Zu Fuß nach Berlin
Fortsetzung von Heft 1/2012, Seite 16, „Kriescht heißt heute Krzeszyce“
Am 23. Juni 1945 gegen Abend waren wir unter polnischer Bewachung über die Oder nach Küstrin-Kietz gebracht worden. Nachdem man die Bemerkung „Jetzt seid ihr in euer Deutschland“ an uns losgelassen hatte, verließ uns die polnische Begleitung. Wir konnten mit dieser Aussage überhaupt nichts anfangen, denn wer wusste schon zu diesem Zeitpunkt, dass die Oder-Neiße-Linie ab jetzt deutsch-polnische Grenze geworden war.
Für die Übernachtung stand für die meisten unserer ehemaligen Krieschter eine große Wiese zur Verfügung, was weiter nicht schlimm war bei diesem sehr warmen Sommerwetter. Wir hatten das Glück in einem Haus übernachten zu können, da wir ziemlich vorne beim Trupp waren.
Meine Mutter und ich und Frau Ehlert mit ihrer Tochter Erika schliefen zusammen in einem Zimmer. So kam es zwischen Frau Ehlert und meiner Mutter zu der Abmachung, dass wir des Morgens ganz früh, ehe die anderen alle unterwegs sind, losziehen wollten. So gingen wir also mit unserem geringen Gepäck los mit einem kleinen Handwagen, wo gerade unsere Wäschetruhe draufpasste.
Wir tippelten also munter drauflos, was blieb uns anderes übrig, auf der Reichsstraße eins in Richtung Berlin (Reichsstraße 1: 1939 von Aachen nach Königsberg in Ostpreußen, 1392 km lang). Unser Ziel war zunächst Berlin-Lichtenberg, hier hatten wir Verwandte aus dem Warthebruch.
So kamen wir durch Manschnow, und nach etwa 10 Kilometer ging es immer leicht bergan und erreichten Seelow. Am Anfang des Dorfes standen viele Häuser leer. Wir wollten aber von dem wenigen, was wir hatten, etwas kochen, und so suchten wir nach einer intakten Küche in einer dieser Häuser. Beim Kochen hatten wir viel zu tun, um die vielen Fliegen wegzujagen. So haben wir draußen einen Platz zum Essen gesucht. Aber auch hier mussten wir nach jedem Bissen unser Essen wegen der vielen Fliegen abdecken. – Erst viel später bekamen wir die Erklärung: Hier auf den Seelower Höhen hatte unsere letzte Front unter schweren Verlusten auf beiden Seiten existiert. Es hatte damals, Mitte April, einige Zeit gedauert, bis alle Toten bestattet waren; dadurch das viele Ungeziefer. –
In der Nähe unseres Rastplatzes waren in den Häusern viele Russen untergebracht, was uns nicht weiter störte, waren wir das doch gewohnt. Plötzlich kam ein jüngerer Russe auf uns zugelaufen und ließ neben uns ein Brot fallen. Der Russe rannte aber schnell wieder zurück, er wollte wohl unbeobachtet bleiben.
So ging es dann mit unserem Handwagen weiter durch das noch sehr schwach besiedelte Dorf. Es waren wohl nach den schweren Kämpfen noch nicht alle Bewohner nach Seelow zurückgekehrt.
Bis Müncheberg waren es noch etwa 20 Kilometer, was wir noch bis zum Abend erreichen wollten, nachdem wir Diedersdorf und Jahnsfelde passiert hatten. Nach angestrengtem Fußmarsch erreichten wir die ersten Häuser von Müncheberg. Es wurde langsam schummerig, und wir brauchten bald eine Übernachtung. Nachdem die Stadt fast zu Ende ging, kam auf der rechten Seite eine Laubenkolonie. Es wurde nach einer Übernachtung gefragt, und wir durften bleiben. Zu unserer Verwunderung wurden wir überaus freundlich aufgenommen und mit einem tollen Abendessen bewirtet.
Im Hause lebte eine ältere alleinstehende Frau, die eine jüngere Frau aus Holland auf Besuch hatte. Erika hatte sich unterwegs eine Verletzung am Unterarm zugezogen. Die hier bestens versorgt wurde, und im weiteren Verlauf heilte die Wunde schnell ab.
In dieser Nacht schliefen wir alle sehr gut und brauchten zum Aufwachen schon etwas Mühe. Wir bekamen ein reichhaltiges Frühstück und konnten so nach einer herzlichen Verabschiedung ganz getrost mit unserem Handwagen mit der Wäschetruhe obendrauf weiterziehen.
An diesem Tage schafften wir fast 40 Kilometer. Wir tippelten durch Herzfelde und Rüdersdorf, überquerten die Autobahn vom Berliner Ring, kamen an der Pferderennstrecke Hoppegarten vorbei und erreichten ziemlich erschöpft Berlin- Mahlsdorf. Es war schon ziemlich dunkel, aber wir fanden ein gänzlich leerstehendes Haus für unser Schlafquartier. An den Türen fehlten überall die Schlüssel, und so stellten wir den Handwagen von innen an unsere Schlafzimmertür. Möbel gab es auch nicht. Wir schliefen also auf dem nackten Fußboden, zugedeckt mit unseren Mänteln oder was wir sonst noch hatten. Am nächsten Morgen taten uns alle Knochen weh, denn der Fußboden war kein weiches Bett.
So waren wir also schon sehr früh wieder auf den Beinen. Jetzt begann für uns die Schwierigkeit: Wie kommen wir nach Lichtenberg zur Familie Grube, was zunächst unser Ziel war. Aber es war einfacher, als wir annahmen. Wir sollten nur auf der Eins bleiben, so würden wir nach etwa 30 Kilometer Lichtenberg erreichen. Dort angekommen, fragten wir nach der Weitlingstraße, die ganz in der Nähe vom S-Bahnhof Lichtenberg liegen musste, was ich von früheren Besuchen in Erinnerung hatte.
Ja, und dann standen wir vor der Haustür und drückten auf die Klingel. Wir mussten mehrere Male drücken, bis einige Stockwerke höher ein Fenster geöffnet wurde mit dem Rufen, wer da wohl sein könnte. Tante Grube erkannte uns sofort, weil sie mit uns gerechnet hatte, wie sie es später mitteilte, dass die Polen alle Deutschen jenseits der Oder ausweisen wollten.
Nach der leidenschaftlichen Begrüßung brachten wir alle unsere Sachen in ihre Wohnung und ließen den Handwagen unten auf dem Hof stehen. Schon seit einigen Jahren wohnten die Grubes schon in Berlin mit den Kindern. Der Mann war vom Militär noch nicht zurückgekehrt und Tante Grube vermutete, dass er noch in russischer Gefangenschaft war. Sehr viel später erfuhren wir von seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft, und das Ehepaar konnte noch ihre Goldene Hochzeit feiern.
Nun waren wir also in Berlin. Aber wie sollte es weitergehen. Für Frau Ehlert mit ihrer Tochter Erika war die Sache klar: Sie wollten in den Westen nach Velbert im Rheinland, wo eine Schwester der Frau Ehlert wohnte und dort verheiratet war. So gingen also Frau Ehlert mit meiner Mutter zum Einwohnermeldeamt in Berlin, um Auskunft einzuholen. – Hier hieß es: Auf keinen Fall könnten wir in Berlin bleiben, dafür gäbe es keine Möglichkeit und schon gar keine Wohnung. So bekam Frau Ehlert und auch ihre Tochter je eine Reisebescheinigung nach Velbert im Rheinland. Meine Mutter bekam ebenfalls für uns eine solche Bescheinigung mit einem Kind (ich war knapp 14 Jahre alt) nach Velbert, ihrem zuständigen Wohnort, obwohl das überhaupt nicht stimmte. Die Berliner wollten uns einfach loswerden. Aber was auf unserer Bescheinigung für die Zukunft besonders wichtig war: Die Bahnfahrt war unentgeltlich.
So blieben wir einige Tage in Berlin, bis wir es rausbekamen, dass es einen Zug ab Lehrter Bahnhof geben sollte, der uns in Richtung Westen bringt. Tatsächlich stand dort ein Zug, aber wann er losfahren sollte, wusste keiner. Wir blieben aber im Dienstwagen, um auf keinen Fall die Abfahrt zu verpassen. Mittlerweile war ich wohl eingeschlafen, als sich langsam der Zug in Bewegung setzte, und wir waren alle plötzlich hellwach.
Hier sollte man noch erwähnen, dass Deutschland von den Siegermächten in vier Besatzungszonen aufgeteilt war. Wir befanden uns zur Zeit immer noch in der sowjetisch-besetzten Zone; und wie wir das später immer wieder bemerken mussten, wollten die Russen keinen in den anderen besetzten Teil rüberlassen. So ist es sicher auch diesem Umstand zu verdanken, dass der Zug in der Nähe von Breddin anhielt mit der Bemerkung, der Zug fährt nicht weiter, alles aussteigen.
So standen wir also mit unserem Gepäck auf den Bahnsteig. Dann hieß es wieder, der Zug fährt doch weiter, und in null Komma nix war der Zug vollbesetzt, auf den Dächern, zwischen den Waggons, an den Türen; überall hingen die Menschen, um mitzukommen. Für uns gab es keine Möglichkeit mit unserem Handwagen da noch raufzukommen. Und tatsächlich, der Zug fuhr weiter.
Wir nahmen unseren Handwagen mit dem Gepäck und tippelten weiter. In einem der nächsten Orte angekommen versuchten meine Mutter mit mir etwas Essen zu erbetteln; wir hatten Hunger, aber alles war vergebens. Ja, was nun? Ganz plötzlich kam eine Frau zu uns gelaufen mit der Bemerkung: Sie hätte uns gesehen, von Haus zu Haus zu gehen. Sie wäre keine Hiesige, auch Flüchtling oder Vertriebene. Und sie brachte uns ein halbes Brot und ein tüchtiges Stück Speck. In dankbarer Weise haben wir alles verputzt und waren fast vollkommen satt geworden.
Aber wir wollten weiter Richtung Westen und kamen zur nächsten Bahnstation. Ich glaube, es war jetzt Brendan, wo wir einen Zug erwischten, der uns bis nach Wittenberge, dicht an der Elbe, brachte.
Frau Ehlert mit ihrer Tochter sausten gleich los, weil sie über die Elbe wollten. Aber die Russen ließen es nicht zu. So haben wir alle vier in Wittenberge in einer Schule wieder auf den Fußboden übernachtet.
Ein entlassener deutscher Gefangener, noch mit deutscher Uniform, hatte unsere Gespräche gehört, und bot uns an, uns nach einem Ort zu bringen, wo wir zunächst bleiben und auch bei einem Bauern gegen Essen usw. eine Hilfe sein könnten.
So tippelten wir wieder los am nächsten Morgen, diesmal zu fünft, in Richtung Bälow, wie uns angegeben wurde. Nach einiger Zeit meinte unser Soldat, hier müsste er weg, vorne sind die Russen. Wir hatten vor den Russen keine Angst und liefen munter weiter an dem Restaurant Sandkrug, was oben dran stand, vorbei. Es kam uns ein Russe nachgelaufen, dem wir unsere Reisebescheinigung präsentierten. Nach vielem Hin und Her bekamen wir heraus, als er meinte, wir haben nur drei Papiere aber sind vier Personen. Wir merkten, dass er gar nicht lesen konnte, und nachdem ein Offizier dazukam, durften wir ziemlich erleichtert weiterziehen. Wir tippelten durch den Wald bis zur nächsten Biegung und blieben ganz überrascht stehen. Vor uns lag das angekündigte Bälow, wie in einem Märchenwald. Nachdem wir diesen Ort erreicht hatten, sahen wir zuerst eine russische Kommandantur. Meine Mutter mit der Frau Ehlert gingen hinein, kamen aber sehr schnell wieder heraus. Wir sollten zum Bürgermeister gehen. So fragten wir uns in dem Ort hindurch zum Bürgermeister. – Wir hatten Glück, er war selber Flüchtling und hatte sein Büro bei diesem Bauern. Er fragte uns danach, wie wir gerade in diesem Ort nach einer Unterkunft fragen. Nach einigen Erklärungen kam er mit, um uns eine Unterkunft zu besorgen. So bekamen wir ein Zimmer mit zwei Betten auf einen Bauernhof. Bei Frau Zander (ihr Mann war noch in Gefangenschaft) war die Küche im Keller, die von einer Frau bedient wurde, die aus Hamburg stammte und während des Bombenkrieges nach hier evakuiert war.
Meine Mutter und ich mussten für unser Essen beim Heuen mithelfen. Auf den Lebensmittelkarten bekamen wir pro Person und Woche ein Brot und ein Stück Butter. Ich bekam als noch jüngerer jeden Tag einen Liter Milch, so war der bisher tägliche Hunger vorbei.
Frau Ehlert beschäftigte sich wieder als Schneiderin, was auch der Frau Zander sehr zugute kam. Sogar die Russen hatten diese Schneiderei mitbekommen und ließen ihre kaputten Sachen reparieren. Erikas Geburtstag vom 27. Juni wurde hier auch noch nachgefeiert.
Dann kam der Abschied. Ehlerts wollten unbedingt weiter nach dem Westen, nach Velbert im Rheinland. Es dauerte einige Zeit, wohl etwa bis Ende November, als ein Brief kam, der uns anzeigte, dass Frau Ehlert mit ihrer Tochter gut in Velbert angekommen seien. Der Brief war von der Erika so positiv abgefasst, dass wir am liebsten gleich selber losgehen wollten. Leider war auf der Elbe schwerer Eisgang und keiner wollte uns zu diesem Zeitpunkt übersetzen.
So mussten wir einige Tage warten, bis die Elbe eisfrei war. Wir liefen dann mit unserem Gepäck bis Neukirchen, wo wir übernachten konnten. Am nächsten Tag liefen wir etwa 30 Kilometer bis nach Stendal. Hier warteten wir auf einen Zug, der uns nach Essen bringen sollte. Aber dann, irgendwo bei Eisfelde stoppte der Zug. Die meisten Zugreisenden hatten keine Genehmigung, um von der sowjetischen Besatzungszone in einen der westlichen Zonen einreisen zu können.
Wir kamen in ein Lager und hatten wieder sehr wenig zum Essen. An einer großen Tafel standen Abfahrtszeiten von Zügen in den Westen. Meine Mutter meinte, wir nehmen den nächsten Zug, nur hier raus, ganz egal wohin. So konnten wir tatsächlich am nächsten Tag fahren, nachdem wir registriert worden waren. Unsere Reisebescheinigung war uns dafür sehr hilfreich.
Einige Male mussten wir umsteigen, und dann stand bei einem weiteren Halt des Zuges: Essen Hbf. Wir waren so verdutzt, dass wir das Aussteigen fast vergaßen. So standen wir vor dem Bahnhof und fragten dann einige Passanten, wie man nach Velbert kommen sollte. Es war ganz einfach, zuerst mit der Straßenbahn nach Essen-Werden, vielleicht dann einmal umsteigen nach Velbert.
Die Adresse, Langenberger Straße, hatten wir. Nach einigem Durchfragen standen wir vor der Haustür der Familie Völkel, der Schwester von Frau Ehlert. Keiner wusste, dass wir hier auftauchen würden, denn Erika hatte diesen Brief ohne Wissen ihrer Mutter geschrieben. Frau Ehlert war irgendwo in der Nähe von Cloppenburg, um gegen Lebensmittel zu schneidern.
Es war kurz vor Weihnachten und Familie Völkel hatte auch eine dritte Schwester mit ihrer Tochter in ihrer nicht allzu großen Wohnung aufgenommen.
Alle versuchten eine Lösung zu finden. So gingen wir am nächsten Tag erst einmal zum Einwohnermeldeamt. Wir bekamen dann einige Adressen für eine Unterkunft. Zum besseren Nachdruck wurde uns ein Polizist beigegeben. So bekamen wir ein Zimmer ganz oben im Dachjuchhe. Zum Kochen stand sogar ein kleiner Herd in dem Zimmer. Meine Mutter bekam am 2. Januar 1946 in einer Fabrik Arbeit, und ich durfte am gleichen Tage die Volksschule besuchen. Es konnte einfach gar nicht besser laufen.
Ostern bekam ich meinen Volksschul-Abschluss und wurde auch konfirmiert. Anfang April 1946 ging ich bei einer Druckerei in die Lehre als Schriftsetzer. Die Berufsschule war in Wuppertal, und nach drei Jahren hatte ich meinen Gesellenbrief in der Tasche.
In Velbert lernte ich meine Frau kennen. Wir haben 1952 geheiratet. Unsere Edelgard wurde 1956 geboren und 1964 zogen wir nach Ostfriesland, was auch für uns und besonders für mich zur neuen Heimat werden musste.