Die weite Welt im Warthebruch
Auf den Spuren historischer Ortsgründungen
Von Werner Bader – Träger des Großen Verdienstordens des Landes Brandenburg –
Der Hang zum Exotischen, der Blick auf die Weltgeschichte und ein Schuss Selbstironie prägten die Namen zahlreicher Ortschaften.
Besucher des Warthebruchs südlich von Landsberg an der Warthe, heute Gorzow, das Friedrich der Große trockenlegen ließ, haben sich früher beim Anblick der Ortsschilder nicht selten die Augen gerieben. Sie staunten nicht schlecht, denn sie konnten in Sumatra frühstücken und in Maryland zu Abend essen. Sie hatten dann bereits Ceylon und Florida, Hampshire, Pennsylvanien, aber auch Saratoga, Annapolis, Havannah, Savannah und Louisa besucht.
Die Besucher konnten wählen, ob sie im Fernen Osten oder in Amerika zum Mittagessen einkehren wollten. Und diese erreichten sie ohne Schwierigkeiten zu Fuß. Sumatra lag nur sechs Kilometer von der alten Johanniterordensstadt Sonnenburg entfernt. Die Orte, die in fernen Kontinenten Tausende von Kilometern auseinander liegen, gab es hier dicht beieinander, allerdings nur als kleine Dörfer.
Es gab auch dabei noch besondere Kuriositäten: Malta beispielsweise hatte die Ortsteile Quebeck und Mannheim. Im Warthebruch konnte man natürlich auch in Brenkenhoffsfleiß wohnen, benannt nach der Tugend des Mannes, der im Auftrag seines Königs die Urbarmachung des Warthebruchs zwischen 1767 und 1782 realisiert hat. Sein vollständiger Name: Franz Balthasar Schönberg von Brenkenhoff. Der Geheime Oberfinanzrat hatte sogar das königliche Privileg, Titel und Gehalt selbst wählen zu dürfen.
Die Kleinbahn Küstrin–Hammer nannte einen ihrer Haltepunkte Klein-Amerika. Er lag mitten in weiten Wiesenflächen, über die aus der Ferne die Häuser von Charleston, New York und Yorktown herübergrüßten.
Amerika im brandenburgisch-neumärkischen Warthebruch – woher diese seltsamen Namen? Die gängige Theorie, die auch Heimatforscher Otto Kaptick ausführlich dargestellt hat, sagt, sie seien ein Spiegelbild der Zeit, in der diese Ortschaften gegründet wurden. Damals, in den Jahren 1775–1783, erkämpften die Kolonien in Nordamerika ihre Unabhängigkeit und Freiheit. In Deutschland, in Sonderheit im aufgeklärten Preußen Friedrichs des Großen, verfolgte man den schweren Kampf, den ein junges freiheitsliebendes Volk um seine Lebensgrundlagen führte, mit unverhohlener Sympathie für die Sache der Amerikaner. Man feierte sie als die Vorkämpfer einer freier werdenden Welt, und die Begeisterung über ihre Erfolge fand ihren lebhaften Widerhall selbst hier bei den Kolonisten des Warthebruches, die sich als Pioniere fühlten und als weithin sichtbaren Ausdruck dieser Verbundenheit ihren entlegenen Siedlungen jene verheißungsvollen Namen aus dem Kriegsgeschehen in der Neuen Welt beilegten. Aber sicher hat, wie viele behaupten, auch des Königs List eine Rolle gespielt. Er wünschte eine „Peuplierung“. Siedler sollten hierher kommen und nicht in die weite Welt, vor allem nicht nach Amerika, auswandern. Also sollten wenigstens die Namen ihrer Dörfer traumhaft klingen.
Langjähriger Hauptkriegsschauplatz in Übersee war die Quäkerkolonie Pennsylvania, als Hort völliger Glaubensfreiheit Sehnsuchtsziel unzähliger religiös bedrängter und verfolgter Menschen in Europa. Auch deutsche Mennoniten hatten hier Zuflucht gefunden und unter ihrem Hirten Pastorius die Stadt Germantown gegründet. Vielleicht sind es mennonitische Kreise gewesen, die auch im Warthebruch den Namen Pennsylvania mit besonderer Verehrung aussprachen, hatte doch eine stattliche Zahl ihrer Familien wenige Jahre zuvor erst im benachbarten Netzebruch Heimat gefunden, dank der Toleranz des Königs und seines Getreuen Brenckenhoff, den sie verehrten, wie drüben die Quäker ihren William Penn, nach dem sie ihre Siedlungen nannten, also Brenckenhoffswalde, Franzthal im Netzebruch.
Entsprechend der Hauptstadt Pennsylvanias entstand auch im Warthebruch die Kolonie Philadelphia, das gerade jetzt, 1778, von den Engländern geräumt werden musste. Am 17. Oktober 1777 hatte sich der englische General Burgoyne mit seiner über 5700 Mann starken Armee bei Saratoga dem amerikanischen General Gates ergeben müssen. Diese Niederlage hatte entscheidende Bedeutung für den Verlauf des Krieges und fand in Deutschland besonders starken Widerhall, weil sehr viele von ihrem Landesherrn verkaufte Hessen mitgekämpft hatten. Kein Wunder also, dass der bedeutsame Schlachtort auch einer stattlichen Kolonie im Warthebruch seinen Namen lieh.
Einen ähnlichen Ruf wie Pennsylvania als Stätte religiöser Toleranz besaß Maryland mit seiner Hauptstadt Annapolis, einst von Baltimore für die bedrängten englischen Katholiken begründet und nach ihrer Königin Henriette Maria benannt. Das Vorwerk Annapolis im Warthebruch entstand 1779, etwa gleichzeitig mit der Kolonie Maryland. Charleston in Südkarolina war die bedeutende Stadt der Südstaaten und mit seinem 1770 gegründeten fortschrittlichen Kolleg ein Hort der freien Wissenschaft und Erziehung; auch sie gab einer Siedlung im Warthebruch ihren Namen. New-Hampshire hatte sich schon 1775 als eine der ersten amerikanischen Kolonien der Unabhängigkeitsbewegung angeschlossen und damit den Beifall der Freiheitsfreunde in der Alten Welt gefunden. Dagegen hatte das Schicksal der Stadt Savannah im Staate Georgia, die vier Jahre hindurch von den Engländer besetzt war, mit banger Sorge erfüllt. Auch New York hatte zu den ersten Vorkämpfern des Freiheitsgedankens gehört. Alle diese Namen fanden sich im Warthebruch wieder und zeugten von dem Anteil, den Deutschland am Freiheitskampf Amerikas nahm.
Auch Florida stand damals im Mittelpunkt des europäischen Interesses. Nachdem es Spanien 1763 im Frieden zu Paris bis zum Mississippi an England verloren hatte, gelangte es zwanzig Jahre später wieder an Spanien zurück. Durch die Kolonialkämpfe, vor allem zwischen Engländern und Holländern, waren Namen wie Ceylon, Jamaika, Havannah, Sumatra in aller Welt bekannt. Dass sie auch zur Benennung von Warthebruchdörfern verwendet wurden, ist wohl auf eine gewisse Vorliebe für das Exotische zurückzuführen, aber auch auf gesunde Selbstironie. Andere Kolonisten dagegen blieben heimatlich gestimmt. Namen wie Neu-Dresden, Mannheim, Breisach, Freiberg, Stuttgart, Neu-Soest weisen auf die Herkunft der Siedler hin und zeigen, dass sie auch in der neuen Heimat die alte nicht vergessen wollten oder konnten. Wenn ein Ort den Namen St. Johannes trägt, so nimmt das nicht wunder, ebenso leicht erklärt sich der Ortsname Malta, war doch diese Insel seit 1530 Sitz des Ordens der Malteser Ritter. Korsika dagegen war durch die politischen Ereignisse bekannt geworden, 1768 hatten es die Franzosen besetzt. Aber die Siedler gaben ihren neuen Heimatorten auch Namen von berühmten Zeitgenossen oder am Siedlungswerk beteiligter Persönlichkeiten. Die Ortschaftsbezeichnungen des oberen und mittleren Bruchs bilden geradezu eine Ruhmeshalle friderizianischer Zeit, in der eine Vielzahl mehr oder weniger bekannter Namen aus der Umgebung des Königs, aus Heer und Beamtentum der damaligen Zeit der Nachwelt überliefert ist.
An der Spitze der Herrscher selbst. Da lag am Südrand des Bruchs Groß-Friedrich, ursprünglich einfach Friedrich der Große geheißen. Da lag am Nordrand das kleine Friedrichsberg, 1727 als Vorwerk des Amtes Himmelstädt eingerichtet. Die Vorarbeiten dazu leitete Kronprinz Friedrich selbst, als er nach seiner Aussöhnung mit dem Vater bei der Küstriner Kammer tätig war. Dann folgten die Minister: Blumenthai, Derschau, Hagen. Massow, der Großkanzler Cocceji, nach dem allein drei Dörfer genannt wurden; das schier unaussprechliche ertrackte Wort wurde vom Volksmund in das sinnvoller scheinende „Kochsee“ umgewandelt.
Dann des Königs Offiziere: Fürst Leopold von Anhalt-Dessau, der Alte Dessauer, besichtigte 1772 Leopoldsfahrt; Seydlitz, der Reitergeneral von Zorndorf, der General von Alvensleben, der Generalleutnant von Czettritz, Kommandeur der Landsberger Dragoner, der General Karl Emil von Katte, der sich bei Prag ausgezeichnet hatte (Kattenhorst), der Oberst Dihringshofen (Düringshof), Oberst Egloffstein, sie alle lebten in den Namen der kleinen Kolonien fort. Ebenso die Beamten: Kammerpräsident Graf Logau, Kammerdirektor Schönewald, Brenckenhoff (Brenckenhoffsfleiß), Geheimer Finanzrat Gerlach (Gerlachstal), Kriegsrat Schwartow (Schwartowstal). Nach dem Besitzer des Ritterguts Hammer, Major Freiherrn von Reitzenstein, ist die von ihm angelegte Kolonie benannt; der Herrenmeister des Johanniterordens, Markgraf Albrecht, lebt in Albrechtsbruch fort, der Landsberger Bürgermeister Liebentahl gab ebenfalls einer Kolonie seinen Namen, sogar der Förster Dölle (Döllensradung).
Das blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges so. Dann fiel, das Gebiet ostwärts der Oder und Neiße an Polen. Das Warthebruch in der Neumark ist nach wie vor eine schöne romantische Landschaft mit Wasser, Wäldern und Feldern; die deutschen und exotischen Dorfnamen gibt es nicht mehr. Nur in den Personalausweisen der aus dem Warthebruch vertriebenen Deutschen stehen sie noch. Wenn sie gestorben sind, wird es niemanden mehr geben, der in Sumatra geboren wurde, in Florida zur Schule ging und in Malta geheiratet hat. Ohne seine engere deutsche Heimat Brandenburg jemals verlassen zu haben – bis zur Vertreibung.
„Neumärker nicht vergessen“
Ein Leserbrief von Margarete Raasch führte uns auf die Spuren der Vergangenheit. Frau Raasch, geborene Hinze aus Neuruppin verwies darauf, dass sie sich oft geärgert habe, wenn man die Neumark bei Erwähnung von Vertreibung vergessen hatte. Sie ist eine echte Neumärkerin. Ihr kleines Heimatdorf lag im Warthebruch und trug den schönen Namen Sumatra. „Geboren bin ich in Jamaika und in Ceylon zur Schule gegangen. Es gab noch mehr Orte mit exotischem Namen. Das Warthebruch wurde durch König Friedrich II. trockengelegt und besiedelt. Das Bruch ist nur ein Teil der Neumark, die vom Johanniterorden geprägt war. Sie hat es verdient, erwähnt zu werden, wenn man von verlorener Heimat spricht. „Wir haben seit über 30 Jahren ein freundschaftliches Verhältnis mit einer polnischen Familie in meinem Geburtsort – auch Menschen mit verlorener Heimat durch Stalin“, schrieb Frau Raasch und unser Autor Werner Bader widmete sich dem Thema brillant in bewährter Weise und führt uns auf die Spuren historischer Ortsgründungen – die weite Welt im Warthebruch.