Költschen unterm Hakenkreuz (Teil 1)
Unsere letzten Jahre in Költschen bis zur Flucht im Juni 1945
(Volksschule – Sondersiegesmeldungen im Radio – Altstoffe fürs WHW – Flüchtlinge – Kirche)
von Arno Deffke (77), 01609 Gröditz
Vorbemerkung
Die Neumark (Nm) – das sind doch nicht nur Sonnenburg mit den Johannitern und das Moritzfest, Zielenzig mit der wald- und seenreichen Umgebung, Wandern mit dem Truppenübungsplatz , dem Oder-Warthe-Bogen/Ostwall, Lagow, dem „wunderschönen Städtchen“ ( OHB 2/13 S.41 Gedicht von Renate Uhlig) usw.
Natürlich ist das alles wahr und richtig. Es gäbe noch mehr Beispiele aus dem OHB zu nennen, sondern – da ist doch auch noch das Warthebruch mit den Kolonistendörfern zu nennen, die mit dem blühenden kirchlichen Leben, als ein Ergebnis der Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine, bereits seit 1802, das dann 1945 mit dem Kriegsende und der Vertreibung der deutschen Bevölkerung abriss.
Wenn ich mir zum Ziel gesetzt habe, Költschen aus meiner Sicht zu schildern, so soll aber auch die Arbeit der Brüdergemeine nicht unerwähnt bleiben, zumal ja auch Költschen davon betroffen war. Meine Eltern hatten regen Kontakt mit ihr und unterstützten die Arbeit. Auch wir drei Kinder, Reinhard, Wilfried und Arno, sind auf diesem geistlichen Boden aufgewachsen. Noch heute bestehen Verbindungen zu den noch lebenden Gemeindemitgliedern, den sogenannten „Geschwistern“ weit zerstreut in der Bundesrepublik.
Hauptteil
Thema: Unsere letzten Jahre in Költschen bis zur Flucht am Montag, d. 25. Juni 1945.
Kürzlich las ich im letzten Heimatbrief (OHB) die Aufforderung der Schriftleitung, dass sich die Mitglieder des Oststernberger Heimatkreises bei der Herausgabe des Heimatbriefes aktiv beteiligen können. Da dachte ich mir, dass ich zwar vor längerer Zeit bereits über unsere Flucht berichtet habe, (10/02), aber dass es sich lohnen würde, noch einmal den letzten Abschnitt von etwa 3–4 Jahren ( ca. 1942–1945) unter die Lupe zu nehmen, den wir in der Heimat, also in Hitler-Deutschland, verlebten. Dazu nun einige Beispiele:
Schule
In unserem kleinen Dorf im Warthebruch hatten wir zwar eine „Schule“, aber das war ein Haus mit wenigen Räumen. Zwei Klassen wurden da von einem Lehrer in einem Zimmer gleichzeitig unterrichtet. Die großen Kinder saßen hinten, die Kleinen vorn. Ich gehörte zu der 2. Gruppe. Neben der Tafel, ich sehe es noch wie heute, hing eine große Landkarte mit der Überschrift: „Großdeutschland als Lebensraum.“ Zu sehen war der Raum weit im Osten.
So sind wir erzogen worden. Das war das Ziel des NS. Das sollten wir uns einprägen. Es war wie schleichendes Gift, das uns Tag für Tag einfiltriert wurde. Untermauert wurde diese Psychologie durch den täglichen Beginn des Unterrichts mit Hinweis auf die mächtigen Leute des Nationalsozialismus durch Heben des rechten Armes und des Rufes: „Heil Hitler.“ Das zweite Wort wurde von uns mit der Zeit zu: „Litler“ gemacht. (Die Ostpreußen sagten: „Litlerchen!“)
WHW (Winterhilfswerk)
Es gab auch schon damals eine außerschulische „Betätigung.“ Mit dem Lied: „Lumpen, Knochen, Eisen und Papier sammeln wir für…“ usw. zogen wir nachmittags durchs Dorf, um wichtige Rohstoffe, natürlich für die Kriegswirtschaft! heranzukarren.
Für den Kriegswinter wurden die Frauen aufgerufen, warme Socken für die Soldaten zu stricken. Solche Aufrufe sahen wir zur Genüge in Form von Plakaten hängen.
Besonders gruselig fand ich immer das Papier mit der Aufschrift: „Pst! Feind hört mit!“
Bei diesem Plakat ging es ja um das verbotene Abhören von „Feinsendern“ im Radio, wie z.B. dem Londoner Rundfunk und um das Weitererzählen von staatsfeindlichen Witzen, worauf es eine hohe Strafe gab. Die Gestapo (geheime Staatspolizei) konnte ja überall lauern!
Pimpfe
Ein Pimpf ist an sich ein kleiner Junge. Beim NS war es aber der jüngste Angehörige ihrer Jugendbewegung, also der Staatsjugend. Dazu gehörten die 10–14-jährigen Jungen. Doch dazu gehörte ich ja mit 6-8 Jahren noch nicht. Die nächste Jugendgruppe waren die 15–18-jährigen Jungen. Die machten Eindruck auf die Kleinen in ihren Uniformen. Außerdem begeisterten sie mit ihren Fanfarenzügen und Pauken. Als einmal in Költschen eine Gruppe aus dem Nachbarort auf dem Dorfplatz erschien und ein Stück spielten, hörte es sich sehr gut an. Wahrscheinlich kommt meine Begeisterung für Blechblasmusik im späteren Leben von da her. Ja, der NS wusste Gutes und Ansprechendes für sich und seine Ziele, wenn auch verbrecherischen Ziele, einzusetzen. Er wusste sogar ein ganzes Volk zu begeistern. Er riss fast alle mit, ohne dass die Menschen den wahren Hintergrund ihrer Politik erkannten!
Flüchtlingstreck
Ein Treck ist ein Zug von Flüchtenden mit Fuhrwerken. – Ich sah einen solchen an einem grauen, kalten Wintermorgen im Jahre 1944 durch unseren Ort ziehen. Es war ein gespenstiger Anblick! Woher wird er gekommen sein? Es kann sogar aus Ostpreußen gewesen sein. Es war alles so still. – Aus einem der Pferdewagen mit Plane ragte ein kleiner Schornstein heraus, aus dem weißer Rauch kräuselte. Nach langer, gefährlicher Fahrt mussten die Menschen sicher sehr frieren. Es schauerte mich und ich lief nach Hause und berichtete vom Gesehenen. Diese Trecks waren das Ergebnis davon, dass die Russen immer näher an Deutschland herankamen, weil die Wehrmacht geschlagen war.
Franzosen als Kriegsgefangene
Als die Deutschen Frankreich eingenommen hatten und es sich haben in Paris gut gehen lassen, kamen als Folge davon auch einige Franzosen zu uns. Ich sah eine Gruppe Männer bei einem unserer Bauern auf dem Hof, abgesperrt hinter Stacheldraht. Es wurde mir richtig unheimlich als kleinen Jungen. Ich konnte mir gar nicht denken, dass der mir bekannte, sonst so freundliche, christliche Bauer, so etwas tun konnte!
RAD und Maidenlager
Interessantes gab es zu sehen, wenn die jungen Männer des Reichsarbeitsdienstes in Reih und Glied mit geschultertem blankem Spaten zur Arbeit marschierten und einem zackigen Lied auf den Lippen. Sie kamen von ihrem Barackenlager unweit unseres Dorfes. Es waren alles Männer so zwischen 18–25 Jahren. Ihre Aufgabe war, nützliche Arbeit in der Umgebung für die Bevölkerung, aber auch Erdarbeiten zu Kriegszwecken zu verrichten. In Wirklichkeit war das Ganze eine Vorbereitung zum Wehrdienst.
Nach Kriegsbeginn wurde das Lager aufgelöst und mit weiblichem Arbeitsdienst belegt. Die Aufgaben der „Maiden“, die im Alter von 18 Jahren waren, gingen in Richtung Haus- und Wirtschaftshilfe beim Bauern usw. Sie wurden natürlich streng nationalsozialistisch geschult.
Als dann der Krieg schon deutlich verloren war und sich Vieles in Auflösung befand, wurde Anfang 1945 auch das Barackenlager des RAD aufgelöst, besser gesagt, geplündert.
Es sprach sich schnell im Dorf herum, dass das Lager unbewacht ist und offen steht.
So rannten auch wir drei Brüder los und sahen schon die durcheinandergewühlten Sachen in den Räumen. In einer großen Kiste waren z.B. Arbeitsschuhe durcheinander geworfen und jeder versuchte, ein passendes Paar heraus zufinden. Es gab auch Regale voller Dosen und Büchsen. Vieles lag unsortiert auf der Erde. Gurken, Grünkohl, Tomaten – alles war da.
Es waren ja im Ort alle Läden geschlossen und an eine geordnete Versorgung war in nächster Zeit nicht zu denken. Alles lebte in Angst und Sorge. Das Stehlen war ganz verständlich. Ganz zu schweigen unterwegs bei der Flucht. Es ging kaum anders.
Einquartierung
Wahrscheinlich auf der Durchreise in Richtung Westen war eines Tages plötzlich ein fremder Soldat der Wehrmacht bei uns eingetroffen, der am nächsten Tag weiterreisen wollte. Er war verwundet. Sein rechter Arm trug einen blutverschmierten Verband. Auf meine Frage, wie es zu dieser Verwundung kam, antwortete er: „Es war an der Front. Häuserkämpfe. In einer Straße stand mir plötzlich hinten ein Russe gegenüber. Er hatte sein Gewehr schneller hoch und schoss mir in den Arm.“
Da war nichts mit: „Jeder Schuss ein Russ.“ Mit solchen gefügigen Reimen warb der NS willige Nachfolger!
Klaus und Peter aus Hamburg
Da waren eines Tages zwei Jungen in unserem Alter mit ihrer Mutter in Költschen eingetroffen: Evakuiert! Für uns willkommen. Ein paar neue Spielkameraden!
Hamburg war ja das Ziel von anglo-amerikanischen Bombern. Um dem sicheren Tod zu entkommen, verfrachtete man Hamburger Bürger in sichere deutsche Gebiete. So auch zu uns.Als ich diese Geschichte in meinem vorigen Bericht über die Flucht aus Költschen im OHB brachte, meldete sich daraufhin jemand, der diese Jungen kannte und schickte mir ein Foto von ihnen. Es waren die richtigen Kinder mit der Mutter.
(Das war ein guter Nebeneffekt von der Arbeit des Oststernberger Heimatbriefes (OHB) !).
(Fortsetzung in HB 1/2014)