„Wie ich als Achtjähriger das Kriegsende 1945 in Sonnenburg erlebte”
Rudolf Egbert Nultsch
Vortrag, gehalten am 25. April 2014 im Johanniterhaus, Zielenzig
Ich möchte Ihnen darüber berichten, wie ich als knapp achtjähriger Sonnenburger das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte.
Zuvor gestatten Sie mir noch einige Informationen zu diesem Ort. Ich fand sie im „Deutschen Reichsadressbuch für Industrie, Gewerbe und Handel” von 1941/42. Darin heißt es unter anderem: Sonnenburg – Stadt mit Johanniterordensschloss, 20 m über dem Meeresspiegel, 3837 Einwohner, Reg. Bezirk Frankfurt/Oder, Landkreis Oststernberg. Kleinbahnstrecke Küstrin – Hammer.
Im Ort Amtsgericht, Post – und Telegrafenamt, Sparkasse, Feuerwehr, Johanniterordenskrankenhaus, Ärzte, Zahnärzte, Apotheke, Rechtsanwalt und Notar. Desweiteren Elektrizitätswerk, Seidenfabrik, Ziegeleien, Sägewerke, Gartenbaubetriebe, Molkerei, Stadtmühle, Fabrik für Imkereigeräte, Holzschuhfabrik, Heuversandstellen mit Heupressen. Außerdem diverse Gewerbebetriebe wie Schmiede, Schlosser, Tischler, Schneider u.a. Dazu 7 Hotels und Gasthöfe, 8 Restaurants und Gaststätten, 17 Geschäfte für Lebensmittel, Reformwaren und Drogerieartikel, 8 Bäckereien, 6 Fleischer, 7 Frisöre.
Seit 1884 erschien 4 mal wöchentlich eine Zeitung, der „Sonnenburger Anzeiger”. Der Neffe des letzten Herausgebers, Herr Schilling, ist heute unter uns.
In der angeführten Quelle nicht erwähnt wird die am östlichen Rand des Ortes 1835 erbaute Strafanstalt. Sie spielte in der Zeit des Nationalsozialismus eine mehr als unrühmliche Rolle. Doch das ist ein anderes Kapitel.
Weil die meisten Straßen Sonnenburgs mit Linden bepflanzt waren, hatte der Ort ein besonderes Gepräge. Er trug den Beinamen „Lindenstadt“.
Hier kam ich am 30. Juni 1937 als zweiter Sohn meiner Eltern (übrigens genau am 50. Geburtstag meines Vaters) auf die Welt. Mein fast 12 Jahre älterer Bruder soll über den kleinen Nachkömmling nicht schlecht gestaunt haben.
Meine Eltern führten in der Prinzenstraße ein Geschäft für Lebensmittel und Reformwaren. Ich hatte eine unbeschwerte Kindheit. Wir litten auch in den Kriegsjahren keine Not.
Als ich fünf Jahre war, verstarb mein Großvater. Das war für mich ein trauriges Ereignis, denn ich hatte ihn sehr gern.
An Kindergarten und erste Schuljahre habe ich fast keine Erinnerung. Ich weiß nur noch, dass ich eine sehr nette Erzieherin und in der Schule einen gutmütigen älteren Lehrer hatte. Namen von Mitschülern aus dieser Zeit sind mir entfallen.
Ein weiterer Einschnitt in das Familienleben war die Tatsache, dass mein Bruder Soldat werden musste. Das gefiel meinem Vater absolut nicht. Er, der im Ersten Weltkrieg verwundet worden war und mit dem Nationalsozialismus nichts im Sinn hatte, versuchte vergeblich, dagegen anzugehen.
Allmählich wurde auch Sonnenburg mehr und mehr in das Kriegsgeschehen einbezogen. Anfangs waren es „Evakuierte” (mit diesem Wort konnte ich gar nichts anfangen), die aus der nahen Großstadt Berlin vor den Bombardierungen hier Schutz suchten.
Später, seit dem Frühherbst 1944, kamen unzählige Menschen, größtenteils auf mit Pferden bespannten Planwagen, durch Sonnenburg, bzw. machten hier Rast. Sie waren auf der Flucht vor der sich gen Westen vorkämpfenden Roten Armee. Es hieß, sie kämen aus Wolhynien und Polen.
Mit ihren Fellmützen und langen Mänteln machten sie auf uns Kinder einen exotischen Eindruck.
Das Weihnachtsfest (das letzte im Elternhaus) war längst nicht mehr so, wie in den Jahren zuvor. Reichte sonst der bunt geschmückte Christbaum vom Fußboden bis zur Zimmerdecke, so war es diesmal nur ein kleines Bäumchen, das sich auf dem Wohnzimmertisch recht verloren ausnahm. Ob und was ich geschenkt bekam, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass es nach dem Kirchgang recht traurig zuging, weil wir keine Nachricht von meinem Bruder hatten.
Wenn ich mich richtig erinnere, hörte um den 20. Januar herum der Schulbetrieb auf. Die offizielle Begründung dafür war Brennstoffmangel. Das elterliche Geschäft blieb aber geöffnet. Das Leben ging weiter. Von Flucht oder Räumung des Ortes war behördlicherseits nicht die Rede. Ich bekam selbstverständlich mit, dass sich meine Eltern, sowohl untereinander als auch mit Freunden, immer häufiger über Weggehen oder Bleiben unterhielten. So wurde ich Zeuge, wie sich meine Eltern erstmals deswegen zankten. Meine Mutter riet zur Flucht. Sie hatte sich wohl durch zahlreiche Gespräche mit den Flüchtlingen, die sie im Laden bediente, ihr eigenes Urteil gebildet. Mein Vater war dagegen. Er meinte, er sei kein Parteigenosse, habe sich nichts vorzuwerfen und so schlimm werde es unter den Russen schon nicht werden. – Für Sonnenburg wurde kein Räumungsbefehl erteilt – also blieben wir. Mit uns auch Nachbar Böhmer, der uns anbot, im Ernstfall in seinen sicheren Keller zu kommen. Andere, die auch bleiben wollten, verschwanden irgendwie oder konnten noch mit dem letzten Zug dem sich nähernden Inferno entkommen.
Am 2. Februar hörte man bereits in den Vormittagsstunden fernen Geschützdonner, der langsam näherkam. Wir aßen noch zu Mittag. Dann wurde es meinem Vater doch zu unheimlich und wir begaben uns in den geräumigen Schutzraum des Elektrizitätswerkbesitzers Böhmer. Wir, das waren meine Eltern, meine Großmutter und ich. Außer uns befanden sich noch drei weitere Personen in dem Keller, darunter ein etwa 10-jähriger Junge, den ich nicht kannte. Er trug die Uniform der Hitlerjugend und kam sich mir gegenüber sehr überlegen vor, denn er lästerte, als ich betete.
Nachdem die Schießerei etwas nachgelassen hatte, stieg Horst, so hieß der fremde Junge, die Stufen zur Kellertür hinauf. Plötzlich knallte es und, von einem Kopfschuss getroffen, polterte er die Kellertreppe hinunter. Dieses Bild werde ich nie vergessen! Nun betete die Frau, die zuvor die Lästerungen ihres Pflegesohnes duldete, das „Vaterunser… “ Noch heute weiß ich die Worte, die Herr Böhmer daraufhin sprach: „Nun ist es zu spät!“
Als draußen Ruhe zu sein schien, gingen wir über die Hofseite zu unserem Grundstück. Alle Räume des Hauses, auch der Laden, waren unversehrt. Nur unsere vier Hühner waren weg; ihre abgetrennten Köpfe lagen vor der Haustür. Im Hause herrschte eine eigenartige Stille, kein Russe zeigte sich. Vom Fenster der Oberstube, hinter der Gardine stehend, beobachteten mein Vater und ich den Heerwurm der Sowjetarmee, der sich auf der nahen Chaussee Richtung Küstrin bewegte.
Kurz danach ging es los. Soldaten in erdbraunen Mänteln kamen in Gruppen, aber auch einzeln, und nahmen sich, was ihnen gefiel. „Uri, Uri“ und „dawai, dawai“ waren offenbar ihre Lieblingsworte später dann auch das unvergessliche “ Frau komm!” Als Uhren, Ringe und Schmuck in den Taschen der ersten Sowjetsoldaten verschwunden waren, kamen neue und wollten ihren Anteil. Da sie verständlicherweise nicht sofort zufriedengestellt werden konnten, durchwühlten sie Schränke, Schubladen und andere Behältnisse. Alles, was ihnen nicht gefiel, landete auf dem Fußboden, wurde zerschlagen, zerrissen oder zertreten. Besonders schlimm ging es im Laden zu, der als solcher bald nicht mehr zu erkennen war. Es sah aus wie auf einer Müllkippe, nur, dass sich kein Unrat, sondern wertvolle Lebensmittel, wie Gries, Mehl, Zucker, Haferflocken, Kekse, Bonbons, Konserven und anderes zu Bergen auf den Dielen häufte.
An einem der Folgetage wurden auf Befehl der inzwischen eingesetzten Kommandantur sämtliche Radios und Telefonapparate beschlagnahmt. Das allgemeine Chaos hielt indes weiter an. Nachts brannten immer wieder Häuser, die als Siegesfanale angezündet worden waren.
Sonnenburger, die zu uns kamen, berichteten von Erschießungen und Vergewaltigungen. Auch erzählten sie, dass sich der oder die „erhängt“ hatten oder andere „ins Wasser gegangen“ waren. (Für mich damals neue, unbekannte Begriffe, ebenso das Wort „Vergewaltigung“. Auf Nachfrage meinte mein Vater nur, dass es „etwas Schlimmes“ wäre.) Mein Vater wurde einmal zum Verhör geholt, kam aber Gottseidank bald wieder. Ehemalige französische Kriegsgefangene und polnische Arbeiter, die ihn von ihren Einkäufen im elterlichen Geschäft her kannten, müssen sich für ihn eingesetzt haben.
Eines Tages, es war so um den 10. Februar, sollten wir im Wohnzimmer erschossen werden. Ein Offizier, in seiner Begleitung waren drei Soldaten, die ihre Maschinenpistolen drohend auf uns gerichtet hatten, bedeutete uns, niederzuknien. Was er sagte, verstanden wir nicht. Er zeigte mit seiner Pistole in Richtung des Zuchthauses. Wie später bekannt wurde, hatte dort, kurz bevor die Sowjettruppen Sonnenburg eroberten, ein SS-Sonderkommando unter den Inhaftierten ein Blutbad angerichtet. Dafür sollten nun die im Ort befindlichen Einwohner, so auch wir, bestraft werden. Nur durch die Geistesgegenwart und durch die Couragiertheit meiner Mutter sind wir dem Erschießungstod entgangen. Jetzt beschlossen meine Eltern, ihr Haus zu verlassen und zu meiner Großmutter zu ziehen. Sie hatte ihre Wohnung in einem in einer Nebenstraße gelegenen Hause, in dem noch zwei weitere Familien lebten. Dort ging es wesentlich ruhiger zu, weil Stalins Männer nicht so häufig zu Besuch kamen.
Mitte Februar erging der Befehl, dass alle Deutschen die Häuser räumen und sich auf den Weg ins Warthebruch machen sollten. Es war ein trüber Tag, an dem der Heimatort zurückblieb und wir ins Ungewisse zogen. Die meisten hatten Handwagen mit den verbliebenen Habseligkeiten beladen; auch wir natürlich. Meine Eltern konnten sogar einen kleinen Vorrat an Nahrungsmitteln, ebenso Salz, mitnehmen. Selbst ich zog einen kleinen Wagen, der mit Kleidungsstücken sowie einigen Spielsachen beladen war. Obenauf saß mein Teddy. Er ist mir auch später nie weggenommen worden. Als letztes und einziges Erinnerungsstück an Kindheit und Heimat besitze ich ihn heute noch.
Abends fanden wir Unterkunft in Glauschdorf, heute Grodzisk, in einem verlassenen Haus, das noch völlig intakt und komplett eingerichtet war. Es hatte den Anschein, als wären seine Bewohner kurz einmal weggegangen. Im Stall stand eine Kuh, die von meiner Großmutter gemolken wurde. Es gab frische Eier; in der Küche fanden wir Brot und Butter, Eingewecktes und Geräuchertes. Wie die anderen Sonnenburger, mit denen wir zusammen waren, glaubten wir fast, im Schlaraffenland zu sein.
Dann kam der 16. Februar! Am Vormittag erschien ein sowjetischer Offizier mit mehreren Untergebenen und ein Zivilist.(Wie sich später herausstellte, war es ein deutscher Denunziant). Mein Vater sollte ”für zwei bis drei Stunden zur Arbeit“ mitkommen, „dann wieder zurück“ sein. Alles Flehen und Bitten, ihn bei uns zu lassen, halfen nichts. Er wurde, wie viele, viele andere, verschleppt und kam nie wieder zurück. Meine Mutter hat den Verlust ihres Mannes nie verwinden können. Bis zu ihrem Tode hoffte sie vergeblich auf eine Nachricht über seinen Verbleib. Ich konnte damals die ganze Tragweite des Geschehens längst nicht voll erfassen. Zwar war ich sehr traurig, dass mein Vater uns nun fehlte, doch meine Mutter war ja noch da! Solange ein Kind seine Mutter hat, fühlt es sich behütet und geborgen. Noch am selben Tag hieß es weiterzuziehen. Wir waren nur noch zu Dritt und hatten uns in einen größeren Treck einzureihen. Unterwegs kamen wir an vielen ausgeplünderten Bauernhäusern vorbei. Vor manchen Hoftoren lag noch der erschossene Besitzer; neben ihm sein toter Hund.
So gelangten wir in mehreren Etappen bis Költschen (Kolczyn). Hier wurden wir bei einer Bauernfamilie einquartiert, die ihr eigenes Haus bewohnte. Für die vielen Fremden war ein Zimmer ausgeräumt und mit einer Strohschütte versehen worden. Darin fanden wir drei und zwölf weitere Personen Unterkunft.
Sowohl für meine Mutter als auch für meine Großmutter muss diese Lebenssituation fürchterlich gewesen sein. Ich dagegen fand alles nicht so schlimm und irgendwie abenteuerlich.
Fast in jeder Nacht erschienen Rotarmisten und leuchteten mit Taschenlampen die auf dem Boden liegenden Personen ab. Sie waren auf Frauenjagd. Ihre Aufforderung „Frau komm!“ habe ich noch heute im Ohr. Einmal sollte sogar meine 74-jährige Großmutter mitgehen. Sie erhob sich, zeigte auf ihre Brust und machte unmissverständlich die Geste des Erschießens und sagte „puh“. Da wurde von ihr abgelassen. Meine Mutter hatte sich einen Trick ausgedacht. Wenn sie die russischen Soldaten hörte, öffnete sie rasch die Stubentür und stellte sich dahinter. So blieb sie unentdeckt. Manchmal aber war sie nicht schnell genug. Dann blieb sie liegen und drückte mich fest an sich – das half!
Die Erwachsenen hatten täglich für die Besatzungsmacht zu arbeiten. Wir Kinder, und es waren nicht wenige, mussten das nicht, und wir durchstöberten das Dorf stets auf der Suche nach etwas Essbarem. Dabei kamen wir häufig zum Bahnhof. Wir wunderten uns, dass die Eisenbahner, die den Güterverkehr abwickelten, offensichtlich Polen waren.
Eines Tages, es war inzwischen Mai geworden, veranstalteten die russischen Truppen ein regelrechtes Freudenfest. Sie schossen unentwegt in die Luft und brüllten „Woina kapuut!” oder „Gitler kaputt”! Das zog sich bis in die Nachtstunden hin. Nun wurde mit Leuchtspurmunition ein mächtiges Feuerwerk entfacht.
Nach dem 8. Mai, dem Tag des Kriegsendes, erging die Aufforderung, dass jeder Deutsche in seinen Heimatort zurückzugehen habe. Das taten auch wir nur allzu gern. Allerdings kann ich mich nicht mehr erinnern, auf welchen Wegen wir die etwa 22 km lange Strecke zu Fuß bewältigten. Sonnenburg war nicht mehr wiederzuerkennen. Zahlreiche Gebäude waren nur noch Ruinen. Die Häuser, die noch standen, waren restlos ausgeplündert. Es herrschte ein wüstes Durcheinander: Türen und Fenster waren oft zerstört oder nicht mehr vorhanden, auf den Höfen lagen zerschlagene Einrichtungsgegenstände – überall war viel Schmutz!
Wir gingen zunächst zur großmütterlichen Wohnung. Auch hier waren alle Zimmer ausgeräumt und voller Unrat, die Fenster und Türen aber heil. Mutter und Großmutter machten sich sofort daran, die gröbsten Verunreinigungen zu beseitigen. Ein paar Matratzen fanden sich. Wir hatten wieder ein Dach über dem Kopf und waren zu Hause!
Mein Elternhaus durfte von uns noch nicht betreten werden. Dort wohnte ein offenbar hochrangiger Sowjetoffizier, der recht unnahbar wirkte. Erst später gab er uns ein Zimmer, die Küche und verschiedene Nebenräume zur Nutzung frei.
Sonnenburg hatte zu diesem Zeitpunkt eine doppelte Verwaltung. Es gab einen sowjetischen Kommandanten und einen polnischen Bürgermeister. Bei ihm mussten sich alle zurückgekehrten Einwohner melden. Wiederum wurden die Erwachsenen zur Arbeit eingeteilt. Von dem wenigen verdienten Brot konnte jedoch niemand satt werden. Der Hunger war bei allen groß! Im Schulgebäude hatten die Russen ein Lazarett eingerichtet. Die dazugehörige Küche befand sich im ehemaligen Kindergarten. Viele hungrige Kinder, mit Töpfen und Eimerchen versehen, fanden sich hier täglich zu den Essenzeiten ein. Alle hofften, ich natürlich auch, eine Kelle Suppe oder etwas Brot vom Koch oder seinen Helferinnen zu ergattern. Meistens hatten wir Glück, denn in der Regel waren die Russen Kindern gegenüber recht gutmütig.
Wir amüsierten uns, wenn die Russen mit Beutefahrrädern radeln wollten. Trotz zahlreicher Bemühungen gelang es ihnen meistens nicht, das Gleichgewicht zu halten. Wütend warfen sie dann die Räder hin und staunten, wie die größeren von uns damit schnell davonfuhren.
Eine große Freude für uns war es, als mein Bruder Helmuth heil und unversehrt am Pfingstsonnabend nach Hause kam. Seine erste Frage war : „Wo ist Papa?“ Keiner wusste darauf eine Antwort.
Nachbar Böhmer, ebenfalls wieder in der Stadt, hatte als Fachmann für elektrische Anlagen vom polnischen Bürgermeister die Order erhalten, das russische Kommandantur und das Haus, in dem die polnische Verwaltung residierte, mit elektrischem Strom zu versorgen. Dafür stellte Herr Böhmer einen Montagetrupp zusammen. Er nahm meinen Bruder als “Spezialisten” auf und machte ihn dadurch quasi unabkömmlich. Handwerklich sehr geschickt, reparierte Helmuth für russische Auftraggeber später verschiedene technische Geräte, sogar Uhren und, zu meinem Erstaunen, auch Pistolen. Belohnt wurde er dafür mit Naturalien, die für uns alle wichtig waren.
Am Nachmittag eines schönen Sommertages, es war der 23. Juni, gingen Soldaten mit viereckigen Schirmmützen von Haus zu Haus und sagten im Befehlston: „In 20 Minuten alle Deutschen raus!“
Meine Mutter raffte in aller Eile unsere wenigen Habseligkeiten und die Betten zusammen. Zum allgemeinen Erstaunen erschien unser russischer Mitbewohner, der uns sonst kaum beachtet hatte, und half ihr dabei, den Handwagen zu beladen. Mit harter russischer Aussprache sagte er auf Deutsch: “Nehmen sie mit was sie können, sie kommen nie mehr zurück!” Mein Bruder stand inzwischen auf einer Leiter und schrieb mit roter Farbe an den verputzten Hausgiebel: „Lieber Papa, wir mussten am 23.6. das Haus verlassen. Sind in Berlin bei Schütz. Gruß, Helmuth“
12 Jahre später, bei meinem ersten Besuch im Nachbarland, war diese Nachricht noch einwandfrei erhalten. Nur der, dem sie galt, hat sie nie lesen können!
Bald erschienen wieder die Uniformierten und jagten uns vom Hof. Auf der nahen Hauptverkehrsstraße standen wir bei brütender Hitze unter Bewachung noch Stunden, ehe die Menge vollzählig war.
Endlich setzte sich der Menschenzug in Bewegung. Es waren alles Sonnenburger, die nun für immer die Heimat verlassen mussten und mit ihrer letzten Habe in Richtung Küstrin getrieben wurden. Dafür sorgten die uniformierten Begleiter, die zum Teil beritten waren. Sie bestimmten auch das Tempo und passten genau auf, dass niemand zurückblieb.
So ging es auf der 14 Kilometer langen Chaussee bis in das vollkommen zerstörte Küstrin.
Inzwischen war es Abend geworden. Der Treck wand sich bei Mondschein durch die gespenstisch beleuchtete Ruinenstadt.
Nach Überschreiten der von russischen Posten bewachten Behelfsbrücke über die Oder verschwand die bewaffnete Begleitmannschaft.
Die Vertriebenen wurden nun sich selbst überlassen und jeder musste sehen, wie er weiterkam!
Gestatten Sie mir noch einige Schlussbemerkungen. Ich danke zunächst den Verantwortlichen dieser Veranstaltung für die Gelegenheit , dass ich hier offen über meine Eindrücke in dieser schrecklichen Zeit reden durfte. Gottseidank ist das jetzt möglich!
Es fiel mir nicht leicht, gedanklich in diese Lebensphase zurückzukehren. Ich bin mir bewusst, dass es weitaus schrecklichere Erlebnisse und Begebenheiten millionenfach in diesem furchtbaren Krieg gegeben hat. Dabei ist mit dem Verweis auf historische Kausalitäten das individuelle Schicksal unschuldiger Opfer nicht zu rechtfertigen.
Polen und Deutschen geht es heute um Verständigung und Versöhnung. Man muss wissen, was und wie etwas war. Deswegen kann es nur nützlich sein, wenn man vorurteilsfrei miteinander redet und keine Verdrängung oder Umschreibung geschichtlicher Tatsachen zulässt.