Der Einmarsch und Aufenthalt der Roten Armee in Herzogswalde
Dr. Helmut Munkow, Eichwalde
Vortrag, gehalten am 25. April 2014 im Johanniterhaus, Zielenzig
„Mein Vater musste heute ganz früh weg zu den Soldaten, weil Krieg ist”, sagte mir mein Schulkamerad Burghard Ritter am 1. September 1939 vor Schulbeginn in der einklassigen Volksschule Herzogswalde. Am 27. Juni 1941 forderte der Krieg sein erstes Herzogswalder Opfer. Der junge Landarbeiter und Vater von drei Kindern, Herbert Deutschmann, fiel im Russland.
Im August 1944 kamen an einem späten Nachmittag drei deutsche Soldaten vom Truppenübungsplatz Wandern zu uns in die Gastwirtschaft. Sie unterhielten sich mit meiner Mutter über den Krieg in Russland. Ich war neugierig und durfte in die Gaststube und zuhören. Ein Unteroffizier sagte uns: „Wenn die Russen hierher kämen und das heimzahlen, was wir dort gemacht haben, dann geht es Euch schlecht. Erstmals lag ich sehr lange im Bett und konnte nicht einschlafen, weil ich über den Krieg und diese Aussage – „Wenn die das heimzahlen?” – nachdachte.
Der „Totale Krieg” wirkte 1944 auch im Osten Deutschlands. Ab Mitte August erfolgte der Bau des „Ostwalls.” Erste Flüchtlinge aus Ostpreußen zogen gen Westen. Im September wurden ca. 40 Warschauer Frauen, Kinder und alte Männer in unseren Saal eingewiesen. Um den 16. Januar besetzten Volkssturmmänner die Bunker des Oder-Warthe-Bogens. Doch am 30. Januar wurden sie nach Hause geschickt. Ab 22. Januar wurden die Schulen geschlossen, „Kohlenferien” hieß es.
Januar hörten wir ein schwaches Grummeln von der Front. Am „Ostwall” und an der Bunkerlinie Oder-Warthe-Bogen werden die Russen zum Stehen kommen, glaubten noch viele.
Januar, einem grauen Tag mit minus 12°C und 30 cm Schnee, herrschte eine ängstliche Stille, aber das Schießen der Artillerie war deutlicher. Es gab keine offiziellen Mitteilungen an die Bevölkerung. Einzelne Bauern bereiteten sich heimlich auf die Flucht vor. Aber die aus Berlin evakuierten Frauen mit ihren Kindern versuchten alles, um über die Oder zu kommen.
Gegen 14 Uhr gingen drei deutsche Soldaten in weißen Tarnanzügen und mit Maschinenpistolen bewaffnet in Richtung Westen durch das Dorf. Um 19 Uhr wurde dem Bürgermeister über die Poststelle Herzogswalde, die meine Eltern verwalteten, von einer Dienststelle in Zielenzig telefonisch befohlen, mit allen Einwohnern sofort aus Herzogswalde zu flüchten. Ich meldete das sofort dem Bürgermeister Carl Mechelke. Er verweigerte diesen Befehl und informierte niemanden. Es war für uns die bessere Lösung! Es war jetzt klar, die Russen kommen! Nun fiel uns das Führerbild in der vorderen Gaststube ein. Mein Bruder Eckhard und ich beseitigten es, aber die Angst, die uns der helle Fleck auf der Tapete bereitete, blieb.
Wir fünf Jungen gingen später schlafen als sonst und zogen uns auch nicht so wie üblich aus. Mutti blieb noch auf. Bei ihr schliefen die beiden Jüngsten, Klaus und Hans-Dieter. Völlig kampflos marschierte die Rote Armee von Gleißen kommend gegen 23 Uhr in Herogswalde ein. Es war eine motorisierte Einheit mit Panzerabwehrkanonen.
Nach 23 Uhr wurden wir von russischen Soldaten wach gemacht. Sie durchsuchten das Haus und unser Zimmer, die Oberstube, befühlten die Bettdecken und Kopfkissen ohne uns weh zu tun und fanden dabei meine vierfarbige Signaltaschenlampe, die nun den Besitzer wechselte. Sie ließen uns dann weiterschlafen. Wenn uns weitere Rotarmisten bemerkten, versuchten sie immer, uns möglichst nicht zu stören.
Nachdem die Soldaten unser Haus durchsucht hatten, konzentrierten sie sich auf ihre Versorgung. Sie schlachteten noch in der Nacht unsere Hühner und kochten sie, bedienten sich mit unserem Geschlachteten und speisten so sehr gut. Sie versorgten sich auch mit warmen Strümpfen und allem, was sie gebrauchen konnten. Natürlich nahmen sie uns auch die Uhren und Mutti den Ehering ab. Papas Laute mit den Freundschaftsbändern junger Mädchen blieb auch nicht im Wohnzimmer hängen.
Als wir am 1. Februar aufgestanden und von der Oberstube nach unten gekommen waren, sahen wir die beiden Gaststuben, die Telefon- und Poststube und die Wohnung in einem chaotischen Zustand. Alles war durchwühlt, Vieles auf den Boden geworfen. Wie unsere Gastwirtschaft waren auch viele Bauernhäuser voller russischer Soldaten. Jeden Pferdestall hatten sie überprüft und die geeigneten Pferde zur Neu- und Zusatzbespannung ihrer Fahrzeuge und Geschütze verwendet.
Am späten Vormittag marschierte auch der noch zurückgebliebene Teil der motorisierten Kampfeinheit ab. Darunter war ein von der Waffen-SS erbeuteter LKW, der auf unserem Hof abgestellt wurde. Auf seiner Fahrertür stand noch: „Uns geht die Sonne nicht unter!?” Im Gutsgarten auf dem Weg zum Backofen lagen drei erschossene SS-Männer ohne Stiefel und Ausrüstungen.
Nach dem Abmarsch der Kampftruppe in Richtung Berlin – ein Soldat sagte mir, die Rote Armee wird es in drei Tagen erreichen – war Herzogswalde ca eine Stunde ohne russische Soldaten. Wir dachten, das Schlimmste überstanden zu haben. Die Nachbarn nutzten die Zeit, sich gegenseitig zu informieren. Doch völlig unerwartet ergoss sich gegen 14 Uhr eine Einheit mit „Panje”-Wagen (Kastenwagen mit eisenbeschlagenen Holzrädern) von Gleißen kommend durch die Ankenberge auf Herzogswalde. Diese Soldaten verhielten sich gewalttätiger als die Kampftruppe wenige Stunden vorher.
Als sie in unser Haus eingedrungen waren, öffneten sie die Tür vom hinteren Gastzimmer zur Küche, die im oberen Teil verglast war, nicht mit der Klinke, sondern sie zerschlugen die Tür mit dem Gewehrkolben. Sie nahmen den Tabak unserer Gastwirtschaft, den die Kampftruppe zurückgelassen hatte, die Steintöpfe mit selbst gekochter Kirschmarmelade und alles was sie brauchen konnten. Sie verhielten sich dabei wirklich beängstigend feindlich. Wir fürchteten uns, verließen das Haus und gingen zum Bauernhof der Großeltern. Hier fühlten wir uns in der Gemeinschaft mit der Großmutter Martha Munkow und der Tante Martha mit ihren beiden Kindern sicherer. Aber die Angst blieb.
Als am späten Nachmittag die Scheune vom Bauern Klemke, die größte des Dorfes, angezündet wurde, befürchteten wir Gewalttaten und wollten in den Wald flüchten. Doch nach wenigen hundert Metern kehrten wir zurück. Das diesige und naßkalte Winterwetter führte zu dieser Einsicht. Der Wetter-umschwung kam plötzlich und war stark. Die Rotarmisten tauschten ihre Filzstiefel gegen deutsche Lederstiefel.
In der Nacht vom 1. zum 2. Februar kam es zu vielen Grausamkeiten. Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt. Im Bauernhaus von Hermann und Hertha Bley wurden je vier Mitglieder der Familien Stallmann und Schulz aus Tempel erschossen. Das jüngste Opfer war erst ein Jahr alt und musste in den Armen der Mutter sterben, die auch schwer verletzt wurde. Die Bäuerin Hertha Bley und ihre ukrainische Arbeiterin versteckten sich unter dem Wohnzimmertisch. Ein Rotarmist verhinderte weiteres Blutvergießen und erschoss den Täter – ein sowjetischer Offizier.
Am 2. Februar wurde vormittags der Lehngutsbesitzer Günther Folger aus Tempel auf der Dorfstraße vor dem Bauernhaus von Emil Ende erschossen, als er vom gegenüberliegenden Gutshof kam, wo er einer Flüchtlingsfrau mit drei Kindern aus Tempel, die wegen vieler Vergewaltigungen eine sichere Unterkunft suchte, geholfen hatte. Es wurde dann auch bekannt, dass am 1. Februar der Inspektor Dohrow des Gutes Herzogswalde auf der Feldmark westlich des Ortes in Richtung Vorwerk Marienwalde erschossen worden war.
Neben all den Grausamkeiten gab es jedoch keine Rachehandlungen von den polnischen, russischen und ukrainischen Zwangsarbeitern in Herzogswalde. Innerhalb von vier bis fünf Tagen nach ihrer Befreiung machten sie sich alle auf den Weg in ihre Heimat, die sie oft nicht erreichten.
Die Frauen und jungen Mädchen waren den russischen Soldaten hilflos ausgeliefert. Niemand konnte sie beschützen. Ich war am 4. oder 5. Februar Augenzeuge, als eine junge Frau mit zwei Kleinkindern aus Polenzig bei Drossen, die wie andere zwangsweise in Richtung Osten vertrieben worden waren, weil die Russen im Rücken der Oderfront ein von Deutschen freies Gebiet bildeten, zu meiner Tante auf den Bauernhof kam und um Aufnahme bat. Sie berichtete, dass sie auf Schöppkes Bauernhof Unterkunft gefunden hatte, aber dort am Vortag vierzehnmal vergewaltigt worden war.
Am 4. oder 5. Februar sah ich einen Deutschen ein dunkelrotes Plakat, Format Al, mit schwarzer Schrift an die Tür des Transformatorhauses anbringen, „Befehl Nr.2” verkündete es. Es befahl allen Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren sich am 6. Februar zu einer bestimmten Zeit in Zielenzig zum Arbeitseinsatz zur Beseitigung von Kriegszerstörungen zu melden. Jeder wurde aufgefordert, sich dazu entsprechend zu kleiden sowie eine Schlafdecke und für zwei Tage Verpflegung mitzubringen. Am befohlenen Stelltag verließen die betroffenen Männer truppweise das Dorf. Es waren die Bauern Gustav Kassner und Arthur Ritter die Kleinbauern Richard Richsteig und Otto Herfurth, die Maurer Paul Behrendt und Paul Rex, der Schlepperfahrer Otto Ebert, der Landarbeiter Karl Herfurth, der Stellmacher Emil Skopp, der Förster Walter Framke sowie die Jungbauern Erich Herfurth, Siegfried Lorenz und Martin Mechelke.
Von diesen Männern wurden Karl und Otto Herfurth, der 16-jährige Erich Herfurth und Richard Richsteig sofort nach Herzogswalde zurückgeschickt. Sie sollten wohl die notwendigen landwirtschaftlichen Arbeiten sichern. Otto Herfurth wurde später zum Vorarbeiter bei der Frühjahrsbestellung bestimmt. Nach einer bis zu dreijährigen Zwangsarbeit kehrten nur Walter Framke und Paul Rex zurück. Der 1945 21-jährige Siegfried Lorenz, der am 1. Februar 1945 aus seinem Urlaub zur Front nach Italien hätte fahren müssen, erhielt acht Jahre Lagerhaft, weil er auf einem Feld ca. 1 kg Weizenähren „gestohlen” hatte. Er kam 1955 aus der Sowjetunion zurück.
Am 6. Februar, nachmittags, wurde der sowjetische Staatssicherheitsdienst in Herzogswalde aktiv. Zielgerichtet kamen sie und verhafteten die noch im Dorf verbliebenen Mitglieder der NSDAP: Die Bauern Bürgermeister Carl Mechelke, Karl Niele und Erhard Wolff, den Schmied und Ortsgruppenleiter der NSDAP Richard Lorenz, den Bauunternehmer Gustav Bolle, den Brennermeister Fritz Ordewald und den Landwirt Franz Heinze, der im Fronteinsatz eine Hand verloren hatte.
Die verhafteten NSDAP-Mitglieder wurden am 7. Februar nach Spudlow, Kreis Weststernberg gebracht und vier Tage in einem Keller eingesperrt. Dann kamen sie nach einem 11-tägigen Einsatz in Sonnenburg per LKW über Schwerin/Warthe in das berüchtigte Lager Schwiebus. Franz Heinze und Brennermeister Ordewald kamen wieder frei. Carl Mechelke flüchtete aus einem Lager bei Posen und kam am 18. Mai nach Herzogswalde zurück. Von den anderen gab es nie mehr ein Lebenszeichen. Auch der 70-jährige Bauer Hermann Bley, der nicht der
NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehörte, war gleich in den ersten Tagen verhaftet worden. In seinem Haus fand das Blutbad an den Flüchtlingen aus Tempel statt. Es gab auch von ihm nie mehr ein Lebenszeichen.
Am 10. Februar schlug der NKWD schon wieder in Herzogswalde zu. Ganz gezielt verhafteten seine Männer – mit den grünen Mützen – den Maurer Gustav Rex (60) und die Landarbeiter Oskar Müller, August Steinicke (54) sowie Berthold Wilhelm (51) und schickten sie in die Zwangsarbeitslager der Sowjetunion. Gustav Rex und August Steinicke kamen nach Workuta in das nördlichste Straflager. Rex wurde nach anderthalb Jahren entlassen und August Steinicke starb dort. Berthold Wilhelm kehrte auch nicht aus Sibirien zurück. Oskar Müller sah seine Familie wieder. – Wurden sie verhaftet, weil sie gegen den „Befehl Nr. 2” verstoßen hatten, gemäß dem sie sich am 6. Februar zum Arbeitseinsatz hätten stellen müssen?
Infolge der Erschießungen und Verhaftungen hatten auch wir Jungen Angst auf die Straße zu gehen, um uns zu treffen. Um den 12. Februar trieb uns die Neugierde, zu erfahren wie es anderen Familien geht, auf die Dorfstraße. Es war gegen Mittag als wir uns an der Süd-Ost-Ecke des Acht-Familienhauses zufällig zusammenfanden. Wir waren vier oder fünf Schulkameraden. Nach wenigen Minuten tauchte ein ganz junger, relativ kleiner Rotarmist auf. Er stand auf der Pflasterstraße, beobachtete uns und machte ein unfreundliches Gesicht. Ich sah ihn auch an. Bewaffnet war er mit einem Nahkampfdolch und mindestens 2 Eierhandgranaten. Plötzlich griff er eine und tat so, als würde er sie nach uns werfen. Wir liefen blitzartig weg. Infolge seiner Position war mir der Weg in unser altes Haus abgeschnitten. Ich lief daher meinem Schulkameraden Werner Steinicke folgend in Steinickes Wohnküche. Sekunden später stürmte der Soldat herein, griff mich und hielt mir seinen Dolch an den Hals. Frau Emma Steinicke, die das Mittagessen vorbereitete, reagierte blitzschnell. Sie hielt dem Soldaten einen Teller mit gekochtem Fleisch vor sein Gesicht und ergriff einen Arm. Ich nutzte diese Situation und rannte fluchtartig nach draußen. Hinter den Holzmieten der Landarbeier versteckte ich mich ca. eine Stunde. Danach schlich ich mich in Irmschers Wohnung. Mitte Februar zogen wir aus dem Haus der Großeltern, in dem immer die Stäbe der militärischen Einheiten stationiert waren, zur Landarbeiterfamilie Karl und Pauline Irmscher, die auf unserem Grundstück im alten Natursteinhaus zur Miete wohnten. – Am 13. Januar hatten sie noch ihre Goldene Hochzeit gefeiert.
Voller Angst ging das Leben weiter. Aber alle im Dorf hatten noch zu essen, denn die Mieten waren noch voller Kartoffeln, weil es keine Schweine mehr gab. Wir, die Familien Karl Munkow und Irmscher, besaßen noch eine von ca. 12 Kühen, die den Dorfbewohnern blieben, als die ca. 130 Kühe und das Jungvieh zum Abtransport in die Sowjetunion nach Ostrow weggetrieben wurden. Es gab aber in Herzogswalde auch keine Hühner, Gänse und Enten mehr. Unser Schlachtschwein, das auch für meine Konfirmation verwendet werden sollte, wurde auf einen russischen Ford-Lkw verladen. Doch es sprang herunter und verletzte sich. Aber die Rotarmisten wussten sich zu helfen. Sie holten sich unseren grünen Velourteppich aus dem Wohnzimmer, wickelten das Schwein damit ein, luden es auf und fuhren ab. Es muss Ende Februar gewesen sein, als mich an einem späten Abend ein mit einem Gewehr bewaffneter Rotarmist vom Schlaflager in Irmschers Wohnung holte und mir in der Dunkelheit klarmachte, dass ich ihm eine deutsche Frau suchen sollte. Er bestimmte die Richtung. Ich musste vorangehen und er folgte im 2 m-Abstand mit dem Gewehr in der Hand. Bei Ritters musste ich klopfen, aber es blieb alles still. Ich orientierte ihn auf das Schulgebäude, weil ich wusste, dass dort niemand wohnt. Dann gingen wir zurück und er bestimmte, bei Frau Fritsche zu klopfen. Sie meldete sich und ich sagte ihr meinen Namen. Dann öffnete die ca. 70-jährige Frau und sagte, sie sei allein im Haus. Unerwartet ließ der Soldat jetzt von seinem Vorhaben ab. Er ging mit mir zurück und nach ca. 50 Metern schickte er mich nach Hause. Nun bekam ich Angst, dass mich andere fangen. Aber es kam niemand.
Unsere Mutti wurde bis Mitte März 1945 mehrmals nachts von Soldaten mit den Worten „Frau komm” gezwungen mitzugehen. Nach Jahrzehnten erst erzählte sie mir, dass es ihr bei diesen Vergewaltigungen im Haus von Paul Behrend besonders Übel erging.
Familie Irmscher wartete täglich auf ein Lebenszeichen ihrer Tochter Bertha, die in Zielenzig im Johanniter Haus mit ihrem Mann, einem Schwerkriegsbeschädigten aus dem Ersten Weltkrieg, wohnte. Trotz der Angst, verhaftet zu werden, machte sich Herr Irmscher eines Tages auf den Weg zu seiner Tochter. Er fand sie nicht, doch erfuhr von den Nachbarn, dass sie sich wehrte, vergewaltigt zu werden und erschossen wurde. Er, der großgewachsene und selbstbewusste Mann kehrte traurig und niedergeschlagen nach Herzogswalde zurück. Seiner Frau und den Herzogswaldern sagte er nichts vom Tode seiner Tochter Bertha. Er wollte seiner Frau keinen Kummer bereiten. Nach der Vertreibung informierte er sie erst, als er mit ihr bei seiner Tochter Anna in Berlin Zuflucht gefunden hatte. – Mir sagte er nach seinem Besuch in Zielenzig in einem Gespräch: „Helmut, mein Großvater hat mir erzählt, es ist besser, die Franzosen als Feind im Land zu haben als die Russen Freund!“ Diese Erfahrungen machten unsere Vorfahren im Sternberger Land im Siebenjährigen Krieg 180 -1813 und in den Befreiungskriegen .
Um den 20. Februar erhielt Herzogswalde einen Kommandanten mit Sitz im Inspektorhaus. Es war ein Major mit sachlichem Auftreten und grauen Haaren. Er informierte uns über Ausschwitz. Als wir die vor der Kommandantur angebrachten Plakate mit Bildern der Massenmorde in Auschwitz sahen, glaubten wir den Aussagen nicht und konnten uns die Untaten nicht vorstellen. Ende Februar musste unsere Mutti zum Kommandanten. Die Uniform meines Vaters vom Schützenverein Herzogswalde mit den vielen Medaillen für gutes Schießen hielt der Kommandant für eine Offiziersuniform. Als Offiziersfrau müsste Mutti bestraft werden! Doch mit Rücksicht auf ihre fünf Kinder werde er das nicht tun, entschied er.
In der ersten Märzhälfte hatte ich auch ein paar freudige Erlebnisse. Ein in unserem Haus stationierter Feldwebel sprach mich einige Male an und unterhielt sich mit mir. Er war Lehrer in Sibirien und sprach gut Deutsch. Er erzählte mir das deutsche Märchen „Der kleine und der große Klaus“ und informierte sich mit einigen Soldaten über meine Mathematikkenntnisse. Er wollte mich auch einmal zu einer Filmvorführung in unseren Saal mitnehmen, aber als einziger Deutscher zwischen den Soldaten hatte ich Angst. – Schade.
Mitte März mussten wir eines Tages alle noch verbliebenen Stand- und Wanduhren, Foto- und Radioapparate sowie Nähmaschinen bei der Kommandantur abliefern. Wir Jungen kamen auf die Idee, diese Geräte unbrauchbar zu machen. Wir überdrehten die Schalter der Radiogeräte, entwendeten die Schiffchen der Nähmaschinen und teilweise die Pendel der Uhren. Gott sei Dank wurde es nicht bemerkt!? Deutsche Kriegsgefangene vom Pioniersstab in Zielenzig holten diese Reparationsartikel ab. Am 20. März kam gegen Mittag ein LKW, der auf dem Dorfanger neben den Maulbeerbäumen vor dem Haus des Bauern Herfurth parkte. Ein Fliegeroffizier war damit gekommen, der von Haus zu Haus ging und Frauen und Mädchen bestimmte, die sich umgehend zum Arbeitseinsatz stellen mussten. Unsere Mutti musste auch mit. Keiner wuss-te wohin es wie lange geht? Wir fünf Kinder zählten nicht. Als der Fliegeroffizier mit Mutti unsere Unterkunft verlassen hatte, stellten wir fest, dass sie weder einen Essnapf noch einen Löffel mitgenommen hatte. Ich lief sofort los, ihr diese wichtigen Dinge, sowie ein Messer und ein Stückchen Brot zu bringen. Als ich diese Sachen am LKW hochreichte, packte mich der baumlange Offizier und warf mich auf den LKW zu den ca. 30 Frauen und Mädchen. Die Bäuerin Hertha Bley ermunterte mich, hinunterzuspringen und ich tat es auf der LKW-Seite, wo der Fliegeroffizier nicht stand. Mindestens 8 Rotarmisten beobachteten das aus den offenen Fenstern des Bauernhauses, doch keiner hat mich verraten. Die Frauen mussten dann in der Umgebung von Reppen einen Flugplatz bauen. Am sonnenklaren Ostersonnabend, am 31. März 1945, kamen alle zurück. Es war ein Glück für uns.- Doch niemand traute sich Ostern in die von Rotarmisten demolierte Kirche. Einige Orgelpfeifen lagen auf dem Kirchhof.
Am 3. April erhielten alle Familien den Befehl, in das Schloss einzuziehen. Es war vollgepfropft. Wir schliefen alle auf dem Fußboden. Jung und Alt lagen wir dicht an dicht. Kochen mussten wir unter freiem Himmel auf dem Platz hinter dem Schloss. Unsere Häuser wurden alle von einer Einheit der Roten Armee genutzt. Mitte April wurden Mutti und die Landarbeiterfrau Frieda Ebert – beide waren befreundet – gemeinsam vom NKWD in Zielenzig inhaftiert. Sie wurden beschuldigt, Mitglieder der NS-Frauenschaft zu sein. Sie konnten glaubhaft machen, dass sie keine Mitglieder waren und durften nach 3 Tagen nach Hause gehen. Ende April trafen an einem späten Nachmittag mehrere Werkstatt-Kraftfahrzeuge mit ihren vollen Besatzungen auf dem Gutshof ein. Sie verhielten sich relativ laut. Als es dunkel wurde, drangen sie in das Schloss ein, um zu vergewaltigen. Ich lag im unteren hofseitigen Raum. Einer der Eindringlinge legte sich neben mich. Ich sagte ihm: „Nix Paninka.” Er leuchtete mich dann an und stand auf. Der Ortskommandant wurde informiert oder hatte den Überfall selbst beobachtet. Er mischte sich ein und verhinderte Schlimmes. Am nächsten Tag mussten wir feststellen, dass der Major als unser Beschützer von den Rotarmisten der Werkstatteinheit geschlagen worden war.
In den Tagen vor dem 1. Mai wurde Herzogswalde insbesondere durch Rotarmisten nach sowjetrussischer Art gesäubert und geschmückt. Sämtliche Dunghaufen auf den Bauernhöfen wurden beseitigt. Auf ihren Panjewagen fuhren die Rotarmisten den Dung in die Trift vor dem Friedhof und luden ihn dort ungeordnet ab. An Häusern und Ställen wurden Losungen angebracht. Die roten Inletts der Federbetten wurden für Fahnen, Transparente und Dekorationen verwendet. Einige Federbetten wurden dafür aufgeschlitzt und die kostbaren Daunen wirbelten durch die Luft. – Am späten Nachmittag des 30.April hatte man festgestellt, dass der kleine aber sehr gut gestapelte Dunghaufen des Gemeindearbeiters Emil Bender nicht weggefahren worden war. Nun wurde schnell gehandelt. Gegen Abend holten die Russen 5 Jungen, darunter meinen Bruder Eckhard und mich zum vergessenen Dunghaufen. Wir mussten ihn in die massive Waschküche umsetzen. Ein bewaffneter Rotarmist beaufsichtigte uns. Wir konnten uns über diese, nach unserer Meinung unsinnigen Aufgabe, nicht so richtig das Lachen verhalten. Mein Bruder Eckhard fand das alles sehr lustig. Da fragte der Wachposten meinen Bruder plötzlich: „Vater SS?” Danach verging uns das Schmunzeln und wir strengten uns an und erfüllten unsere Aufgabe. Die Rotarmisten feierten den 1. und 2. Mai und auch wir hatten zwei Feiertage. Doch von den in diesen Tagen tobenden Kämpfen in Berlin erfuhren wir nichts.
Am 7. Mai wurden nachmittags 6 Jungen vom Feld geholt. Mein 13-jähriger Bruder Eckhard war auch dabei. Uns wurde mitgeteilt, dass wir als Kutscher von Militärfuhrwerken wegfahren müssen und uns dazu entsprechend anziehen sollten. Uns wurden 5 Panjewagen voller Waffen und ein Kutschwagen, jeweils mit 2 Pferden bespannt, übergeben. Eckhard steuerte den Kutschwagen für einen Hauptmann und einen Begleitsoldaten. Es ging umgehend los und wir fuhren bis Grochow. Am nächsten Tag fuhren wir über Meseritz und Schwerin zur Kleinstadt Lipke. Gegen 17 Uhr kamen wir dort in der Post an und übergaben alles. Der Begleitsoldat brachte uns dann einen fast halbvollen Wassereimer mit Kascha, ließ uns in Ruhe essen und führte uns dann an den Stadtrand in ein Quartier, in ein Einfamilienhaus. Hier war alles so sauber und unzerstört. Es gab sogar noch Hühner auf dem Hof. Unser Soldat sagte uns, dass er uns am nächsten Morgen abholt. In der Nacht schossen die Russen aus allen Rohren. Uns störte das wenig. Wir standen schon sehr früh auf und warteten am Hoftor auf den Rotarmisten. Er kam bald und schwenkte noch 50 m entfernt seine Maschinenpistole und rief freudig: „Wojna Kapuut, Wojna kapuut!” Der Krieg ist aus! In unserer Situation brachte uns diese Aussage keine Freudenstimmung.
Der Rotarmist gab mir seinen Rucksack mit unserer Verpflegung und eilte mit uns zum Marktplatz in Lipke. Von dort wurden wir von einer LKW-Kolonne nach Schwerin/a.W. mitgenommen. Wir merkten, es geht nach Hause. Wir durchquerten Schwerin – Berlin 150 km, Moskau 1300 km entfernt – und wurden von zwei mit alten Rotarmisten vollbesetzten LKW bis Meseritz mitgenommen. Sie hatten alle das Alter unserer Väter und rückten noch zusammen, um für uns Platz zu machen. Als wir durch Meseritz in Richtung der Chaussee nach Zielenzig liefen, wies unser Soldat eine polnische Milizstreife zurück. Auf ein Fahrzeug nach Zielenzig wartend aßen wir unser Frühstück. Auf den Hängern eines Lanzbulldogs kamen wir mittags in Zielenzig an und gegen 14 Uhr waren wir wieder in Herzogswalde. Nach 46 Stunden wieder zu Hause zu sein, hatten wir einem russischen Offizier zu verdanken. Nun war auch für uns Frieden.
Am Abend des 9. Mai fand in Herzogswalde eine für beide Seiten bewegende Siegesfeier statt. Die ca. 300 Soldaten einer Ausbildungseinheit waren voll bewaffnet, von der Leuchtpistole bis zum Maschinengewehr, auf der Dorfstraße im Bereich zwischen dem Feuerwehrgerätehaus und dem Pferdestall des Gutes angetreten. Nach einer Ansprache eines Offiziers und den entsprechenden Befehlen legten sie ihre Waffen zum Salutschießen in Richtung Gutshof und Schloss an. Alle begannen gleichzeitig mit Leuchtspurmunition zu schießen, deren Leuchtspuren am abendlichen Himmel auf mich einwirkten. Es war schaurig schön und ich empfand Trauer und Ohnmacht. Die Sowjetische Einheit wiederholte die Siegesfeier am 10. und 11. Mai:- Heute weiß ich, es war für die Menschen gut, dass wir Deutschen nicht zum Salutschießen kamen.
Die in der Feldscheune hinter dem Park lagernden Roggengarben mussten wir im März ausdreschen. Die große Dreschmaschine des Gutes wurde dazu mit der vorhandenen Lokomobile angetrieben. Dabei wurde gleichzeitig ein Teil des gedroschen Roggens geschrotet und an die Bewohner von Herzogswalde verteilt. Aus dem Roggenschrot backten die Familien in den vorhandenen Backöfen im wahrsten Sinne des Wortes „Vollkornbrot”. Kartoffeln hatten wir im Überfluss. Nach Kriegsende kam eine russische LKW-Kolonne und holte die Kartoffeln aus den Mieten für die Versorgung der Berliner. Die den Herzogswaldern anfangs verbliebenen ca. 12 Kühe übernahm am 3. April die Kommandantur. An Kleinkinder wurde dann Milch ausgegeben. Weitere Lebensmittel wurden bis zur Vertreibung nicht verteilt. Wenn die Russen Vieh schlachteten, holten wir uns, was sie damals nicht verwerteten, z.B. Kopf, Leber, Lunge, und Beine. Von der ca.
500 m2 großen Spargelanlage des Gutes ernteten und verteilten wir den Spargel an alle Herzogswalder. Die Russen aßen den Spargel damals nicht. Mit den teilweise noch geretteten Lebensmitteln des Wintervorrats der einzelnen Familien, den Kartoffeln und dem Roggenschrot hatten wir eine armselige Versorgung, aber wir hungerten noch nicht.
Das Weiterleben bestimmte unser Tun nun stärker. Wir bestellten unsere Gärten und möglichst viele Felder. Weil die Frühjahrsbestellung mit den wenigen und klapprigen Pferden nicht zu bewältigen war, wurden auch Rotarmisten mit ihren Pferden zum Beackern der Felder eingesetzt.
Mitte Juni zog die sowjetische Einheit aus Herzogswalde ab. Doch davor gab es noch eine Enttäuschung für alle. Ein Rotarmist hatte den 70-jährigen Hermann Alexe, den früheren Voigt des Gutes, in seiner Wohnung erschossen. Der Kommandant der Militäreinheit ermöglichte aber eine christliche Beisetzung mit Pastor Rausendorf aus Gleißen. – Der Frieden breitete sich aus.