Költschen unterm Hakenkreuz (Teil 2)
Unsere letzten Jahre in Költschen bis zur Flucht im Juni 1945
(Volksschule – Sondersiegesmeldungen im Radio – Altstoffe fürs WHW – Flüchtlinge – Kirche)
von Arno Deffke (77), 01609 Gröditz
Fortsetzung aus HB 3/2013
Volkssturm
Das letzte gefährliche und schwere Ereignis, bevor wir flüchteten, war für mich und unsere ganze Familie, besonders für meine Mutter, die Einberufung unseres Vaters zum Volkssturm.
Unser treusorgender „Führer“ hatte wohl ein sehr schlechtes Gewissen anlässlich der äußerst prekären, aussichtslosen Lage seiner Wehrmacht Anfang 1945, dass er den „Endsieg“ jetzt nicht mehr mit regulären, kampfstarken Soldaten, sondern einfach nur so mit dem (übrigen) Volk erreichen wollte, mit Frau und Kind, aber erstmal mit jüngeren und älteren Männern (von 15 bis 60 Jahren/mein Vater war 54 Jahre alt) die noch nicht im Militär waren, zu versuchen. „Der letzte Schrei!“, kann man sagen. Und so einem ‚Menschen‘ ist quasi eine Weile ein fast ganzes Volk nachgelaufen!!! Natürlich war das mit dem Volkssturm sinnlos und auch mein Vater nahm die Beine in die Hand, als er die Russen am Oder-Warthe-Bogen sah. Sie schossen erst noch hinterher, aber trafen nicht. Aber die Kampiererei in den nassen Wäldern Tag und Nacht schadete seiner Gesundheit doch, woran er später wohl auch starb.
Wir waren glücklich und froh, als er am 4.2.45 früh 7 Uhr ganz leise und zaghaft an unser Wohnzimmerfenster klopfte, in der Hoffnung, dass wir da wären (und nicht Russen) und noch am Leben sind. (Am 21.1.45 wurde er eingezogen). – Außerdem ist es zurzeit nichts Besonderes, vom NS zu reden, wo vor den Bundestagswahlen im September 2013 von Neonazis (NPD) die Rede ist.
Zusammenfassung
Alle diese Erlebnisse bereiteten uns die letzten Jahre vor der Flucht Angst und Schrecken.
Aber es gab ja noch viel mehr in dieser Zeit von dem wir gar nichts wussten, wie z.B. die Judenvernichtung.
Selbst die ersten Anfänge blieben uns verborgen bis hin zur Vergasung in den Konzentrationslagern im In- und Ausland. Alles geheim!
In einer Ausstellung der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung in der Kirche zu Lichtensee bei Gröditz wird dieser Tage auf großen Schautafeln gezeigt:
„Das, was man Leben nannte.“ Alltag im Frauen-KZ Ravensbrück 1939–1945.
Zitat aus der Ausstellung: „Die ersten SS-Aufseherinnen waren vorher Ausbilderinnen im weiblichen Arbeitsdienst. Sie waren fanatische Nazi-Anhänger, die skrupellos den Befehlen des „Führers“ gehorchten.“ (siehe auch oben unter RAD und Maidenlager S. 2).
Ein weiteres brisantes Bauwerk des NS war: der Oder-Warthe-Bogen, auch. „Ostwall“ genannt.
Er ist ein tief unter der Erde ausgebauter Verteidigungswall, weit verzweigt und kilometerlang. Nachdem ich im OHB vor einigen Jahren davon las, besuchte ich das Bauwerk, zusammen mit meinem Bruder Reinhard. Aber Anfang der 40er-Jahre erfuhren wir in Költschen nichts von dem Bollwerk. Rückwirkend davon kann man nur staunen, was damals ganz in unserer Nähe für furchterregende Dinge geschaffen wurden, die dann im entscheidenden Moment nutzlos waren. Die Russen umgingen den Wall einfach.
Diese beiden Beispiele mögen genügen. Sicher gäbe es noch Weiteres zu erzählen.
Am Anfang des Hauptteils meiner Ausführungen sprach ich von der Schule, nun kommt die Kirche dran.
Weil dieser Teil viele interessante Einzelheiten enthält, ist er auch etwas umfangreicher.
Die Frage ist, wie erging es der Kirche und Gemeinde im Nationalsozialismus, unterm Hakenkreuz, in und um Költschen herum?
In Költschen gibt es ein wunderschönes, hübsches kleines Dorfkirchlein, ganz aus Fachwerk.
Die Glocken befinden sich in einem dicken Holzturm, etwas abseits der Kirche.
Beides ist auch heute noch da. Doch nun verwalten alles die Katholiken. Auf einer Ansichtskarte ist es zu sehen, nur etwas abgewandelt und mit einem Anbau versehen. Wir kennen das ja noch von der 450-Jahrfeier her. So wie die Gemeinde jetzt, hatten wir auch damals einen Pfarrer.
Er war bei der kirchlichen Hochzeit meiner Eltern dabei. In der Költschner Kirche sind wir auch alle getauft worden. Weiter abseits von der Kirche gibt es noch den alten Friedhof.
Vor einigen Jahren standen wir ergriffen vor dem Grabstein einer unserer Vorfahren, der im hohen Unkraut kaum zu sehen war. Und nun zum politischen Umfeld.
Es gab zwischen 1942 und 1945 keine Probleme mit dem Staat und der Partei, soweit es mir in Erinnerung ist. Ich war ja gerademal 6–8 Jahre alt und da hat man andere Dinge im Kopf.
Was aber nicht nur ich, sondern viele Einwohner in Költschen und Umgebung wie aus Streitwalde, Dammbusch, Gerlachsthal, Albrechtsbruch, Neuwalde, Rauden, Neu Dresden usw. nie vergessen werden, ist die Arbeit der Brüdergemeinde im Warthebruch.
Diese besondere Art von Gemeinschaftspflege der „Herrnhuter“ gab es bereits seit dem 18. Jht. im Warthe- und Netzebruch. Das bezeugen alte Diarien und Jahresberichtsbücher über Hausbesuche der Predigerbrüder. Es ist interessant, darin zu lesen, wo nicht nur von Hausbibelstunden und von Jugend-, Kinder-, Frauen- und Männertreffen die Rede ist, sondern auch von Naturkatastrophen, wie dem Warthehochwasser usw.
Die sogenannten „Diasporaarbeiter,“ das sind die von Herrnhut/OL angestellten Geistlichen, die Leiter der kirchlichen Arbeit im Warthebruch, also die „Pfarrer,“ entwickelten in der wald- und wasserreichen Gegend von Warthe, Oder und Netze mit ihrer Jugend-, Prediger-, Besuchs- und Seelsorgearbeit ein aktives, lebendiges Gemeindeleben in dieser Region.
Der Nationalsozialismus stieß sozusagen damals auf Granit bei den bekenntnistreuen Christen. Sie galten als Menschen, die nicht der „Partei“ angehörten. Es waren keine PG.
Auch meine Eltern gehörten dazu. Sie waren im Brüderischen Jugendbund (BG) .
Es gibt ein broschiertes Buch, dessen Titel lautet: „Dank an die Diaspora.“ Verfasser: P. W. Schaberg./1986, woraus ich einige Sätze zitiere, die mir wichtig erscheinen im Zusammenhang mit meinem Bericht Költschen unterm Hakenkreuz in der Zeit von 1942 bis 1945.
„Dem Staat war es ein Dorn im Auge, dass im Warthebruch unter dem BJ (Jugendbund) im Jahre 1942 so viel christliche Jugend im neueerbauten Saal von Friedeberg beieinander war.
Das war die Frucht der Jugendbibelwochen, dass Entscheidungen für Jesus fielen.“ (a.a.O.Schaberg,S.31).
„Vom 18.–21. Mai 1939 wurde in Streitwalde eine Jungmädchenfreizeit anberaumt. Ab 1940 mussten Briketts zur Jugendbibelwoche mitgebracht werden, erst eins pro Tag pro Person, im nächsten Jahr 20 für die Tagung, dazu Lebensmittel oder entsprechende Lebensmittelmarken.“ ( a.a.O.S.31)
„Es war eine unruhige und, wie mündlich umlaufende antichristliche Parolen und bald einzelne Taten zeigten, eine gefährliche Zeit für aufrichtige Christen.“ (a. a. O. S.33)
„Die Driesener Gruppen gingen 1936 zum Jahresfest an den Lubow See. Dort wurden sie auf typisch nazistische Weise durch einen Bannführer der Hitlerjugend belästigt. Dieser meldete auf der Polizeiwache in Drossen: „Eine verbotene Jugendorganisation führt am kleinen Lubow See Geländeübungen durch.“ „Wie ich hinterher hörte, hat der Bannführer den drei Beamten, die unsere Gruppe auflösten, ihm aber bedeutet, dass die Sache harmlos sei, gesagt: „Das weiß ich wohl, aber uns wird die Jugend dadurch entzogen.“ (a.a.O. S.35)
1943 wollte er (H. Meyer; d. Verf.) „Jung und Alt auf die kommenden schweren Zeiten vorbereiten, über die die Parteiorganisationen in den Brüchen die Einwohner bis zuletzt hinwegzutäuschen versuchten.“ (a.a.O. S.36)
„Auch 1944, als das grauenvolle Ende des Krieges immer näher kam, versuchte er (H. Meyer d. Verf.) noch einmal eine Bibelwoche …für die verbliebene Jugend… schrieb er an G. Reichel am 23.2.44.“ (a.a.O. S. 36). „In diese blühende Arbeit brach jäh der Sturm aus dem Osten, Ende Januar 1945.“ (a.a.O.S.36).
„1941 war ein besonderes merkwürdiges Führen das Geschehen während der Mütterfreizeit, die plötzliche Aufhebung der Tagung durch den Kreisleiter, der Eingriff der Gestapo mit dem Verbot aller Versammlungen im Driesener Bezirk.“ (a.a.O. S. 42)
„Man konnte (im Jahre 1944) in der Öffentlichkeit seine Meinung über das untergehende Nazi-Reich nur versteckt sagen, aber doch deutlich für alle, die hören konnten.
Es war das letzte Jahr, in dem Neudresden als Brüdergemeinde bestand. (a.a.O. S. 43)
„Am 2. Februar 1945, einem Freitag, hatten wir nachmittags gerade die Feier des Heiligen Abendmahls beendet, als die ersten russischen Truppen in unsern Ort Neudresden einzogen… Jedes Gehöft wurde von 40-50 Mann überflutet. Mit jedem folgenden Tag wurde es notvoller… Die Frauenwelt, ob jung oder alt, war völlig der Willkür preisgegeben.“ (a.a.O. S. 43) „Bei Nichteinwilligung wurde nicht nur mit Erschießen gedroht, sondern solches auch öfters ausgeführt… So wurde der Pfleger (Pfarrer, d. Verf.) des Drieseners Bezirks, W. Hartmann, getötet, als er Frauen schützen wollte. (a.a.O. S. 44)
Das mag genügen an eigenen Erlebnissen, wie den von Freunden und Bekannten der Heimat über das, was in den Jahren vor 1945 in und um Költschen unter dem Hakenkreuz geschah.
Möge es auch eine Mahnung sein an alle, die sich bereits heute wieder über Gott und sein Reich erheben.
Nachsatz
Aus dem Oststernberger Heimatbrief und seiner Geburtstagsliste weiß ich, dass es noch manchen Heimatfreund aus dem Warthebruch gibt, der auch die Zeitschrift hat und gerne liest.
Er wird in diesem Bericht sicher Bekanntes wiederfinden. Es leben auch noch Nachkommen, Kinder, der genannten Personen, wie zum Beispiel aus Neudresden, Frau Mechthild Zippel in Königsfeld, die Tochter von Heinrich Meyer. Sie und die anderen noch lebenden Geschwister, die alle diesen Heimatbrief lesen, seien besonders gegrüßt in alter Verbundenheit.
Gröditz, d. 11.9.2013