Unsere „zweite Polenreise“ (Teil 1)
am Freitag, dem 24. Juni 2011
Das Datum „24. Juni“ hat für uns drei Tiesler-Kinder immer noch eine besondere Bedeutung. Es war der 24. Juni 1945, an dem polnische Soldaten in Trebow einrückten und uns „evakuieren“ wollten. Die von den Alliierten beschlossene große ethnische Säuberung traf auch uns, doch von der hohen Politik hatten wir damals nicht die geringste Ahnung und nahmen den Räumungsbefehl schicksalhaft hin. Wir hatten eben als Deutsche gerade erst einen schrecklichen Krieg verloren und nun traf es uns auch persönlich. Wir hatten damals insofern Glück als der zuständige Kommandoführer einige menschliche Regungen zeigte und vor der Räumung des Dorfes erst noch zwei alte Leute beerdigen ließ, die kurz zuvor gestorben waren. Die Räumung des Dorfes wurde um 24 Stunden verschoben. Und so wurde der 25. Juni 1945 der Tag, an dem wir die Heimat der Großeltern für immer verließen.
Am nächsten Tage, als wir die Küstriner (Behelfs-)Oderbrücke passierten, wurde meine Schwester Gerhild 4 Jahre alt. Den Geburtstag feierten wir in brütender Sonnenhitze am Straßenrand in Manschnow, wo sich der Treck aus Trebow teilte, mit trocknem Brot und Kaninchenfleisch aus dem Weckglas. Wir hatten nämlich noch schnell am Tag zuvor unsere Kaninchen (Funde aus den Russenbunkern im Wald) geschlachtet und eingeweckt, und etwas Brot gebacken. Kein Wunder, dass dieses Datum auch 66 Jahre später immer noch emotional befrachtet ist.
Es war unsere zweite Reise nach Polen. Wir waren zwar vor 7 Jahren, im Jahre 2004, kurz nach Wegfall
der Grenz- und Passkontrollen schon in Boleslawiec/Bunzlau (wo bis 1946 unsere andere Oma wohnte) und bis nach Bendzin/Bendsburg im einstigen Oberschlesien gewesen, wo ich während der Kriegsjahre die Schule besuchte. Ich hatte es aber noch nicht geschafft, auch wieder einmal die anderen Orte unserer Kindheit in Landsberg und Trebow zu besuchen. Nur meine Mutter und mein Bruder waren 1996 schon einmal in Trebow. Und auch unsere Frauen waren gespannt, diese Orte einmal zu besuchen – die sich selbstverständlich in den vielen Jahrzehnten erheblich verändert haben.
Meine Schwester hat inzwischen in Angermünde eine Heimat gefunden. Und dort traten wir unsere Expedition an. Sie führte uns über Schwedt in die Neumark. Rein äußerlich war nicht zu merken, dass wir nun in Polen waren. Hier bei Soldin wirkten vor über 100 Jahren mein Ururgroßvater und mein Urgroßvater als Förster, damals „königlich preußische Hegemeister“ genannt. Ob hier noch Bäume stehen, die sie einst pflanzten? Die Landschaft sieht aus wie westlich der Oder. Die Straßen sahen aus wie in Deutschland, vielleicht eher etwas sauberer und neuer. Wir hatten den Eindruck, dass die Polen die
Gelder, die sie von der EU nach ihrem Beitritt erhalten haben, nicht einfach aufgegessen haben, sondern gut anlegten. Welch ein Unterschied zu den Eindrücken von 2004, als Polen gerade in die EU aufgenommen und Schengen beigetreten war! Sehr schön ist die neue Autobahn von Stettin über Soldin nach Landsberg, die nördlich der Stadt endet und als Landstraße an Wepritz vorbei über die Warthe führt. Nun hatten wir die Wahl: die Wegweiser führten nach Zielona Gora oder nach Kostrzyn. Küstrin war ja noch nicht unser Ziel, also entschieden wir uns für die linke Straße nach Grünberg – und das war der Weg nach Schwerin (Warthe) und Meseritz (Miedzyrzecz), also östlich an Sulecin (Zielenzig) vorbei. Schon kurz hinter Gorzów wurden am Straßenrand Kirschen, Johannisbeeren, Gemüse und Pfefferlinge angeboten. Die gelben Pilze leuchteten in der Sonne und zu gerne hätten wir uns welche gekauft – aber die wären längst vergammelt, bis wir am Dienstag wieder zu Hause sind. Und es wurden auch reichlich andere Dienstleistungen angeboten: Bordsteinschwalben mit und ohne Wohnwagen begleiteten uns bis zur Straßengabelung kurz vor Skwierzyna (Schwerin). Denn kurz vor Schwerin trifft man auf die von Posen nach Küstrin (über Kriescht) führende Nationalstraße 24, und damit hatten wir wieder die richtige Strecke. Die Straße führt viele Kilometer schnurgeradeaus durch lichte Kiefernwälder, und wir trafen kaum ein anderes Auto. Eine kleine Baustelle an einer kleinen Brücke über das Flüsschen, das früher einmal Lieding hieß (die wird gerade erneuert), und dann kam der Abzweig nach Zielenzig. Dann sahen wir
neben der Straße die verlassenen Kasernen des ehemaligen Truppenübungsplatzes Wandern (heute Wedrzyn), kurz vor Sulecin (einst Zielenzig) den wegen Fronleichnam bunt geschmückten großen Stadtfriedhof. Wir mussten unwillkürlich an Opa Ernst Buchwald denken, der 1942 im Alter von 65 Jahren dienstverpflichtet wurde und dann mehr als 2 Jahre lang als Wachmann in Wandern Dienst schob. Wie er dort hin kam? Per Fahrrad aus Trebow. Jeden Tag rund 20 km hin und wieder 20 km zurück, Sommer und Winter. Es war eben totaler Krieg! Nach einer kurzen Runde durch die Stadt ging es weiter in Richtung Langenfeld. Selbst im Auto merkt man, dass Zielenzig im Tal der Postum liegt. Ein langer Anstieg der „Chaussee“ hinauf nach Langenfeld! Unsere Erinnerungen an die Fahrten mit dem Kutschwagen, wenn Opa uns vom Bahnhof in Zielenzig abholte. Opas Pferd Max hatte da bergauf ganz schön zu ziehen! Und wenn ich an Opas Radtouren nach Wandern denke, nach getaner Schichtarbeit… Am Ortsausgang von Langenfeld vermisste ich das alte Chausseewärterhaus (das hatte ich vielleicht übersehen), und dann ging es 6 km durch den Wald nach Trebow. Erinnerungen an die Märsche mit Opa im März/April 1945 wurden wieder wach, als wir damals alle paar Tage von Zielenzig nach Trebow liefen, um uns etwas Essbares aus dem Dorf zu holen. Und an die Rast mit dem Sowjetsoldaten im Straßengraben, an seine Prawda aus dem Stiefelschaft und den Machorka, Speck und Schwarzbrot, das wir teilten. Wie Einigkeit herrschte: „Gitler kaput“. An das kurz vorher verendete Pferd am Abzweig der „Lehmbahn“ nach Kriescht, aus dem wir ein großes Stück Fleisch herausschnitten. Und auch an das frühere Beerenpflücken, Blau- und Preiselbeeren, an Pilzsuche in der Seeheide. Opas geliebte „Fichten“. Er ging nie in den Wald, sondern immer „in die Fichten“, und die Fichten waren Kiefern. Er liebte den Wald. An ihm war bestimmt ein Förster verloren gegangen. Das war der Beruf seines Schwiegervaters – und der ganzen Schramm-Dynastie (sein Schwiegervater war zuletzt Förster in Trebow). Wir erreichten Trebow. Ein völlig verändertes Ortsbild, schon aus der Ferne. Am „Pasterweg“, wo Krügers Adolf wohnte, gibt es einige Gebäude, die auf einen größeren landwirtschaftlichen Betrieb schließen lassen.
Hartmut Tiesler
Bockenheim, den 19. August 2013
(Fortsetzung in HB 1/2014)