Begegnung im Winterwald
Es war am Heiligabend. „Um fünf Uhr müssen wir wieder zu Hause sein“, sagte Revierförster Ehnert zu seinem Sohn.
,,Klarer Fall“, dachte Jürgen. Die Mutter hatte es ihnen eingetrichtert, denn sie wusste, dass sich ,,ihre beiden Männer“ nie an eine bestimmte Zeit halten konnten, wenn sie erst einmal im Revier waren. Gerade jetzt, im tiefverschneiten Wald, gab es eine Menge zu beobachten.
Plötzlich spürte Jürgen die Hand seines Vaters am Kragen. Mit einem Ruck wurde er zum Halten gezwungen.
Erstaunt und erschrocken drehte er sich um.
,,Pst!“, zischte im gleichen Augenblick sein Vater und legte warnend einen Finger auf die Lippen. ,,Hock dich hin und sei ganz still!“
Was war nun los? Hatte der Vater irgendein seltenes Stück Wild an der Futterstelle entdeckt und wollte es jetzt nicht vergrämen? Oder… Jürgen stockte das Herz, denn ihm waren die Erzählungen vom Wilderer, der gelegentlich in dieser Gegend auftauchte und bisher nie gefasst worden war, eingefallen. Vorsichtig beugte sein Vater sich jetzt zu ihm hinüber. Auch er hockte im Schnee, halb von einem Kiefernstamm verdeckt.
,,Siehst du den Kerl hinter dem Futterhäuschen? Möchte zu gern wissen, was der da zu suchen hat.“ Des Vaters Worte waren ganz leise in die eisige Kälte gehaucht.
Das Zittern, das Jürgen jetzt in den Knien und Handgelenken fühlte, stammte nicht vom Frost. Angestrengt schaute er zum Futterplatz und entdeckte nach kurzem Suchen eine menschliche Gestalt, die sich gerade einen dunklen Gegenstand über den Rücken warf. Da es bereits dämmerte und bei dem wolkenverhangenen Himmel hier im Kiefernwald ohnehin schlechtes Licht herrschte, konnte Jürgen keine Einzelheit erkennen.
,,Verdammt! Jetzt haut er ab.“ Revierförster Ehnert kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. „Ich muss unbedingt wissen, was mit dem Burschen los ist. Sieht fast so aus, als ob er sich mit einem Reh auf dem Rücken verziehen will. Das wäre bestimmt keine Heldentat, ein Reh am Futterplatz abzuschießen.“
Bei diesen Worten sah Jürgen, wie sich die Gestalt langsam auf eine kleine Schonung zu entfernte.
,,Los, den müssen wir stellen“, flüsterte der Vater.
Der Vater meinte: „Die Schonung, in der der Mann gleich verschwindet, ist nicht lang, aber ziemlich breit. Jeder von uns muss sich am anderen Ende an einer Ecke aufstellen und aufpassen, auf welcher Seite der Kerl herauskommt. Wenn er bei dir erscheint, ahmst du den Käuzchenruf nach. Das kannst du ausgezeichnet, dass kein Mensch etwas merkt. Ich werde dann sofort kommen. Du darfst dich nur nicht sehen lassen, denn wenn es wirklich ein Wilderer ist, was anzunehmen ist, dann ist mit solchen Halunken nicht zu spaßen, so, und jetzt wird es höchste Eisenbahn, dass wir um die Schonung herumkommen, sonst ist der Mann eher da als wir.
Knapp zehn Minuten später stand Jürgen dicht hinter einer dicken Kiefer und harrte der kommenden Dinge. Sein Herz schlug so laut, und sein Atem ging so heftig, daß er glaubte, man müsse es auf fünfzig Meter hören.
Wie eine Ewigkeit kam ihm das Warten vor, dann hörte er plötzlich das Knirschen von Schnee zu seiner Rechten. Vorsichtig schaute er hinter seinem Versteck hervor und erblickte nur wenige Schritte vor sich einen alten Mann, der gebeugt und mit einem Sack auf dem Rücken am Schonungsrand entlangstapfte. Jürgen ließ ihn passieren und sandte dann das verabredete Zeichen in den schummrigen Wald.
Ganz geheuer war ihm dabei nicht, und er atmete erst wieder auf, als sein Vater keuchend neben ihm stand. Der verdächtige Alte war noch nicht weit gekommen, und bald hatten sie ihn eingeholt. Er schien ohne jeden Argwohn zu sein. Als sie dicht genug heran waren, schob der Förster seinen Sohn hinter einen Baum und rief den Mann an: ,,Halt! Bleiben Sie stehen! Lassen Sie den Sack fallen! Hände hoch!“
Mit einem Ruck blieb die Gestalt vor ihnen stehen. Langsam rutschte der Sack, der vielleicht die Beute enthielt, zu Boden, und zögernd streckten sich zwei Arme in die Luft. Dann wandte sich den beiden ein verstörtes und erschrockenes Gesicht zu.
„Was haben Sie in dem Sack, und was suchen Sie jetzt im Revier?“ fragte der Revierförster mit strenger Stimme.
Der alte Mann schien völlig verwirrt zu sein, denn kein Wort war von ihm zu hören. Als Jürgens Vater gegen den verdächtigen Sack trat, war nur ein Rascheln zu vernehmen, und einige Heuhalme fielen in den Schnee.
,,Nehmen Sie die Hände herunter und erzählen Sie“, sagte der Förster jetzt viel freundlicher und ganz ruhig. Er hatte erkannt, dass der Mann nicht gefährlich war.
,,Wissen Sie, Herr Förster, sie müssen es mir nicht übelnehmen, wenn ich durch Ihr Revier gestreift bin. Aber ich habe niemanden, dem ich Weihnachten eine Freude bereiten kann, und ich habe auch keinen, mit dem ich Weihnachten zusammen bin. Und da habe ich mir bei einem Bauern etwas Heu gekauft und wollte wenigstens den Tieren im Walde etwas schenken und ihre Hungersnot lindern . . .“20