimnis.
Auch in Herzogswalde und Leichholz stolpere ich bei jedem Schritt über vergangene Erlebnisse. Herr Munkow und ich (eine alte Dame in Jeans, Regenmantel und Tennisschuhen), schlendern durch das Dorf. Das Schloss hat sein Hochzeitskleid abgelegt und trägt Witwenkleidung. Undurchdringliches Gras und Gestrüpp lässt den geliebten Teich nur erahnen. Herr Munkow kennt jeden Bewohner des damaligen Dorfes namentlich. Wir haben die gleiche Schulbank gedrückt, er elfjährig, ich siebenjährig, unsere Lebenswege haben sich nach dem verlorenen Krieg erst bei dieser Reise wieder gekreuzt. Ich mag ihn, er scheint ein besonders netter Mensch zu sein. Nach unseren Geburtsjahren zu urteilen, werden wir uns kaum wiedersehen. Herzogswalde gehört heute zu Polen und wir müssen uns in Zukunft unsere Gräber halt da suchen, wo wir gerade sind.
Am Abend dieses letzten Tages, trotz Trauer in unseren Kin- derherzen, wird gefeiert. Die Bierflaschen stehen bereit. Ein vierköpfiges, polnisches Orchester spielt zum Tanz auf. Ihre Trachtenkleider und ihre Instrumente verraten Spuren des Habsburger Kaiserreichs. Die mutigen Polen haben lange für ihre Einheit kämpfen müssen. Ihre größenwahnsinnigen Nachbarn haben all zu lange in ihren Gärten gespielt. Jetzt wächst hier ihr eigenes Korn. Prost, liebe Nachbarn, und herzlichen Dank für Eure Gastfreundschaft.
Gegen Ende des Abends erklingen plötzlich erst zwei, dann zehn, dann 22 Stimmen und werden zum Chor. Schöne, alte, deutsche Lieder erfüllen den Raum. Jedes Mitglied unserer Runde scheint sie auswendig zu kennen. Es gibt ein Buch von Goethe: „Dichtung und Wahrheit“, seine Autobiographie. Sollte man nicht unserer Reise diesen Titel zusprechen?
Ein grauer Himmel begrüßt uns am Tag unserer Rückreise. Melancholie, das ist ein schönes Wort. Es erinnert mich an die deutschen Romantiker. Ich habe sie gern gelesen. Die brandenburgischen Wälder und Seen lassen mich an Fontane denken.
„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“ Ein zeitloses Gedicht. Ich grüße Sie, lieber Geheimrat, Sie und ihren Freund und Gönner, Herzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, mit einem bewunderungsvollen Handkuss. Der geliebte Heine ist in Paris verstorben.
Zurück in Berlin, nach acht Tagen Heimatkunde, habe ich mir noch die schöne, alte Gemäldegalerie angesehen, die sich heute im Kulturforum befindet. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, so hieß es früher. Ich würde dazusetzen: und der Komponisten, deren Notenklänge, über die Grenzen hinweg, die Menschen gemeinsam klatschen ließen. Musik anstelle des Lebensraums. Warum musste es so plötzlich zu einem Friedhof werden für Millionen Menschen, die es geliebt und verehrt hatten?
Es wird oft darauf hingewiesen, dass unser Schicksal in Gottes Händen liegt. Nur die Verantwortung dafür tragen wir.
PS: Herr Habermann hat mir einen kurzen Aufenthalt in Leichholz ermöglicht. Er weiß, warum dieser Ort eine wichtige Etappe auf unserer Flucht war. Es sei ihm gedankt.
* Keine Tragikomödie, wie bei Dürrenmatt.