1980 – Meine erste Reise in die Heimat
von Wolfgang H. Freyer aus Grabow
Obwohl in Zielenzig geboren, stammen wir doch aus dem kleinen Dorf Grabow, zwischen Zielenzig und Sternberg. Bei der Vertreibung im Juni 1945 war ich erst zweieinhalb Jahre alt und habe naturgemäß keine Erinnerung an die Heimat. Wenn unsere Vorfahren zusammensaßen und von Grabow und der alten Zeit erzählten, baute sich im Laufe der Jahre ein bestimmtes Bild bei mir auf: Grabow, ein großes, prächtiges Dorf, mit einem großen Gutshof und in der Mitte ein imposantes Schloss, mit fast allen Bewohnern waren wir irgendwie verwandt, es ging den Menschen prima, eine wahre Oase des Glücks und der Zufriedenheit. Nach der soundsovielten Geschichte, die jedes Mal eine etwas andere Färbung hatte, reifte bei mir der Entschluss, sich doch mal dieses schöne Stück Erde anzusehen. Meine Mutter, Großmutter und Tanten wollten mich auf keinen Fall begleiten, sie hatten Ende 1945 beim Einfall der Russen in Grabow Scheußlichkeiten erlebt, an die sie sich nicht mehr erinnern wollten. Eine Fahrt dorthin ganz allein schien mir aber ziemlich langweilig, also bat ich meine Frau (aus Potsdam gebürtig) die Tour mitzumachen.
Im Herbst 1980 war es dann soweit. Dem West-Berliner wurde es damals gar nicht so einfach gemacht, auf privater Basis dorthin zu gelangen. Wir mussten ein Visum beantragen, zuständig war die Polnische Militärmission in Berlin-Dahlem.
Mit einem neuen Reisepass ausgerüstet, wollten wir dort unser Visum beantragen; doch oh weh: Wir wurden belehrt, dass unser Pass nicht anerkannt werden konnte, wir waren Bürger von West-Berlin, einer besonderen politischen Einheit, die sich nicht mit einem Reisepass der Bundesrepublik Deutschland ausweisen durften. Maßgeblich für uns war der „behelfsmäßige Personalausweis“ (grüner Einband), mit dem jeder erwachsene Einwohner von Berlin (West) ausgerüstet war. Aha, also den nächsten Termin wahrgenommen, mit „behelfsmäßigen Personalausweis“. Aber auch diesmal war wieder ein Mangel auf unserer Seite. Der Geburtsort im Ausweis „Zielenzig“ gefiel der Dame gar nicht. „Muss stehen: Sulecin“, Was nun? Wir wurden angewiesen, bei unserer zuständigen polizeilichen Meldestelle einen Personalausweis zu beantragen, „mit Sulecin drin“. Ziemlich ungläubig kreuzte ich dort auf, und tatsächlich, ich erhielt diesen Ausweis mit begrenzter Gültigkeit, gegen Gebühren, versteht sich.
Wieder den nächsten Termin in Dahlem wahrgenommen und Ausweis „mit Sulecin drin“ vorgelegt. Nun schien alles in Ordnung zu sein, das Antragsformular ausgefüllt; doch dann: unter „Beruf“ hatte ich „Kriminalbeamter“ angegeben. Das gefiel der Dame wieder nicht, West-Berliner Staatsorgane durften nicht einreisen. Was nun? „Vielleicht habben noch anderen Beruf?“ Ja, richtig, eigentlich bin ich ja Industriekaufmann. „Kaufmann gutt!“. Noch ein Konterfei von uns abgegeben und in der Woche darauf hatten wir dann unser Einrevisum, wieder gegen Gebühren, versteht sich.
An einem Sonnabend ging es frühmorgens los, mit dem Auto, aber ohne Frühstück, das wollten wir am Grenzübergang Frankfurt/Oder nachholen, waren wir doch der Annahme, dieser wichtige internationale Kontrollpunkt hat mindestens ein Restaurant und diverse Shops.
Bei der Einfahrt in den großen Kontrollpunkt Drewitz am südwestlichen Berliner Stadtrand waren wir noch frohen Mutes, durften wir doch an der elendig langen Autoschlange der Transitreisenden nach Westdeutschland vorbeifahren und vor dem Tor „Transit VR Polen“ halten. Hier wurden unsere Dokumente geprüft und Gebühren für Transitvisum und Autobahnbenutzung verlangt. Kam mir spanisch vor, aufgrund des Abkommens bezahlte die BRDeutschland für Visum und Autobahnbenutzung. Ja, aber nur für die Transitwege nach Westdeutschland, aha, wieder was dazugelernt. Also nochmals Gebühren bezahlt, die sich nun zu einem erklecklichen Sümmchen addiert hatten, obwohl wir Berlin-West gerade mal verlassen hatten. Auf dem südlichen Berliner Ring wurden wir von der Volkspolizei kontrolliert, aufgrund des Kfz.-Kennzeichens dachten die wohl, wir hätten uns verirrt, denn nach Berlin-West ging es in die andere Richtung. Es gab damals Schlaumeier, die die Transitwege kurz verlassen haben, um die Oma zu besuchen und ersparten somit den Zwangsumstausch.
Nach einer Stunde erreichten wir den Grenzübergang Frankfurt-Autobahn. Die „DDR-Seite“ führte eine Abfertigung aus, die wir als erfahrene Transitreisende noch nie erlebt hatten, in Null-Komma-Nischt waren wir durch und kamen zur polnischen Seite. Nur 3 Autos vor uns, „da kommen wir schnell weiter“, dachten wir, aber weit gefehlt. Die Reisenden mussten ihre Mitbringsel, insbesondere Lebensmittel, Kaffee, Schokolade usw. auspacken; diese wurden mit einer mittelalterlich anmutenden Waage (Scala und Zeiger, Schalen) geprüft auf zulässiges Gewicht usw. Das zog sich hin. Uns knurrte nun langsam der Magen und wir versuchten, das imaginäre Restaurant auszumachen. Nach einiger Zeit waren wir endlich dran. Der poln. Grenzbeamte wollte nun wissen, wie unser Hotel am Zielort heißt. Zunächst hatten wir gar nicht verstanden, was gemeint war. Es ging ihm nicht in den Kopf, dass wir noch am selben Tage zurückfahren wollten. Offensichtlich dachte der, Grabow liegt in den Masuren bzw. Berlin in Belgien. Erst der Zeigefinger auf der polnischen Straßenkarte brachte Aufklärung. Abgefertigt waren wir aber trotzdem noch nicht: In einer nahen Baracke mussten wir einen erheblichen DM-Betrag (pro Person) in Sloty eintauschen. Wir hielten nun eine Matte von Geldscheinen in der Hand, die Hunderttausender türmten sich nur so und machten uns zu Millionären (bisher nicht mehr vorgekommen, leider). Aber wo war nun ein Restaurant? Kurz: es gab keins! (bis heute hat sich da nichts geändert).
Wir waren nun das erste Mal in Polen; wir passierten Dörfer wie Bottschow oder Pinnow und fühlten uns in die Kindheit versetzt. 2 Kühe zogen einen Leiterwagen, in Bottschow watschelte eine Schar Gänse über die Fahrbahn, Störche klapperten auf den Dächern, es waren die Bilder aus unseren Kinder-Lesebüchern.
Ein Restaurant oder etwas ähnliches war nicht zu erkennen. In Sternberg bogen wir links ab und parkten unser Auto dort, wo früher mal das Rathaus stand. An der Nordseite des Platzes, da wo sich heute die Bushaltestelle befindet (und früher die Familie Herfort ihr Friseurgeschäft hatte) standen vor einem Geschäft mehrere Männer Schlange, offensichtlich gab es dort etwas zu essen. Aber weit gefehlt, hier gab es jede Menge Wodka, ausgeschenkt in Wassergläsern. Das wäre uns auf nüchternen Magen schlecht bekommen; die Männer mit ihren Wodkagläsern sahen uns nicht gerade freundlich an, also ab ins Auto und weiter ging die Fahrt. Nach wenigen Minuten bogen wir rechts ab, gleich musste unser Dorf kommen, das große, prächtige Grabow. Wir fuhren durch ein Wäldchen, an ein paar Häuseken vorbei, links die Kirche, und bevor wir bremsen konnten, waren wir schon wieder im dunklen Wald. Hatten wir uns geirrt, ein anderes Dorf? Kurz die Karte geprüft: nein, es war Grabow. Ich war nicht gerade enttäuscht, aber doch irgendwie verwundert, denn von Größe und Prächtigkeit war nichts zu erkennen.
Nachdem wir unser Auto an der Kirche geparkt hatten, passierten wir die Dorfaue und fanden auch gleich „unser Haus“. Da stand ich nun vor dem Zaun und blickte auf das Gebäude, das wir vor 35 Jahren verlassen mussten; hier bin ich rumgeflitzt, habe die Gänse gehütet und mit Bello, dem großen schwarzen Hofhund gespielt.
Ich war doch ergriffen und dachte an die Menschen, die hier in diesem Hause gelebt haben.
Plötzlich kam der jetzige Bewohner aus dem Haus, ein Mann in meinem Alter. Ich zeigte ihm die alten Fotos; er verstand sofort und bedeutete mir: „Ich wohne jetzt hier, nicht du“, damit drehte er sich um und verschwand ins Haus. Eigentlich schade, hatte ich doch ein wenig die Hoffnung, von den jetzigen Bewohnern die Erlaubnis zu erhalten, das Haus betreten zu dürfen. Möglicherweise wären dann kleine Mosaiksteichen der Erinnerung hochgekommen.
Nach einigen Minuten der Besinnung setzten wir die Besichtigung von Grabow fort: Der Gutshof war in Be-trieb, ziemlich runtergekommen, nicht zu betreten. Die Kirche war unverschlossen und gestattete uns somit eine Innenansicht. Hier hatte sich alles abgespielt, Freude und Trauer. Vor 37 Jahren bin ich hier getauft worden und meine Eltern wurden vor 38 Jahren in dieser Kirche getraut.
Der die Kirche ehemals umgebende Kirchhof war nun Grasland.
Das viel besprochene „Schloss“ war nicht zu finden (es war tatsächlich ein kleines Herrenhaus, Ende 1945 von den neuen Bewohnern abgerissen), lediglich Teile der Grundmauern konnten im Dickicht noch erkannt werden. Insgesamt hinterließ das „große, prächtige Dorf Grabow“ bei uns einen trostlosen Eindruck, keinesfalls gleichbedeutend mit den Erzählungen unserer Vorfahren. Aber vielleicht sah damals ja alles viel besser aus.
Mit diesen Gedanken verließen wir mein Heimatdorf und fuhren über Malsow, Tauerzig und Ostrow nach Zielenzig, um den Ort zu sehen, wo ich Anfang Februar 1943 zur Welt kam, nämlich das Kreiskrankenhaus. Mit den alten Fotos in der Hand war es nicht schwer, das Gebäude zu finden, auf der Ecke Ostrower Chaussee/Brauner Weg. Im Haus traf ich eine Ärztin, die ganz gut Englisch sprechen konnte und mich auf meine Bitte hin ein wenig im Krankenhaus umherführte. Sie war natürlich erstaunt, dass sie nun einem Menschen gegenüberstand, der hier in diesem Gebäude, in „ihrem Krankenhaus“, vor über 37 Jahren geboren worden ist. Auf meine ziemlich unbedarfte Nachfrage nach Geburtsbüchern o.ä. wurde mir bedeutet, dass diese sich in ihrem Archiv befinden würden, das aber zu diesem Zeitpunkt nicht zugänglich war. Als ich nun die Räume des Krankenhauses sah, fielen mir unwillkürlich die Lachse ein, die ebenfalls einmal in ihrem Leben zu ihren Geburtsstätten zurückkehren.
Das Krankenhaus sollte eigentlich die letzte Station unserer Reise sein. Da aber der Magen knurrte, abgesehen von unserer „Bordverpflegung“ hatten wir noch immer nichts gegessen, suchten wir nach einem Restaurant. In einem Neubaublock an der östlichen Seite des Marktplatzes, dort, wo heute die Eiche der Erinnerung steht fanden wir dann auch endlich eine „Restauracja“. Hier konnten wir uns ausgiebig stärken und das Gesehene und Erlebte nochmals Revue passieren lassen.
Aus den Erzählungen meiner Vorfahren war mir noch in Erinnerung, dass hier in Zielenzig bis 1945 etliche Verwandte wohnhaft waren; es handelte sich um mehrere Familien mit den Namen Sprenger. Doch wo waren sie hier Zuhause?
Ein Rundgang durch die Stadt brachte zwar hierzu keine Erkenntnis, zeigte uns aber doch viele leere Plätze, abgeräumte Grundstücke, fehlende Häuser, dort wo einmal das Leben pulsierte; aber mit viel Fantasie konnte man sich das damalige Leben in einer wuseligen Kleinstadt vorstellen.
Ziemlich erschöpft setzten wir uns am frühen Abend in unser Auto und fuhren in Richtung „neue Heimat“, dorthin, wo uns 1945 das Schicksal verschlagen hatte, nach Berlin.
Anmerkungen des Verfassers:
In den vergangenen drei Jahrzehnten war ich sehr oft in Zielenzig und Grabow. Es zieht mich immer wieder dorthin. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich mich seit 10 Jahren mit Familien-und Heimatforschung befasse; leider kam die Idee hierzu erst mit meiner Pensionierung im Jahre 2003. Ich bedaure sehr, dass ich zu Lebzeiten meiner Vorfahren nichts erfragt habe, weder zu den familiären Verhältnissen, noch zu den Begebenheiten des täglichen Lebens. Heute fahre ich zu den Archiven u.a. in Grünberg und Landsberg a.W., um hier die Kirchenbücher und andere Dokumente zu studieren. Von Zielenzig sind ev. Kirchenbücher lediglich von 1626-1699 vorhanden, von Grabow dagegen gar nichts mehr.
Deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie, lieber Leser, mir Ihre Erinnerungen an Personen mit dem Familiennamen SPRENGER aus Grabow oder Zielenzig mitteilen könnten. Aber auch Personen mit gleichen Namen aus den anderen Dörfern des Kreises Oststernberg wären von Interesse.
Wolfgang Freyer, Am Rohrgarten 71 in 14163 Berlin.
sternbergerland@online.ms