Aus der Neumark in die Altmark – Teil 5
Bericht über eine geglückte unglückliche Flucht
Von Hagen Stein
– gering gekürzt –
Letzte Etappe: Wieder ein Rennen mit Glück über neue Hindernisse
Endlich sind die Fahrkarten gelöst, die Lebensmittelkarten abgemeldet und per Post alle Einzelheiten des Abholens verabredet. Das Dörfchen Priemern hat nämlich keinen Bahnhof, ein Sachverhalt, der mir sehr schwer eingehen will. Wir müssen deswegen mit dem Pferdewagen in Seehausen (Altmark) über rund 10 Kilometer abgeholt werden. Da sollte die Ankunft schon einigermaßen genau feststehen!
Wir machen es uns auf den Holzbänken so bequem wie möglich und schwatzen voller Vorfreude über das unbekannte und ruhige Dorf, das wir heute noch erreichen wollen. An diesem kommenden Abend kein Fliegeralarm, man möchte es kaum glauben! Ich lese ein Büchlein, das mir unsere Wirtsleute zum Abschied in die Hand gedrückt haben.
Plötzlich verlangsamt der Zug mit schmerzhaft kreischenden Bremsen auf freier Strecke sein Tempo und kommt abrupt zum Stehen. Ein paar Gepäckstücke kollern herum, Frauen kreischen erschreckt. „Tiefflieger!“, schreit eine zittrige Stimme. Voll panischer Angst springen die Menschen aus den zahlreichen Abteiltüren, stolpern die Böschung hinab und stürzen durch niedriges Unterholz, um sich in einem halbhohen Birkenhain zu Boden zu werfen.
Ich bin jäh von meinem Buch hochgeschreckt und werde von der Kopflosigkeit mitgerissen. Ohne zu wissen, wie ich den Sprung aus dem Wagen geschafft habe, werfe auch ich mich zwischen die kahlen Birken, schaue vorsichtig umher und sehe weder Mutter noch Geschwister! Wie konnte ich vergessen, dass wir uns immer umarmen wollen? Alle oder keiner!
Ach, die Arme meiner tüchtigen kleinen Mutter waren nicht lang genug, um den Angsthasen festzuhalten! Ich schäme mich entsetzlich vor meinen Geschwistern, die sicherlich eng umschlungen im Zug sitzen. Wenn sie groß sind, werde ich sie um Verzeihung bitten! Falls sie dann noch leben, fährt es mir durch den Kopf, und sofort erhebe ich mich und will gebückt zum Zug hasten. Ein bärtiger Mann fasst mich am Oberarm und befiehlt: „Bleib’ hier, Junge, mit Tieffliegern ist nicht zu spaßen!“ Ich stammele zerrissen: „Bei meiner Mutti…!“, aber er schimpft „Zu spät!“ und zieht mich hinab.
Tatsächlich rast ein einmotoriges Flugzeug mit einem weißen Stern, begleitet von lautem Angstgeschrei aus Hunderten Kehlen, mit Getöse über den Zug, verschwindet aber sogleich gen Westen, wo unweit die Elbe fließen müsste.
Stille! Man hört die Lokomotive! Der Bärtige lauscht nach allen Richtungen und lässt meinen Arm los. Zwischen den verängstigten Leuten, die verschmutzt und teilweise humpelnd wieder zum Zug strömen, stampfe ich zu meinen Lieben zurück. Es ist ihnen ja nichts passiert!
Aber wo sind sie? Ich sehe vor mir, noch unendlich höher als vor Wochen in der Frankfurter Dunkelheit, unzählbare gleich aussehende offene Türen, riesige Räder und oberhalb des Dammes und des Schotterbetts un-erreichbare Trittbretter. Heulend renne ich unter mitfühlenden Blicken an der Böschung entlang und lasse, da die Lokomotive nun schon zweimal gepfiffen hat, ein jammervolles „Muttiiii! Muttiiii!“ ertönen. Wie hat der deutsche Junge zu sein? Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder…! Alles vergessen! Er wartet auf ein einziges kleines Wort! Und da hört er es endlich! „Hier!“, vernimmt er die unverwechselbare und glückliche Stimme seiner Mutter von oben.
In Stendal, unserer zweiten Umsteigestation, treffen wir mit großer Verspätung und im Schritttempo ein. Der Bahnhof und seine Umgebung bieten einen schrecklichen Anblick: Bombentrichter, zerrissene und verbogene Schienen, umgestürzte und ausgebrannte Waggons. Aus den glaslosen großen Fenstern des Wartesaales wehen angesengte Stores, zwei Häuser in der Nähe brennen. Kolonnen von Zivilisten, Eisenbahnern und Kriegsgefangenen arbeiten mit Spitzhacken, Schaufeln und Spaten in den Trümmern.
Inzwischen organisiert die Reichsbahn in Stendal erstaunlich schnell um. Nach Reiseziel eingeteilte Gruppen marschieren wenige Kilometer an den Stadtrand, wo sie auf freier Strecke in einen unbeschädigten Zug einsteigen dürfen. Es sind wahrhaftig einige Personen dabei, denen diese Übung neu ist! Auch wir schaffen mit unseren Habseligkeiten den schweren Weg, wobei uns ein freundlicher Mann glücklicherweise behilf-lich ist. Wenn wir die Mentalität des tapferen Schneiderleins sinngemäß übertragen dürften, könnte der Helfer sich einen feinen Gürtel umbinden: Ich habe den gesamten Besitz einer Familie mit vier Kindern eine halbe Stunde an einem Arm getragen!
Wo ist unser Glücksbringer, die Zwiebelmusterkanne mit passender Tasse? Wohlbehalten an Bord!
Die letzte Teilstrecke wird wie die erste zurückgelegt: Pferdewagen!
Als wir in Seehausen ankommen, ist es bereits dunkel und zu spät, die Weiterfahrt noch zu organisieren. Auf dem gegenüberliegenden Gleis des Bahnsteigs steht ein Lazarettzug, blitzsauber, unbelegt und ohne Lokomotive. Unverschlossen! Dankbar gehorchen wir, vor Müdigkeit taumelnd, unserer Mutter, als sie uns in die Etagenbetten legt. Obwohl ich mich noch immer wegen meiner Feigheit vom Vormittag schäme, schaffe ich es kaum noch, das Einschlafen der Geschwister pflichtgemäß abzuwarten. Wir sind wieder einmal am Ende der Kräfte!
Unsere Mutter ist noch unterwegs, um ein Lebenszeichen – im ursprünglichen Sinne des Wortes (zum wievielten Male inzwischen?) – abzusenden! In Priemern schlagen Trauer und Ungewissheit in Erleichterung und Freude um, sofort wird die Abholung für den nächsten Tag organisiert!
Dieser beginnt mit dem Erscheinen eines Offiziers, der uns auf dem Bahnsteig anhält, als wir uns ungewaschen und unbemerkt davon machen wollen. Er trägt eine derart saubere Uniform, dass der ungewohnte Anblick mich mit offenem Mund staunen macht. Als Kommandant des Zuges verlangt er mit einer schneidigen, weit ausholenden Rede Rechenschaft von unserer Mutter für die illegale Nutzung der Betten. Wir stehen verblüfft neben ihr und wundern uns, wie geduldig sie zuhört. Dann aber sagt er etwas von schmutzigen Kindern, womit er, wenn ich an uns hinunterblicke, formal recht haben
könnte.
Das ist zuviel! Mit einem vernehmlichen „Hör’n sie mal zu, sie feiner Pinkel!“, wird der Schimpfwortkatalog geöffnet, trotz des nicht immer jugendfreien Vokabulars von unserer strahlenden Zustimmung begleitet. Schließlich, atemlos vor Zorn, das Mutterkreuz schwenkend, faucht sie: „Wenn sie mit ihrer feinen Uniform so in der Scheiße gesteckt hätten, wie diese Kinder, wäre ihre Hose von innen bekackt!“ Gib es ihm, geliebte Mutti! Was weiß dieser parfümierte Mensch schon von all’ dem Entsetzlichen und Furchterregenden, dem wir heute endlich entkommen wollen!?
Der erschrockene Offizier, der zivil sicherlich ein frischgebackener Arzt aus gutem Hause ist, begreift wohl die Unangemessenheit seiner Vorwürfe, entschuldigt sich mit rotem Kopf und bietet uns sogar noch Waschgelegenheit und Hilfe beim Gepäck an, von dem wir heute einige Kleidungsstücke über dem Arm tragen müssen. Unsere wutschnaubende Mutter lehnt alles ab, und wir machen uns durch den Bahnsteigtunnel auf zum Bahnhofsvorplatz.
Später, als der Vorfall den Tanten berichtet wird, wird unsere Mutter hinzufügen: „Zur Strafe habe ich ihm zwei Decken geklaut, dem Schnösel!“ Na, ja, dann war es doch fair, ihn nicht zu beteiligen! In unserem Koffer hätte er uns die Decken gewissermaßen nachgetragen! Sich selbst beklaut! Trotzdem zucke ich als braver deutscher Pimpf etwas zusammen. Das hätte vielleicht nicht sein dürfen! „Kannst ja eine andere Decke nehmen, wenn du hast!“, werden meine Bedenken ignoriert. Nein, habe ich nicht! Woher auch?
Das findet allerdings später statt. Jetzt erscheint zuerst einmal meine Tante Grete, die mit dem Fahrrad schneller war als der Pferdewagen. In glücklicher Umarmung schämen wir uns der Freudentränen über das Wiedersehen nicht, das so oft, wie man elegant literarisch sagen würde, auf des Messers Schneide gestanden hatte. Aber dieser Vergleich reicht nicht, das Geschehene auszudrücken!
Unsere Mutter, meine Geschwister, das immer noch überschaubare Gepäck mit den konfiszierten, noch unsichtbaren Decken nebst der Zwiebelmusterkanne mit passender Tasse werden auf dem Pferdewagen transportiert. Mich nimmt meine Tante auf dem Fahrrad mit, und unterwegs rede ich ihr die Ohren heiß. Endlich jemand, der zuhört, dem man sein Herz mit allen Ängsten ausschütten und dem man stolz erzählen kann, welche tapfere Mutti und welche tollen Geschwister ich habe.
Durch Wald und nochmals Wald erreichen wir endlich unser Ziel. Das Haus mit der Notfalladresse ist voller Menschen. Kurzzeitig wird die bescheidene Gutsarbeiterwohnung mit
2½ Zimmern 8 Erwachsene und 6 Kinder aufnehmen müssen. Im Schloss der Gutsherrschaft stehen Dutzende Zimmer leer.
Nach unserer Ankunft höre ich meine Tante voller Anteilnahme sagen: „Mein Gott, was der Junge durchgemacht hat! Lasst euch das mal erzählen!“
Durchgemacht? Ich denke an die Stunden voller panischer Angst, den entsetzlichen Kampfeslärm, das Grauen der vielen verzweifelten Schreie, bei denen ich mir die Ohren zuhalten wollte und auch – etwas zögerlich – an meine undeutsche Feigheit. Auf den Lippen schmecke ich den Schmutz der vielen Böden, auf die wir uns schluchzend gepresst haben. Angstschweiß tritt auf meine Stirn, wenn ich mich erinnere, wie unsere Mutter auf der Suche nach Wasser im Haus der Toten verschwand. Die vor Schrecken starren Blicke meiner Geschwister erscheinen vor meinem inneren Auge. Alles wirbelt durcheinander, und ich werde Jahre brauchen, mich mit Abstand an die infernalischen Bilder zu erinnern.
Nein, ich habe unsere lange Reise gerade meiner Tante berichtet, ich habe keine Lust, es noch einmal nach zu empfinden. Vielleicht später einmal!
Eines aber weiß ich nun ganz sicher: Es muss heißen durchgebracht! Unsere tapferen Mütter haben uns durchgebracht! Mit nie erlahmender Liebe, eisernem Willen, unendlichem Mut, unerschrocken bis zur Selbstaufgabe, aber nie verzweifelnd und mit viel, viel Glück. Und wir haben uns immer fest an den Händen gehalten. Einmal nicht, aber das ist ja gut ausgegangen! Bitte verzeiht!
An unserem schrecklichen Wege haben wir viele, sehr viele Menschen liegen sehen müssen, denen die glückliche Rettung versagt geblieben war. Sie sind es, die unsere Freudentränen bis ans Ende unserer Tage salzig schmecken lassen werden.
Epilog
Wir waren in der Altmark angekommen, die hier in Priemern vom direkten Kriegsgeschehen äußerlich so wenig berührt schien, wie unsere Heimat jenseits der Oder vor dem Januar 1945. Niemand stürzte angsterfüllt in die Keller oder in den hügelförmigen Splittergraben vor dem größten Bauernhof des Ortes, wenn furchterregend dröhnende Bomberschwärme den Himmel mit unendlich vielen Kondensstreifen ausfüllten. Kein größeres Militärfahrzeug war je im Dorf gesehen worden, keine Bombe näher als 20 Kilometer entfernt gefallen. Einige der fleißigen Frauen vor dem Dorfbackofen meinten sogar, der Feind würde, wie einstmals im Dreißigjährigen Krieg, den Ort übersehen. Einfach nicht finden, da ja von keiner Seite ein befestigter Weg hereinführt!
Doch die äußere Ruhe trog. Auch hier standen in beinahe jeder Wohnung schwarzbebänderte Soldatenfotos, trauerten Familien still über die – wie man inzwischen erkennen konnte – sinnlos gefallenen Angehörigen, Nachbarn und Freunde. Am Leuchter der kleinen Dorfkirche erinnerten Namensschildchen mit den Jahreszahlen 1914/18 an die Toten des Ersten Weltkrieges: Väter und Großväter derer, die aus diesem noch nicht beendeten Kriege nie mehr heimkehren würden. Und täglich aufs Neue zitterten Mütter und Ehefrauen dem Postboten entgegen, der mittlerweile schon im sechsten Jahr unvermeidlich Zeuge der ersten Verzweiflungsschreie sein musste. Nein, wirklichen Frieden suchte man auch hier vergeblich.
Wir waren nicht die ersten Fremden, die vom Dorf aufzunehmen waren. Es gab Evakuierte aus dem Rheinland und aus großen Städten sowie Flüchtlinge aus dem Osten, deren Kinder viele fremde Dialekte in die einklassige Dorfschule brachten. Meistens hatten sie – wie wir – nicht viel mehr als das nackte Leben gerettet und waren unverschuldet auf das Verständnis und die gütige Hilfe der Einheimischen angewiesen. Diese wunderbaren einfachen Menschen, die selbst nach damaligen Maßstäben alles andere als wohlhabend, oft sogar arm waren, halfen einfühlsam und nachsichtig, oft selbstlos bis zur Großzügigkeit, die schrecklichen Erlebnisse der Flucht zu vergessen, den Hunger in Grenzen zu halten und Krankheiten und Unfälle zu überstehen.
Wenige Tage nach unserer Ankunft löste sich aus einem unübersehbaren Pulk westwärts fliegender Bomber eine schwarze Rauchfahne. Einige Fallschirme schwebten vom Himmel herab, und unweit des Schlossparks schlug eine Fliegende Festung mit gewaltigem Krachen in eine Koppel. Verstört blickte ich mit meinen Schulkameraden auf die verstümmelten und teilweise verbrannten Körper von drei amerikanischen Fliegern in den Trümmern der riesigen Maschine. Nun war das Entsetzen uns auch hierhin gefolgt!
Am 11. April erschien eine amerikanische Vorhut im Dorf, eine motorisierte Einheit mit gewaltigem Gerät folgte und requirierte alsbald fast alle festen Gebäude. Alte und neue Einwohner, Bekannte und Fremde, Gesunde und Kranke, vom Säugling bis zum Greis, mussten sich für viele Tage als Notgemeinschaft der Scheunen- und Feldscheunenbewohner zusammenfinden und bewähren.
Während dieser Zeit tobten die letzten Kämpfe um und in Berlin, starben Tausende von Menschen auf grausamste Weise, bangten immer noch Mütter um ihre Söhne. Aber für uns waren die schlimmsten Gefahren vorbei.
Die Nachricht vom Ende des Krieges wurde mit gedämpfter Erleichterung aufgenommen: Zuviel Ungewissheit, zuviel Bedrückung und Trauer und zuviel neues Wissen über furchtbare und beschämende Taten, von denen bis dahin nur flüsternd und ungläubig die Rede gewesen war.
Nach kurzer britischer Verwaltung kam am 1. Juli die Rote Armee, vor der wir mit so viel Glück erst kürzlich geflohen waren, mit Sturmgeschützen und einem etwas vorsintflutlich anmutendem Fahrzeugpark ins Dorf. Das Schloss und die zugehörigen Wirtschaftsgebäude nebst großen Flächen des Parks wurden besetzt und mit einem gewaltigen Bretterzaun umgeben.
Was würde wohl werden?
Vor uns lagen noch unendlich viele familiäre Bewährungssituationen und durchaus echte Gefährdungen: Marodierende Fremdarbeiter, deren im Nebenzimmer abgegebene Schüsse den Bürgermeister bedrohten und uns in Panik halbbekleidet und erfolglos davonrennen ließen. Mit hochgereckten Armen, entlang der Kirchhofsmauer aufgestellt, ertrugen wir angstschlotternd das hasserfüllte Waffenfuchteln vor unseren Gesichtern. Sollten deren polnische Landsleute uns vor wenigen Wochen über die glatte Chaussee geholfen haben, damit wir hier blinder Rache zum Opfer fallen? Es ging gut aus und war die letzte große und direkte Bedrohung der Familie.
Mit und dank unserer nimmermüden Mutter ertrugen wir in der Folgezeit Krankheiten und Ungeziefer, Hunger und klirrende Kälte, selbstverständlich erscheinende Kinderarbeit, Verdächtigungen und Schikanen. Wir überstanden nächtliche Grenzübertritte und bangten um die Mutti, wenn sie Evakuierten und Flüchtlingen half, ihre westliche alte oder neue Heimat auf gefährlichen Schleichpfaden zu erreichen.
Und wie viele Glücksmomente erhellten diese schweren Jahre! Das Auffinden der überlebenden Verwandten, die nach und nach erfolgende Rückkehr der verehrten Onkel aus den Gefangenenlagern, manchmal mit anschließender Flucht vor der Uranbergbaurekrutierung verbunden, aber auch die anerkennende und wohltuende Aufnahme in die Gemeinschaft des Dorfes, die sich in der Anteilnahme an schmerzlichen wie freudigen Ereignissen zeigte.
Doch wie schon bei ihren Eltern, endete für unsere Mutter nach der ersten auch die zweite Haushaltsgründung mit dem Totalverlust aller Habseligkeiten.
Nachdem ihr langjähriger Lebensgefährte politischem Druck und Erpressungsversuchen nur durch eine abenteuerliche Flucht nach Westberlin ausweichen konnte, folgte sie ihm auf unseren Rat und mit unserer Hilfe.
Wer hätte ahnen können, dass wenige Tage darauf, an meinem 26. Geburtstag, die Spaltung Deutschlands für viele Jahre durch eine menschenfeindliche Mauer zementiert werden würde?
Erneut waren Ungewissheit, Verzweiflung und Mittellosigkeit zu überwinden – und sie schaffte es!
Ihr kluger, fleißiger und uneigennütziger Partner, ein echtes Kind der Altmark, dessen Großmut sich jedem Beschreibungsversuch entzieht, und sie bauten sich mit harter Arbeit nicht nur eine neue Existenzgrundlage auf, sondern brachten viele persönliche Opfer, um Kindern und Enkeln die Bedrückungen der Spaltung erträglicher zu machen! Niemals ließen sie in ihrer Liebe, Anteilnahme und Hilfsbereitschaft nach!
Unbeeindruckt von Krankheiten, Rückschlägen, Enttäuschungen und Irrtümern hat unsere lebensbejahende Mutter all’ die Eigenschaften bis ins hohe Alter bewahrt, die uns über das Grauen der Flucht gerettet hatten. Durch Mütterlichkeit, Ehrlichkeit, Güte, Gerechtigkeitssinn, gesunden Humor und nie erlahmenden Optimismus (im Jargon unserer alten Hei-mat mit Herz und Schnauze) und durch ihr Vorbild hat sie die Familie selbst über Mauern und Stacheldraht hinweg zusammengehalten.
Inzwischen kann sie mit Würde und mit Stolz auf zehn Enkel-, dreizehn Urenkelkinder und seit dem 11.11.2005 auch auf das erste Ururenkelmädchen blicken, die bemüht sind zu lernen und zu leisten, was Jean Paul formuliert und wir erwachsenen Kinder ihr zum 80. Geburtstag gewidmet haben:
Mit einer Kindheit voll Liebe
kann man ein halbes Leben
hindurch die kalte Welt aushalten.
Kürzer kann man es nicht sagen. Jean Paul wird es uns dennoch nachsehen, wenn wir eine notwendige Ergänzung anbringen: Ihre Liebe und ihr Mut haben uns Kraft für ein ganzes Leben gegeben!
Am 29. März 2007 vollendete sie ihr 89. Lebensjahr, unsere geliebte und verehrte Mutter, Großmutter, Urgroßmutter und Ururgroßmutter Erna Röxe.
Möge sie noch lange mütterlich an uns herumbessern wollen!
***
Unsere tapfere Mutter Erna Röxe, geschiedene Stein, geborene Flader, verstarb nach einem erfüllten Leben am 27. Juni 2010 in Hannover.
Der vorstehende Text vom Mai 2007 ist gegenüber der ersten und in einigen Exemplaren gebundenen Fassung von 2005 in geringem Umfang bei einigen Formulierungen überarbeitet worden. Inhaltliche Änderungen sind nicht erfolgt. Korrekturen vom 1.9.2010 betreffen die zeitliche Einordnung (z.B. Erreichen der Oder nicht am 31.1., sondern am 3.2.1945) sowie daraus folgende Textergänzungen.