Titelbildgeschichte – Der kleine Wichtel
oder
Zeit füreinander ist doch das Wichtigste!
(Verfasser unbekannt)
Der kleine Wichtel war schon alt, sehr alt. Viele, viele Weihnachten hatte er schon erlebt. Früher, als er noch jung gewesen, war, war er zur Adventszeit oft in das Dorf gegangen und hatte die Menschen mit kleinen Geschenken überrascht. Nun war er dort schon lange nicht mehr gewesen. Aber in diesem Jahr wollte der kleine Wichtel endlich wieder einmal die Menschen besuchen. So machte er sich auf den Weg. Das Dorf hatte sich inzwischen in eine prächtige Stadt verwandelt. Er setzte sich vor ein großes Kaufhaus und beobachtete das rege Treiben der vorbei eilenden Menschen. Sie alle suchten Geschenke für ihre Familien und Freunde. Die meisten kamen wohl gerade von der Arbeit und hetzten eilig durch die Straßen. Die Gedanken des kleinen Wichtels wanderten zurück zu jener Zeit, wo es noch keine elektrischen Weihnachtsbeleuchtungen gegeben hatte. Waren die Menschen damals auch schon schwer bepackt mit verbissenen Gesichtern durch die Straßen geeilt?
Nun, die Zeiten ändern sich, dachte der kleine Wichtel und schlich unbemerkt aus der überfüllten Stadt hinaus, zu dem alten Dorf, wo er früher immer gerne gewesen war. Er hatte genug von hetzenden Menschen, die anscheinend keine Zeit hatten. War denn die Adventszeit nicht eine ruhige und besinnliche Zeit? Schließlich kam er an das alte Haus, in dem schon viele Menschen gewohnt hatten. Früher war dieses Haus sein Lieblingshaus gewesen – früher, als es noch kein elektrisches Licht gegeben hatte und die Menschen ihre Häuser noch mit Kerzen erleuchteten. Zentralheizungen hatte es auch nicht gegeben. Die Menschen mussten Holz ins Haus schaffen, um es warm zu halten.
Das alte Haus weckte Erinnerungen an früher, und er sah sich selbst, den kleinen Wichtel…
… wie er durch das Fenster in die Küche schaut. Die Mutter und die Großmutter backen Plätzchen.
Der Duft strömt durch das ganze Haus und dringt sogar zu ihm nach draußen. Der Vater und der Großvater machen sich auf, um im Wald einen Weihnachtsbaum zu schlagen und ihn nach Hause zu schaffen. Es ist kalt. Beim Heimkommen freuen sie sich auf den warmen Tee, den die Mutter gekocht hat. Dann sitzt die Familie zusammen, um gemeinsam zu singen, und der Großvater erzählt den Kindern spannende Geschichten.
Die Kinder können es kaum erwarten, bis die Großmutter auf den Speicher steigt, um die Weihnachtskiste zu holen. Denn das tut sie immer erst kurz vor Weihnachten, und dann ist es ja bald soweit! In dieser Kiste gibt es viel zu entdecken: Sterne aus Stroh, duftende Kerzen, Engel mit goldenem Haar und viele andere kostbare Dinge…
Aber das war nun schon lange her und es war eine ganz andere Zeit gewesen — eine Zeit des gemeinsamen Tuns, eine Zeit miteinander, eine Zeit füreinander. Von seinen Erinnerungen noch ganz benommen, sah der kleine Wichtel durch das Fenster des alten Hauses. Und tatsächlich! Er entdeckte eine Familie, wie sie gemeinsam um den Adventskranz saß und der Vater den Kindern eine Geschichte vorlas. Nanu, dachte der kleine Wichtel, eine Familie, die nicht durch die Straßen hetzt!
Menschen, die Zeit miteinander verbringen und die ihr Haus mit Kerzen erleuchten! Ja, heute ist eine andere Zeit, aber auch heute finden Menschen doch füreinander Zeit. Dem kleinen Wichtel wurde es ganz warm ums Herz und er schlich sich leise und unbemerkt fort. Er wollte doch einmal schauen, ob sich nicht noch ein schönes kleines Geschenk fände…
Adventsgeschichte, ausgewählt von Otto-Karl Barsch
(früher Waldowstrenk)
Bildedition: H. Habermann, Bildherkunft:
„Altes Bauernhaus im Schnee“, Aufn. Winkelmann,
Ost-Sternberger Heimat-Kalender 1935, S. 121 und Heimatkalender für den Kreis Ost-Sternberg auf das Jahr 1929,
S. 26 „Dezember“ (2)