Kurzes von 0-18 – von Dr. Werner Ende
EMIL
Eigentlich wollte ich mit Harry zum See radeln, es sind die großen Ferien und der Juli ist heiß. Aber wir bleiben im Dorf, weil die Franzosen kommen sollen: der Bürgermeister hat es verkündet. In einer Versammlung hat er vorher noch ein Loblied auf Hitler gesungen, weil wir nun auch Frankreich besiegt haben. Vom Sieg soll auch unser Dorf etwas haben, nämlich kriegsgefangene Soldaten als Arbeitskräfte für die Bauern, die ihre Söhne und Helfer hergeben mussten. Auf einem Hof, der nicht mehr bewirtschaftet wird, ist schon in der großen Scheune ein Gefangenenlager vorbereitet worden. Der Hof liegt gegenüber vom Spritzenhaus und da ist eine Freifläche, wo genug Leute auf einem Haufen stehen können. Jetzt stehen aber erst mal nur die Bauern mit dem Bürgermeister da — und Harry und ich und noch einige Neugierige. Mein Vater interessiert das nicht, denn es sollen sowieso nur Bauern-Soldaten kommen. Einen Fleischer würde er schon gebrauchen können, seitdem auch unser Geselle Soldat geworden ist. Die Kriegsgefangenen kommen aus einem größeren Lager, das man in Sonnenburg in einer ehemaligen Munitionsfabrik eingerichtet hat, nur 7 km von unserem Dorf entfernt. Mehr als 1000 Gefangene sollen dort sein. Nun werden sie auf die einzelnen Dörfer verteilt. In Reih und Glied kommen sie ins Dorf marschiert in ihren bräunlichen Uniformen und Käppis auf den Köpfen. Und dann stehen die 30 Soldaten auf dem Platz und ihnen gegenüber fast gleich viele Bauern, die einen Soldaten haben wollen. Mir fällt auf, dass die Franzosen verhältnismäßig klein sind, mit einer Ausnahme und der spricht auch noch deutsch. Der Bürgermeister, zwei deutsche Wachsoldaten und dieser Dolmetscher besprechen nun, wie die Verteilung vor sich gehen soll. Und es dauert auch gar nicht lange, da sind die Gefangenen aufgeteilt. Sie dürfen sogar mit ihren Bauern gleich mitgehen und sehen wo sie ab morgen arbeiten sollen. Um 20 Uhr sollen sie im Lager sein, das ihnen noch gezeigt wird. Auf einmal ist der Platz fast leer, nur der Bürgermeister, die zwei Wachleute und der Dolmetscher stehen da. Und Harry und ich und ein paar Neugierige. Der deutschsprechende Franzose ist übrig geblieben, stellten sie fest. Niemand hat daran gedacht, auch ihn irgendwohin zuzuteilen. Er könne doch nicht den ganzen Tag im Lager sitzen und warten, bis seine Kameraden von der Arbeit kämen. Er wolle auch auf einem Hof arbeiten, aber der Bedarf war reichlich gedeckt. Er sei Koch und Konditor und könnte z.B. in einer Bäckerei helfen. Aber unseren Dorfbäcker gibt es nicht mehr, sein Geschäft ist seit Kriegsbeginn geschlossen. Der Bürgermeister ist ratlos, einen Koch bringt er bei keinem Bauern mehr unter. Mir tut der Franzose leid, wie ein begossener Pudel steht er da. Ich laufe die wenigen Meter nach Hause und erzähle die Misere meiner Mutter. Sie hat ein gutes Herz und wird meinen Vater überreden den Koch und Konditor zu nehmen. Mein Vater kommt mit zum Spritzenhaus und wir nehmen den Franzosen. Allerdings sagt mein Vater gleich, dass er als gefangener Soldat natürlich alles arbeiten muss, was man ihm aufträgt. Das sind auch Arbeiten im Schlachthaus, wo sowieso eine Kraft fehlt.
Emil, so heißt unser Franzose, ist 34 Jahre alt, groß mit blondem Igelschnitt. Sein Gesicht ist nicht schön durch eine etwas zu kurze, kleine Nase. Seine Hände erscheinen weich, die Finger sind lang und ganz sauber. Und er spricht deutsch wie wir — und wir erfahren auch warum. In Straßburg hatte seine Mutter, eine Deutsche, einen Franzosen geheiratet; zu Hause wurde nur deutsch gesprochen. Erst als die Eltern nach Paris zogen, hat er in der Schule französisch lernen müssen. Er ist ein verschlossener Mann, alles muss man aus ihm herausfragen. Immer macht er einen traurigen Eindruck. Und nicht nur den traurigen Blick hat er, nein, vielleicht auch einen von Hass erfüllten. Besonders in den ersten Wochen spüren wir diese Ablehnung, den Frust, dass Frankreich besiegt wurde und er gefangen ist. Früh um 7 Uhr kommt er aus dem Lager, zu allen Mahlzeiten sitzt er mit an unserem Tisch. Unsere Küche ist groß und viel Leben spielt sich dort ab, nicht nur Kochen und Essen. Am langen Küchentisch sitzen allerdings nicht mehr so viele wie noch vor dem Krieg. Meine Brüder sind Soldaten, auch der Geselle wurde eingezogen. Mit Willy, unserem Kutscher und Lisbeth, dem Hausmädchen sind wir oft nur sechs Personen; früher waren wir meistens neun oder zehn. Jeder hatte seinen festen Platz, nun auch Emil, am Tischende, gegenüber von meinem Vater. Nach dem Abendbrot ist Emil sofort ins Lager gegangen. Meine Mutter sah des Öfteren, dass er nach Verlassen der Küche hinter der geschlossenen Tür gelauscht hat: er war misstrauisch. Besonders, wenn meine Brüder da sind, Soldaten in deutscher Uniform, ist er hellhörig und glaubt, wir reden abfällig über Frankreich oder über ihn selbst. Seine Arbeit macht er widerwillig, aber er macht sie. Die zwei oder drei Tage im Schlachthaus sind wohl immer die schwersten für ihn. Die üblichen Haus- und Hofarbeiten packt er besser. Aber nach einigen Wochen wird er zugänglicher, spricht über sich und seine Kameraden und macht Arbeiten, die ihm gar nicht aufgetragen wurden. Er sieht ein schmutziges Fahrrad und putzt es, er geht in den Garten und beschäftigt sich dort. Der Anstoß für diesen langsamen Wandel ist scheinbar die Post. Die Gefangenen erhalten jetzt Briefe, dann Päckchen und sogar Pakete. Emil zeigt uns Bilder und wir erfahren, dass er Frau und zwei Töchter hat, 4 und 5 Jahre alt. Wenn er Fotos zeigt, kann er Tränen nicht zurückhalten. Emil hat Heimweh, unsägliches Heimweh. Nicht nur die Gefangenschaft erträgt er schlecht, sondern auch die Soldatenzeit war eine unerträgliche Härte für ihn. Er wurde herausgerissen aus einer wohl angenehmen und wunderbaren Arbeit. Im Regierungssitz in Paris war er 2. Chefkoch und Konditor, er hat Premiers und Diplomaten bekocht und bebacken. Meine Mutter bekam so langsam Mitleid mit ihm, und so kam sie eines Tages auf die Idee, ihn aus der Schlachthausarbeit plötzlich abzurufen. Sie sagte meinem Vater, in ihrem Laden sei laufend Kundschaft und sie käme mit dem Mittagessen nicht zeitgemäß zurecht. Emil sollte doch mal heute schnell weiterkochen. Schnell war er am Herd – und es war ein Signal für die Zukunft. Immer mal wieder und dann immer öfter musste Emil in der Küche einspringen. Und es dauerte gar nicht lange, da kam er mit Vorschlägen für Gerichte, kochte Dinge, die wir nicht kannten und zauberte Torten, die auf dem Dorf noch niemand gesehen hatte. An Zutaten fehlte es trotz des Krieges nicht. Auf dem Lande gab es noch alles, jedes Fleisch, einschließlich Wild, Butter, Eier, Sahne. Er konnte aus dem Vollen schöpfen und tat es. Mein Vater brauchte Emil aber auch und so kam es mitunter zum Streit zwischen meinen Eltern. Emil rührte das nicht sonderlich – im Gegenteil – er sah sich in einer umworbenen Position und nutzte das aus. Natürlich wurde er dadurch viel umgänglicher, freundlicher und es dauerte nicht lange, da schien er in die Familie integriert zu sein. Unterstützt wurde das alles durch eine sehr großzügige Gefangenenüberwachung; von Überwachung konnte mitunter gar nicht gesprochen werden. Nur ein Wachunteroffizier war im Dorf stationiert, ein älterer Soldat, der nicht mehr für die Front taugte. Der gemütliche Rudolf wohnte außerhalb des Lagers in einem leerstehenden, kleinen sogenannten Ausgedingerhaus. Aber seine Verpflegung hat er schnell anders organisiert, er kam täglich zu drei Mahlzeiten in unsere Küche. So saßen Emil und Rudolf oft nebeneinander, bald nicht mehr nur zu den Mahlzeiten, sondern auch am Abend beim Bier und Mühlespiel. Rudolf hat kaum noch das Lager abgeschlossen oder gezählt, ob alle zur Nacht da waren. An den Wochenenden sah man die Franzosen auf geliehenen Fahrrädern in andere Dörfer oder in die Stadt ins größere Franzosenlager fahren. Auch Emil benutzte eines unserer Räder und radelte hie und da nach Sonnenburg, in die 7 km entfernte kleine Stadt. Er erzählte uns immer von diesen Ausflügen und von einer Soldatin, die auch exzellent deutsch sprach und als Dolmetscherin eingesetzt war.
Emil wurde von Monat zu Monat so langsam ein Mitglied unserer Familie. Zu besonderen Anlässen, Geburtstagen, Ostern oder Weihnachten besprach er mit meiner Mutter das Essen und erfüllte manch geheimen Wunsch. So wollte meine Mutter z.B. einmal Eis gemacht haben und stellte Emil vor ein recht großes Problem. In solchen Fällen schrieb Emil erst einmal an seine Frau und ließ sich bestimmte Zutaten schicken. Das klappte tatsächlich. Bei Familienfeiern passierte es dann plötzlich, dass Emil vergaß nach Hause, also ins Lager zu gehen. Er blieb über Nacht in unserem Haus und schlief im Jungenzimmer auf dem Boden. Rudolf bemerkte das oft, aber nicht immer. Es war ja auch nicht so schlimm; wenn Rudolf zum Frühstück kam, saß Emil schon am Tisch. Weihnachten und Silvester war es selbstverständlich, dass Emil blieb. Solche Tage hat er — trotz seiner Koch- und Backvorbereitungen — schlecht toleriert. Besonders Weihnachten spürten wir alle, wie sehr ihn das Heimweh plagte. Im Herbst 1942, nach einem Wochenende, kam Emil am Montag früh nicht zu gewohnter Zeit, er kam überhaupt nicht. Rudolf kam zum Frühstück und mein Vater sagte ihm, Emil sei heute früh nicht gekommen. Der Wachsoldat hatte Emil am Sonntagabend nicht im Lager gesehen, was kein Grund zur Beunruhigung war. Er schlief ja sicherlich wieder mal bei uns. Da ein Fahrrad fehlte, hofften alle, Emil sei wohl bei der Dolmetscherin im Städtchen Sonnenburg hängen geblieben. Rudolf hat zum Telefon gegriffen und seinen Vorgesetzten im Zentrallager angerufen. Der hatte noch gar nicht bemerkt, dass auch seine Dolmetscherin fehlte. Erstmalig waren also zwei französische Gefangene geflohen. Sicherlich sind alle Dienststellen und Behörden schnell informiert worden, aber Emil tauchte auch am nächsten Tag nicht auf. Ist ihm oder den beiden wirklich gelungen, quer durch ganz Deutschland zu kommen und Frankreich zu erreichen?
Nach wenigen Tagen erhielten meine Eltern eine Ansichtskarte aus Saarbrücken. Emil bedankte sich für seine Zeit bei uns in Ögnitz; sein Heimweh habe ihm keine andere Wahl gelassen. In wenigen Minuten würde er französischen Boden unter den Füßen haben. Und wir möchten ihm verzeihen, dass er einen Anzug meines großen Bruders habe mitgehen lassen.
Rudolf ist nicht versetzt oder bestraft worden. Vielleicht ist es in allen Franzosenlagern so großzügig zugegangen. Bis Kriegsende ist Rudolf unser Gast geblieben. Er hat nach Emils Flucht sogar Ersatz beschaffen können. Dieser Ersatz war für meinen Vater ein richtiger Gewinn. Peter war nämlich von Beruf Fleischer – immer fröhlich und fleißig. Aber meine Mutter war nun wieder allein die Chefin in der Küche. Von Emil haben wir nie wieder etwas gehört.
Das zweite Kapitel aus dem Büchlein von Dr. Werner Ende.