Aus den Tagebüchern meines Onkels Dr. Otto Reichert
19. Juli 1938
Die Tage werden merklich kürzer. Das spürten wir, als wir gestern, am Montagabend, von Gleißen kommend, in Waldowstrenk aus dem Zug stiegen und nach der Schneidemühle wanderten. Es war 9 Uhr, als wir hier anlangten und schon ganz finster. Wir hatten einen Ausflug gemacht, der allen Beteiligten gefallen hat und auch gefallen konnte. Ich hatte schon am letzten Sonnabend einen Teil der Gegend aufgesucht. Ich erinnerte mich, dass ich vor vielen Jahren – ich glaube, ich war damals Primaner in Meseritz – eine Buchenschlucht in der Nähe des Ankensees durchwandert hatte. Diese wollte ich wiedersehen. Es gelang mir, sie aufzufinden; sie liegt bei der Försterei Helminenwalde. Die Schlucht war genauso unberührt, wie ich sie in meiner Erinnerung hatte. Es war eine Freude, sie zu durchwandern. Sie ist mit alten, zum Teil sehr gerade gewachsenen hohen Buchen bestanden. Ein rascher Bach durcheilt ihre Tiefe, die ich auf 30 m und mehr schätze. Diese Schlucht veranlasste mich, mit meiner Frau einen Ausflug dorthin zu machen. Das geschah gestern. Familie Barsch schloss sich an, bis auf Karl Georg und Marianne, sie fuhren bis Bahnhof Gleißen mit dem Rade. Vor dem Besuch der Schlucht stiegen wir hinauf zur Wendenschanze, einem alten Erdbefestigungswerk, das aus einer von einem tiefen Graben umgebenen Erdumwallung auf hohem Hügel besteht. Sie ist ebenso, wie wir sie in Schlesien vielfach haben. Alle waren sehr interessiert. Dann ging es in die Schlucht durch das Fischereigehöft. Ausrufe des Entzückens hörte man viel. Von der bereits genannten Försterei ging es den Weg Richtung Zielenzig bis hinter die Bahn Königswalde. Bald dahinter stießen wir auf eine Wegekreuzung mit Wegweisern. Man merkte, dass man sich dem Zielenziger Stadtwald nahte. Wir gingen zum Roten Fließ. Der Weg wurde promenadenartig. Auch hier eine Schlucht. Doch breiter und kürzer als die Buchenschlucht, aber ebenso hoch und lieblicher. Zielenzig kann sich damit sehen lassen. Im Waldrestaurant nahmen wir den Kaffee ein und pilgerten dann weiter nach dem Bürgersee, wo die Kinder aus der Kalkmühle badeten, während ich, allerdings in einem schlecht zu rudernden Boot, mit dem Kinde auf eine halbe Stunde auf dem See fuhr. Dann ging es in langsamem Tempo nach dem Bahnhof Gleißen zurück. Unterwegs wurden noch viele Erdbeeren gesucht und gepflückt. Die Partie wird allen in bester Erinnerung bleiben.
23. Juli 1938
Gerda ist am letzten Dienstag von ihrer Reise hierher gekommen. Nun haben wir Beratung gehalten und sind übereingekommen, das angebotene Grundstück in Strausberg zu kaufen. Das Leben erfährt dadurch eine ganz scharfe Wendung. Hoffentlich wird die Änderung zum Besten ausschlagen. Am Montag fahren wir alle nach dem neuen Wohnort und kehren von dort zurück nach Liegnitz.
Noch am Mittwoch mittags fuhr ich mit Georg Barsch nach der Grenze. Die Partie war schon lange geplant. Hanna Barsch hatte mich gebeten, ihren Sohn mitzunehmen. In rascher Fahrt passierten wir die einsame Chaussee nach Schwerin und kamen schon nach etwa zwei Stunden an der Grenze bei Wierzebaum an. Dem Neffen war der Anblick einer Grenze zwischen zwei Staaten neu. So hatte ich den Reiseplan so entworfen, dass wir mehrere Male die Grenze berührten. Das geschah dann noch in Betsche, in Tirschtiegel und hinter Naßlettel. Von hier ging es über die soeben eingeweihte Sachsensiedlung bis Neu Deutschen und dann über Kranz nach Schwiebus. Wir hatten starken Gegenwind, sodass wir beide etwas mitgenommen gegen 1 Uhr in Schwiebus anlangten. Ich hatte dem Vater von Georg Barsch zugesagt, seinem Sohn den Ort Paradies zu zeigen, wo er möglicherweise noch zur Schule gehen sollte. Nach Besichtigung der Klosterkirche wurden wir durch Regen zwei Stunden im Jordaner Gasthause aufgehalten. Als der Regen aufgehört hatte, machten wir uns auf den Weg nach Lagow. Unser Weg führte über die Höhen bei Kalau und Hochwalde, Schönow, ziemlich anstrengend. Doch war er sehr interessant, weil er durch ein stark ausgebautes Befestigungsgebiet führte. Kurz nach Lagow stürzte ich mit dem Rade, indem ich mit dem rechten Pedal zu nahe an eine Böschung herangeriet. Doch verlief der Sturz glücklicher Weise sehr glimpflich. Wir hatten uns von Jordan aus telefonisch im Schwarzen Adler angemeldet und wurden erwartet. Das Quartier war gut. Wir hatten an diesem zweiten Tage hundert Kilometer zurückgelegt und waren daher ziemlich müde, als wir uns nach dem Abendbrot und einem Spaziergang durch die kleine Stadt zu Bett legten. Ich schlief ganz gut im Gegensatz zur ersten Nacht in Betsche, wo ich gar nicht geschlafen habe. Gegen Morgen weckte mich strömender Regen, der auf die Dächer trommelte. So kam es, dass wir erst nach 10 Uhr, als es anfing besser zu werden, auf die Schwedenschanze stiegen und den Schlossturm und Rittersaal besichtigten. Es war ja nicht das erste Mal, dass ich auf dem Turm stand. Ich erinnere mich an mindestens zwei Turmbesteigungen in frühester Jugendzeit und während meiner Studentenzeit. Schon damals hatte ich gewünscht, auch den südlichen See, den Lagower See bis zu seinem südlichen Ende zu besichtigen und kennenzulernen. Doch war mir bisher dies niemals vergönnt gewesen. Jetzt wollte ich um den See herumradeln. Doch auch daraus wurde nichts, weil ich mein Rad zur Reparaturwerkstatt geben musste. Die Luft war aus dem Schlauch des hinteren Rades entwichen. Doch als der Schaden behoben war, stellte sich heraus, dass die Kette schleifte, und als dies abgestellt war, dass der hintere Radmantel sich an der Gabel scheuerte. Wiederum ging es zur Reparaturwerkstatt. Es setzte sich jetzt der Meister selbst ein, eine neue Achse zog er ein, und endlich konnten wir fahren. Aber es war jetzt so spät geworden, dass wir die Partie um den Lagowsee nicht mehr unternehmen konnten. Es ging heimwärts am Ufer des Tscheschsees entlang auf beschwerlichem Pfade, den ich zu Rad wohl nicht mehr zurückzulegen gedenke. Über die Buchenmühle ging es nach den Bechenseen, wo man militärisch einen beide Bechenseen verbindenden Kanal gebaut hat, der durch eine Schleuse von dem tiefer liegenden Gelände abgetrennt hatte. Über die Berge bei Grochow und Gleißen ging es weiter. Wir kamen fast ohne einsetzenden Regen heim. Nur mich packte der Regen noch kurz vor der Schneidemühle. Die schönste Partie war unbestritten der Buchenwald bei den Bechenseen.
Sollte ich noch einmal in diese Gegend kommen, schenke ich mir den Besuch von Lagow und durchstreife dafür das Waldgelande bei den beiden Seen.