Wandern – Lindow – Malkendorf – Groß Kirschbaum
Auf dem Truppenübungsplatz Wandern wiederentdeckt
„Im Jahre 1939 traf das Dorf Lindow eine schicksalhafte Entscheidung der damaligen Staatsführung. Gemeinsam mit den Orten Wandern und Groß Kirschbaum wurde das reizvolle Gebiet in der bergigen Höhenlage, den schönen Wäldern und zahlreichen Seen zum Truppenübungsplatz bestimmt. Unter dem Namen „Truppenübungsplatz Wandern“ zog das Militär ein und die Zivilbevölkerung wurde in andere Gegenden umgesiedelt, zum Teil nach Breesen, nach Kladow und Vietz nördlich der Warthe und Kerkow in Pommern. 1938 lebten in Lindow noch 333 Einwohner.“1
1950 wurde auch Malkendorf, jetzt durch die polnische Staatsführung, integriert.
Für den Vorstand des Heimatkreises bestand und besteht ein großes Interesse darin, zu erfahren, was aus den verbliebenen Friedhöfen geworden ist. Mindestens ebenso intensiv wurde nach Möglichkeiten für einen Besuch der „verschollenden Orte“ gesucht.
Über das Leben in Lindow in den Dreißigerjahren bis 1939 aus dem Blickwinkel der damaligen Kinder finden wir zwei Berichte in den Sammelbänden der „Oststernberger Heimatbriefe“2. Über Wandern und Groß Kirschbaum findet sich kaum Verwertbares.
Über ein Wiedersehen mit Groß. Kirschbaum und Lindow im Jahre 1943 haben wir einen Bericht von Bernhard Domke3, der damals in Breesen wohnte:
„Die verstorbenen Angehörigen verblieben ja auf den jeweiligen Friedhöfen der umgesiedelten Gemeinden. Die Verwaltung des Truppenübungsplatzes erlaubte aber, die Gräber
regelmäßig aufzusuchen und zu pflegen. Dazu bekam man
einen sogenannten Passierschein.“ Anlässlich dieser Friedhofsbesuche ergab sich auch die Gelegenheit, das eigene Dorf wiederzusehen. „Bei Lindow ist das Zielgebiet der Artillerie!“… Der Ort wirkte auf mich unheimlich. Die Häuser, Ställe und Scheunen waren durch Kampfübungen teilweise schon zerstört. Als wir aus dem Dorf herauskamen und die sogenannte „Wandernsche Schlachte“ befuhren, konnte man rechts des Weges Attrappen von Gebäuden sehen, die als Ziel für die Artillerie dienten.“
(so Bernhard Domke, ebenda, zum Besuch 1943)
Willi Bohm war das letzte Mal 1941 in Lindow, da sein Vater zu der Zeit Polizist auf dem Truppenübungsplatz war.
„Aus den Häusern hatte man Fenster und Türen herausgebrochen. Gebäude mit guten Ziegelsteinen waren abgebrochen. Auf dem Dorfanger vor der Kirche standen aus Brettern Hausattrappen, die zu Nahkampfübungen dienten.“
Gerhard Wald,4 früher Lindow und Drossen, besuchte zum ersten Mal seit 1939 im Jahre 1994, durch private Kontakte, das Sperrgebiet. Seine Feststellung über Lindow: „Vom Dorf war nichts mehr zu finden, nur Bäume und Sträucher…“
Genehmigung zum Besuch des Truppenübungsplatzes
Ein Versuch, eine Genehmigung für eine Gruppe von Heimatfreunden zu einem offiziellen Besuch der Orte zu erhalten, ist meines Wissens bisher nicht gemacht worden. Ich freue mich daher, dass ich hier über einen Meilenstein für unsere Arbeit des Heimatkreises berichten kann.
Offensichtlich hat sich das gut-nachbarschaftliche Netzwerk, das mit Bürgermeister Michal Deptuch und mit Hilfe der deutschen Partnerstädte Zielenzigs, Beeskow, Friedland und Kamen besteht, auch für meinen Antrag beim Oberkommando der polnischen Streitkräfte/Warschau als tragfähig erwiesen. Nach geraumer, üblicher, Zeit erhielten wir die Genehmigung.5
In einem ungezwungenen Gespräch mit dem jungen Kommandanten ppłk (Oberstleutnant) Przemysław Mikołajczak und Jacek Cieluch wurden dann die möglichen Termine festgelegt.
So kam es dann am 22. Juli 2013 zu dieser nicht alltäglichen Reise zu den „verschollenden Orten“
Um 8.30 Uhr hatten Jacek Cieluch und Mitarbeiter im Johanniterhaus für die 9 Teilnehmer Kaffee vorbereitet, der uns, die wir schon sehr früh aus Berlin und Umgebung angereist waren guttat. Unsere Reisegruppe bestand sowohl aus ehemaligen Lindower als auch anderen Oststernbergern mit Angehörigen.
Um 9.00 Uhr ging es dann weiter zum Hauptquartier in Wandern/We˛drzyn.6
Dort nahm uns Fähnrich Mariusz Stasilowicz in Empfang, setzte sich mit seinem Jeep an die Spitze, dahinter Jacek Cieluch und ab ging es durch das Eingangstor an den Wachen vorbei.
Wandern
Erster Halt ist Wandern, an der Mühle. Hier wurden mitgebrachte Karten zurate gezogen. Von der Mühle sind nur die linke Befestigung des Wehrschotts sowie Mühl- und Überlaufgraben vorhanden, in die sich die Postum einst teilte.
Links hinter der Straßenschleife dann der Friedhof.
„Rittergutsbesitzer….“ entziffern wir mühsam. Es lohnt sich noch, eine detaillierte Aufstellung der auf den Steinen verzeichneten Namen anzufertigen. Dafür ist heute keine Zeit. Schon jetzt ist die spontan einhellige Meinung nach einer Wiederholung des Besuchs. Auch unsere jüngeren
Teilnehmer scheinen beeindruckt zu sein.
Hier, in Wandern, wie wir dann auch bei allen anderen Friedhöfen (Lindow, Malkendorf) auf dem Truppenübungsplatz feststellen, sind von der Forstverwaltung Schilder angebracht worden: „Cmentarz Ewangelicki – uszanuj to miejsce“
(Oberförsterei Sulecin Evangelischer Friedhof – Respektieren Sie die Ruhestätte).
Lindow
Jetzt wollen wir weiter nach Lindow. Ganz anders als befürchtet ist die Verbindungsstraße asphaltiert. Trotzdem müssen wir höllisch aufpassen, um nicht in
ein unerwartetes Schlagloch zu geraten. Mit unseren „Pfadfindern“ voran fahren wir gen Lindow. Ab und zu kommt uns ein Militärfahrzeug entgegen. Abwechslungsreiches Hügelland, bisweilen eine dichte Alleebaumfolge, Bunker, Häuserattrappen, Schießsignale, Panzersperren.
Dann wechselt auch mal der Fahrbahnbelag zum Kopfsteinpflaster, aber einen Sommerweg gibt es hier nicht mehr. Mit Kastanienbäumen und Linden begrüßt uns Lindow.
Von nun an sollen als unsere Ortserklärer Hildegard Lehmann geb. Wunderlich und Willi Bohm gelten. Folgen wir den beschriebenen Spuren:
„Von Zielenzig kommend, an der Straße rechts die
Kirche, ringsum der Friedhof.
Links der Straße die Schule, der Schulhof, daneben der Gasthof‚ Otto Wolf“ und gleichzeitig Kolonialwarenladen und Tankstelle.“
Von den drei Linden, wo „vier oder fünf Mädchen die dicken Linden mit ausgebreiteten Armen umfassen mussten“, bei Bauer Otto Lange, August Feind, Gustav Lange“, haben wir die Linde vor dem Hof von Gustav Lange gesucht.“
Vergeblich – offensichtlich sind diese dem Kanonenschießen zum Opfer gefallen.
Gustav Lange war der Großvater unserer Mitreisenden Geschwister Siegfried Hentschel und Waltraud Finger. Da die Dorfstruktur, anders als erwartet, noch gut zu
erkennen ist, finden wir aber die etwaige Lage des Gustav-Lange-Hofes.
Willi Bohm (s. o., Fußnote 2) schreibt und erzählt hier und heute:
„Auf unserer Seite des Dorfes gab es auf dem Dorfanger einen kleinen und einen großen Pfuhl. Darin wurde im Sommer gebadet, auch schon geangelt.
Im Winter wurde auf dem Eis geschliddert oder wir fuhren mit dem Schlitten – in jeder Hand eine Pike
zum Abstoßen.“
Um den rot leuchtenden Kirchturm der Friedhof weist noch zahlreiche intakte Grabsteine auf, darunter ist auch einer mit dem Namen Moheit (wohl aber nicht verwandt mit Karl „Charles“ Moheit (s. den Beitrag in diesem Heft).
Ein weitgehend intaktes großes weißes Kreuz überragt alle anderen Grabsteine.
Hier wurde noch im Februar 1938 der Großvater Reinhold Wunderlich von Frau H. Lehmann geb. Wunderlich von Pfarrer Richard Fellmer beerdigt.
Die Spitze des Kirchturms ist fast ganz ohne Dachziegel. Der Holzunterbau scheint im nächsten Augenblick einzustürzen, aber unser Fähnrich kennt den Turm in dieser Verfassung bereits Jahrzehnte.
Wir finden die Reste des Pfarrhauses, stehen am Badepfuhl von Willi Bohm.
Unschwer finden wir auch den Gasthof „Otto Wolf“. Allerdings steht nur noch der Eiskeller.
Malkendorf
Bevor wir weiter in Richtung Malkendorf fahren stärken wir uns etwas. Jacek Cieluch versorgt uns, aufmerksam wie immer, mit Getränken.
In 1950 dem Truppenübungsplatz integrierten Malkendorf ist auf den ersten Blick keine Dorfstruktur mehr zu erkennen. Offensichtlich ereilte diesen Ort das Schicksal vieler anderer Orte (z. B. Raudener Weiche): Das verwendbare Baumaterial wurde „für
den Wiederaufbau von Warschau“ restlos abgetragen.
Aber: Der Friedhof ist ebenfalls ordentlich vom Unkraut befreit. Mit einem Zaun und der uns schon bekannten Inschrift versehen. Grabsteinreste sind säuberlich zusammengetragen.
Hier fallen uns besonders Reste von Grableuchten auf. Es steht zu vermuten, dass J. Cieluch letztes Jahr, als wir bereits über die Besuchsmöglichkeiten in Kontakt waren, dies veranlasst hat.
Groß Kirschbaum
Da wir schon nahe ans Ende unseres vereinbarten Zeitfensters angelangt waren und Groß
Kirschbaum nur mit geländegängigen Fahrzeugen zu erreichen ist, kehrten wir zum Ausgangspunkt zurück, mit der Aussicht beim nächsten Mal auch eine Lösung für den Besuch von Groß Kirschbaum bereit zu haben. Mit einem Großen Dankeschön verabschiedeten wir uns von unseren freundliche „Pfadfindern“ Fähnrich Mariusz Stasilowicz und seinem Fahrer. Abschließend bewirtete uns der Leiter des Johanniterhauses, Jacek Cieluch, ein weiteres Mal, bevor wir voller unerwarteter Eindrücke nach Hause fuhren.
Als Zusammenfassung kann festgestellt werden, dass offensichtlich von vielen Seiten eine immense
Vorbereitungsarbeit in die Säuberung der Friedhöfe Wandern, Lindow und Malkendorf von Unkraut und in die Zusammentragung und Herrichtung von Grabsteinen gesteckt worden ist.
Hierfür sei an dieser Stelle dem Kommandanten Oberstleutnant (pplk) Przemysław Mikołajczak, der Oberförsterei Zielenzig (Nadle´snictwo Sule˛cin) und Herrn Jacek Cieluch gedankt, der einen Teil seines geplanten Urlaubs geopfert hat.
Der Vorstand ist sehr an weiteren Materialen zum Truppenübungsplatz und insbesondere zu den Orten interessiert. Bitte setzen Sie sich mit der Redaktion des HB in Verbindung.
Heinz Habermann
Fotos: Heinz Habermann
Archiv Heimatkreis
1. Anmerkung der damaligen Redaktion (Verworner) zum Beitrag von Willi Bohm
2. 1. Bohm, Willi: Lindow, meine Kindheit auf dem Gutshof Erinnerung, Fotos HB 1/2004 S. 15
2. Lehmann, Hildegard: Lindow, mein Heimatort Erinnerungen HB 2/1998 S. 15
3. Domke, Bernhard: Von Breesen nach Groß Kirschbaum und über Lindow zurück HB 1/2002 S. 4
4. Wald, Gerhard: Nur der Kirchturm überlebte –
Die wechselvolle Geschichte des Dorfes Lindow endete 1945 HB 3/2008 S. 33
5. Für den Antrag müssen neben den üblichen Personalien auch die Pkw-Kennzeichen
angegeben werden
6. Der heutige Ort Wandern/Wędrzyn ist nicht identisch mit Wandern bis zum Jahre 1938