Oststernberger Heimatbrief
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Kurzes von 0-18 – von Dr. Werner Ende

Aus Heimatbrief-Ausgabe 2/2013, Seite 19, vom 20.08.2013 Dr. Werner Ende

SABINE.
„Kennen Sie die Neumark?” Wenn man jeman­den diese Frage stellt, kommt meistens nur ein Achselzucken als Antwort. Ein junger Mensch kann es auch nicht wissen, denn er müsste schon die Landkarte des Deutschen Reiches vor dem Zweiten Weltkrieg vor Augen haben. Aber so meine Generation, glaube ich zumindest, sollte schon davon gehört haben. Habt ihr denn im Geschichtsunterricht nicht gelernt, dass Fried­rich der Große im Siebenjährigen Krieg 1759 in Kunersdorf so erbärmlich die Schlacht verloren hat? Kunersdorf und Zorndorf, große Schlacht­felder in der Mark Brandenburg, im östlichen Teil der Mark? Das ist die Neumark. Die west­liche Grenze Deutschlands kennt jeder; da fließt der Rhein, da liegen große Städte, wie Trier, Aachen oder Saarbrücken. Aber im Osten? Die Oder ist noch ein Begriff, vielleicht auch die Stadt Frankfurt. Aber wer weiß schon, dass ein von Osten kommender Fluss, die Warthe, bei Küstrin in die Oder fließt. Küstrin ist eine nicht kleine Festungsstadt. Hier hat Friedrich der Große als junger Leutnant im Knast gesessen, weil er seinem despotischen Vater entfliehen wollte. Heute hört Deutschland hier auf, aber nicht in den Jahren bis 1945. Da gab es auch Deutschland jenseits der Oder, oben im Norden Pommern, unten im Süden Schlesien und zwischen den beiden in der Mitte, da lag die Neu­mark. Gen Osten reichte sie nur 40–50 km ins Land, dann kam also wirklich Polen. Grenzstäd­te zu Polen kennt heute niemand mehr. Wer weiß schon, dass da die Stadt Schwerin lag; es reicht, wenn man das Schwerin in Mecklenburg kennt. Die ganze Region ist auch uninteressant, hat nicht Schlösser und Burgen zu bieten, der Boden ist sandig und wenig ertragreich. Und doch ist die Landschaft schön: große Wälder im hügeligen Gelände, dazwischen immer wieder kleine und große Seen. Es gibt keine Industrie, die Neumark wird von der Landwirtschaft be­herrscht. So wohnen die Menschen also zum größten Teil in Dörfern, in einstöckigen Häu­sern.
Eines dieser Dörfer heißt Ögnitz. Davon soll hier erzählt werden und von meiner Familie, deren Vorfahren schon mehr als 100 Jahre hier oder in den Nachbardörfern lebten. Unser Dorf ist nicht groß, hat etwas über 600 Einwohner, eine Kirche, eine 2-klassige Schule, aber keine befestigten Straßen. Mitten im Wald gelegen, scheint es von der Außenwelt fast abgeschnit­ten. Die von Küstrin durch die Neumark fah­rende Kleinbahn berührt das Dorf nicht; das Nachbardorf ist viel größer und hat deshalb ei­nen Bahnhof bekommen. Aber irgendwie wur­den die 4 km immer überwunden. Die wichtigs­ten Verkehrsmittel waren das Fahrrad, Pferd und Wagen. Ein Pferd hatte jedes Haus, denn die Bewohner waren Landwirte. 20-titel-sabine002Großbauern gab es vier, der Rest begnügte sich mit kleinen Flächen. Reichtümer konnte kaum jemand an­häufen. Erwähnen muss ich natürlich die Ver­sorgungseinrichtungen: 2 Kneipen, 1 Bäcker, die Post und das Kaufhaus Ende; natürlich war Kaufhaus tüchtig hochgestapelt, aber auf den Ansichtskarten vom Dorf stand das so. Meine Mutter hatte einen kleinen Kolonialwarenladen geerbt und den im Angebot ein bisschen erwei­tert. Da gab es dann eben auch Kittelschürzen, Pantoffeln, Borte, zu Weihnachten bunte Ku­geln und halt nicht nur Mehl, Zucker, Salz und Heringe aus dem Fass. Aber in den 20er-Jahren musste das „Kaufhaus” wieder zurück zum Ko­lonialwarenladen. Meine Mutter hatte 1919 ei­nen Fleischermeister geheiratet und der brauch­te Platz, obwohl er angebaut hatte. Meine Mut­ter war da schon ein bisschen traurig; nun stand auf den Ansichtskarten: Kolonialwaren und Schlächterei Emil Ende. Es war sicherlich mü­hevoll in ihren ersten Ehejahren sich so langsam nach oben zu rappeln. Und das in den Jahren der Inflation. Aber ein Schlachthaus war ge­schaffen worden, ein recht passabler Fleischer­laden und ein Kühlhaus. Und noch etwas hatte man gepackt: 2 Söhne. Der Große war schon 10, der andere 6. Der größte Wunsch meiner Mutter aber war: ein Mädchen sollte her. Diese Sache sollte ganz zielgerichtet in Angriff ge­nommen werden, mit Hilfe der Mondkonstella­tion. In irgendeinem Astrologiebuch – meine Mutter hatte haufenweise davon – stand ge­schrieben, dass eine Zeugung bei Vollmond und beißender Kälte immer Mädchen zustande brächte. Ende Januar 1929 konnten Mond und Kälte die entsprechende Voraussetzung bieten. Die Angelegenheit nahm ihren Lauf, und wie sich herausstellte mit Erfolg. Dass ein Mädchen im Mutterleib heranwuchs, war selbstverständ­lich. Man hatte ja schon einen Namen: Sabine sollte sie heißen. Natürlich wurde Stillschwei­gen vereinbart. Vor allem aber Walter und Paul, meine Brüder, sollten absolut nichts erfahren. Am Anfang war das ja auch gar nicht schwer. Die ersten kleinen Probleme kamen im Spät­sommer 1929, als der Leibesumfang der Mutter deutlich zunahm. Aufgefallen ist es allerdings nur Walter, dem Älteren. Auf seine Nachfrage war die Erklärung der Mutter aber ausgespro­chen dumm. Die Rede war von Stuhlverstop­fung und verhaltenen Blähungen und so derglei­chen mehr. Also eine Art Krankheit. Walter hat dies geglaubt. Noch einmal hat er Ende Sep­tember nachgefragt, und zwar warum uns die Schulzen so oft besucht. Frau Schulz war die Hebamme des Dorfes. Auch das wurde mit Krankheit erklärt. So langsam wurden nun die Probleme größer, dem Walter und Paul gegen über. Es war Oktober und der errechnete Ter­min war der 22. Auf keinen Fall sollten die zwei Jungs irgendetwas von der Geburt mitbe­kommen. Zu allem Malheur war Herbst und die Störche alle fort. Ein ganz wichtiger Erklä­rungsfaktor fiel also aus. Es hatten sich quasi zwei Probleme aufgetan: 1. die Geburt als sol­ches zu verheimlichen und 2. die Erklärung, woher Sabine gekommen ist. Am 20. Oktober hatten meine Eltern, Gott sei Dank, eine Lösung für Problem Nr. 1 gefunden: Walter und Paul mussten aus dem Haus und zwar tagsüber. In der Nacht schliefen sie fest in einem ausgebau­ten Kinderzimmer auf dem Boden.
Der Vormittag war auch gelöst, da waren sie ja in der Schule. Aber der Nachmittag musste überbrückt werden. Wir hatten, wie alle Dorf­bewohner, natürlich auch Pferd und Wagen. Und wir hatten sogar einen Willy, einen treuen Kerl für alle möglichen Arbeiten in Haus, Hof und Acker. Ihm wurde die Nachmittagsverant­wortung zugeschoben. Mit angespanntem Pferd vor der Kutsche musste er auf dem Hof warten, bis meine Brüder aus der Schule kamen. Dann schnelles Essen, rauf auf die Kutsche und ab ging die Fahrt – den ganzen Tag durch Wälder und Flure, bis es dunkel war. Die erste Kutsch­partie startete schon am 20. Oktober, so mehr aus Vorsichtsgründen. Aber am 21. wurde schon Ernst aus der ganzen Sache. Die Schulzen war den ganzen Tag im Haus, weil meine Mut­ter ein verdächtiges Ziehen im Bauch verspürte. Mittags schnell in die Kutsche und ab ging die Fahrt. Gegen 20 Uhr hat sich Willy mit den Jungs nach Hause gewagt. Aber Sabine war noch nicht da. Am 22. früh hat mein Bruder Paul gefragt, warum die Schulzen bei uns über­nachtet hätte und nicht die paar Häuser weiter, wo sie ihre Wohnung hat. Meine Mutter meinte, das hänge mit den starken Abführmaßnahmen zusammen, die jetzt die Bauchschmerzen end­lich lösen sollten. Die Geburt kam scheinbar in Gang. Die zugespitzte Situation brachte Willy auf den Plan. Zu allem Unglück kam Walter eine Stunde früher als Paul aus der Schule. Er muss­te sofort in die Kutsche und wurde bis Pauls Schulschluss schon mal im Dorf eine Stunde im Karree durch die Straßen gefahren. Nach der Rundfahrt hat Willy gleich vor der Schule gehalten und Paul dann aufgeladen. Aber das war alles umsonst; als die Kutsche abends gegen 1/4 8 Uhr auf den Hof fuhr, war Sabine eben nicht geboren. Mein Vater wurde zum Lehrer geschickt, damit der erfuhr, warum Schularbeiten zurzeit nicht möglich wären. Man wusste ja nicht, wie oft die Landpartien noch erforderlich wurden. Er hat meinem Vater übri­gens gesagt, dass die Kutschenidee ziemlich blödsinnig sei. Dorfkinder haben x-mal gese­hen, wie Ferkel und Kälber auf die Welt kämen und da würden sie selber auf Menschen schlie­ßen. Das stimmt sicherlich nur bedingt. Für derartige Aufklärungsideen war die damalige Zeit bestimmt noch nicht reif. Viel erstaunlicher ist, dass die 2 Jungs nicht mal gefragt haben, was die dauernde Rumfahrerei mit Pferd und Wagen auf sich hätte. Vielleicht haben sie auch gefragt; was Willy ihnen erzählt hat, weiß nie­mand.
Nun kam die Nacht zum 23. Oktober, die Schul­zen im Haus und Weh und Klagen im Schlaf­zimmer. Die Jungs schliefen wirklich fest und bekamen – angeblich – nichts mit. Die Schulzen war die ganze Nacht auf den Beinen. Schweiß­gebadet hat sie am Morgen des 23. Oktober das Handtuch geworfen. Unsere Familie gehörte im Dorf zu den drei Auserwählten, die ein Telefon besaßen. Gegen 6 Uhr früh hat sie die Kurbel des an der Wand hängenden Apparates gedreht. Der Doktor und Geburtshelfer aus der nahege­legenen Kleinstadt sollte zu Hilfe kommen. Er kam, auch mit Pferd und Wagen; meine Brüder waren gerade weg zur Schule. „Ja, ja”, meinte der Doktor, „Mädchen putzen sich erst, das dauert immer etwas länger.” Aber er war tat­sächlich ein guter Geburtshelfer; 10.45 Uhr konnte das Neugeborene entwickelt werden. Und das vor Schulschluss, meine Eltern und Willy waren erleichtert. Die Anwesenheit des Doktors, der ja wegen der immer schwerer werdenden Krankheit der Mutter gerufen worden war, bot sich nun als Lösungskatalysator für das 2. Problem an; woher ist das Kind plötzlich gekommen. Man hat meinen Brüdern tatsäch­lich erzählt, dass der Doktor auf seinem Weg nach Ögnitz ein Kind im Graben liegen sah; durch das Schreien des Kindes habe das Pferd sogar gescheut. Ein Findelkind also. Der Doktor sei der Ansicht, dass es bei Endes sicherlich bleiben dürfe und dort mit 2 Jungs aufwachsen könnte. So habe er es mitgebracht. Die Mutter sei nun von ihrer Krankheit erlöst und aus Dankbarkeit wolle sie das Kind schon behalten.
So alles geschehen am 23. Oktober 1929. Ein ganz kleines Problem gab es am Schluss doch noch,” aber das weiß jeder: Sabine heißt ja Wer­ner.

Das erste Kapitel aus dem Büchlein von Werner Ende.

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