Aus der Neumark in die Altmark
Bericht über eine geglückte unglückliche Flucht
Von Hagen Stein
Teil 2
Im hier nicht erwähnten Absatz seiner Erinnerungen „Aus der Neumark in die Altmark“ beschreibt Hagen Stein die dramatischen Zustände auf dem Sternberger Roßmarkt. Da stehen Flüchtslingswagen, eine Gruppe sowjetischer Gefangener, bewacht von einigen jungen deutschen Soldaten, zieht durch die Stadt, Tee und Suppe wird von Rot-Kreuz-Helferinnen ausgegeben. Unruhe entsteht, als bekannt wird, dass der Ostwall nicht gehalten hat. Dann verlassen in Eile die wartenden und verunsicherten Menschen die Stadt, darunter auch die Familie Stein, die in Reppen bei der Familie Witzke Unterschlupf findet.
Glück im Pech: Einmal Neu-Bischofsee und zurück.
Oder: Verpflegung verloren, Leben und zwei Panzerfäuste gewonnen!
Schon beim ersten Morgenlicht, das deutlich durch den Feuerschein im Osten und Nordosten verstärkt wird, brechen wir auf. Wieder ist die Chaussee unheimlich leer, als wäre die Front noch Hunderte Kilometer entfernt. Auch Gefechtslärm ist lediglich ab und zu hörbar und dies in – wie es scheint – beruhigender Entfernung.
Wir fahren durch dichten Wald, begegnen nur selten einem Fahrzeug und sind beinahe froh, als uns zwei Volkssturmmänner anhalten. Sie sind auf Fahrrädern unterwegs, an denen je eine Panzerfaust befestigt ist, und haben eine zweite geschultert. Als Ergebnis des Gesprächs mit unseren Müttern deponieren sie zwei der unheimlichen Waffen unter der Kutscherinnenbank, um einen Schaden am Fahrrad in Ruhe beheben zu können. Nachdem sie überzeugend versichert haben, dass der Iwan noch weit weg ist und sie uns alsbald wieder einholen würden, rucken wir wieder an.
Große Erleichterung! Der Iwan also weit entfernt von uns! Bis zur Oder nur noch etwas über 10 Kilometer – das schaffen wir heute gewiss noch!
Wenige Minuten später vernehmen wir mit jähem Erschrecken westlich von uns einzelne Schüsse, die ein heftiges Infanteriefeuer einleiten. Einige dumpfe Schläge ertönen, dann ist abrupt für Sekunden Ruhe. Atemlos und zu Tode erschrocken, haben wir am Straßenrand gestoppt. Vielleicht ein Tieffliegerangriff? Metallisches Rasseln und lautes Motorengeräusch setzen ein. Panzer! Das kenne ich vom Tag der Wehrmacht! Auf der Straße ist bis zur nächsten Kurve, einige Hundert Meter vor uns, nichts zu erkennen. Minutenschnell verliert sich das grauenhafte Geräusch in Richtung Westen, weg von uns. Wir glauben, unsere Herzen wieder schlagen zu hören.
Meine Mutter, die seit der Begegnung mit den Volkssturmmännern neben dem Wagen gelaufen ist, ruft nach oben: „Ich gehe mal nachsehen, was los ist!“ und von unserem flehendlichen und verzweifelten „Nein, Mutti, nein!“ unbeeindruckt, begibt sie sich gebückt neben der Straße nach vorn.
Ich schaue durch die Lücke zwischen zwei Teppichen in den Wald nach links und sehe unweit der Straße zwei Gestalten wie von den Furien gejagt nach Osten rennen. Das bedeutet doch, dass westlich von uns die Gefahr ist, rede ich mir, schier ohnmächtig vor Furcht, ein. Ich muss die Mutti zurückholen!
Aber da taucht unsere in ihrer Lederjacke sehr militärisch wirkende Mutter schon wieder auf und teilt mit, dass nichts zu sehen wäre. Wir sollen weiterfahren, mindestens bis zum Ort, der gleich hinter der Biegung zu erkennen ist.
Das Dörfchen heißt Neu-Bischofsee, und ich weiß von meiner Heimatkundekarte, dass hier die Landstraße von der Kreisstadt Zielenzig und von Drossen aus nordöstlicher Richtung auf die Reichsstraße 167 stößt.
Als wir uns ein paar Minuten später auf dieser Einmündung befinden, tauchen urplötzlich Uniformierte und einige zivile Männer auf, stellen sich heftig gestikulierend auf die Straße und rufen uns mit verzweifelt bittenden Stimmen zu: „Dreht um, um Himmels Willen, dreht um! Der Russe ist schon durch! Fahrt zurück! Schnell!“
Zum Nachdenken ist keine Zeit, die Schüsse vorhin und die Panik in den Stimmen der Männer lassen keine Wahl. Unsere Kutscherin fährt sofort einen Bogen nach rechts, um wenden zu können. Da setzt unvermittelt, entsetzlich laut und scheinbar ganz dicht neben uns, mit Höllenlärm eine heftige Schießerei ein. Das ist unser Ende! Auf dieser Gabelung würden wir nun sterben müssen!
„Runter! Schnell ins Haus!“, ruft jemand.
Wie sind wir vom Wagen gekommen? An welcher Seite? Meine Erinnerung beginnt erst wieder bei dem Bild, als meine Mutter, den schreienden Kleinsten an der linken Hand, durch die kreuz und quer zirpenden Leuchtspurgeschosse meiner Schwester hinterher springt, die im Begriff ist, den Geschossgarben entgegenzulaufen. Sie reißt sie an sich, zusammen stürzen wir geduckt über einen winzigen Vorgarten in ein ärmliches Haus und drinnen durch eine von Geschossen zersplitterte Tür in ein großes Zimmer, wo wir die Rufe „Hinlegen! Unter die Betten!“ voll besinnungsloser Angst befolgen.
„Alle da! Liegenbleiben!“, höre ich Sekunden später die tränenerstickte und glückliche Stimme meiner Mutter durch unser Schluchzen. Mein Herz dröhnt, meine Tränen spülen den Staub, den die Einschläge aus dem Wandputz aufgewirbelt haben, schnell aus den Augen.
„Die sollen aufhören, Mutti!“, klagt unser Kleinster, der offenbar die gewohnte Hilfe der Mutter gegen die lärmenden Spiele seiner Geschwister anmahnt. Sein staub- und tränenverschmiertes Gesicht wird von meiner Schwester nach unten gedrückt.
Als hätte man ihn erhört, weicht das heftige Dauerfeuer draußen bald einzelnen seltenen Schüssen. Klirrend zerbirst irgendwo Glas. Brauner Lehmstaub steigt nach dem Einschlag eines verirrten Geschosses aus der Zimmerwand, sodass wir uns noch tiefer an den Boden pressen.
Es wird beinahe still, und nun höre ich furchtbare, unglaublich verzweifelte Schreie: „Nein! Nein! Mein Junge! Mein Junge! Nein!“ Solche unfassbare Verzweiflung habe ich bisher nur einmal gehört, als vor etwa zwei Jahren meine Tante die Nachricht vom Tode ihres Mannes erhalten hatte. Damals war ich schluchzend in die Gartenlaube gelaufen, um ohne Zeugen zu weinen. Ein deutscher Junge darf das nicht, erst recht nicht, wenn sein Onkel den Heldentod erleidet!
Ich halte mir die Ohren zu und sehe aus den Augenwinkeln, wie unsere Mütter einer alten, völlig ergrauten Frau ein langes Küchenmesser entwinden, sie nötigen, sich auf ein Bett zu ducken und ihr die Hände daran binden. „Siebzehn, erst siebzehn!“, fügt sich schluchzend die Frau und lässt den Kopf so unnatürlich auf die Arme fallen, dass ich erschreckt glaube, sie sei von einer Kugel getroffen worden.
Die Tür wird vorsichtig einen Spalt, dann mit einem Ruck ganz aufgerissen. Ein tatarisch aussehender Soldat in Filzstiefeln und einer schmutziggrünen Wattejacke, auf dem Kopf eine Pelzmütze, hält eine seltsame Maschinenpistole nach vorn und brüllt in unsere Angstrufe: „Deitsche Saldatt? Deitsche Saldatt? Frietz keine?“ Wir kreischen in panischer Angst: „Alles Kinder! Nur Kinder! Nix Soldat!“ Der Russe wirft einen halben Blick zum angrenzenden Zimmer, ruft etwas nach draußen und entfernt sich rückwärts. Nur das Weinen der Kleinen und das unbeschreibliche Klagen der Bewohnerin sind noch zu hören.
„Wir haben Glück!“, ruft eine der Mütter erleichtert und bewirkt einen neuen Verzweiflungsausbruch der grauhaarigen Frau. Sie zeigt mit dem Kopf auf das andere Zimmer und schluchzt immer wieder: „Da, da! Sie wollten doch nur zum Wald!“
Das Nebenzimmer hat ein zerschlagenes Fenster nach hinten. Vorsichtig schaue ich unter den Armen meiner Mutter hinaus. Etwa 15 Meter vom Haus, vielleicht 5 Meter hinter dem Gartenzaun, liegen leblos auf dem Acker ein Soldat im Mantel und ein Zivilist in offener Jacke mit ausgebreiteten Armen auf dem Bauch, die Gesichter in Schneeresten. Sie hatten wohl vor wenigen Minuten zu fliehen versucht, und die Mutter hatte hilflos dem Sterben zusehen müssen. Nun binden die Frauen sie los und streichen der in sich zusammen gesunkenen Verzweifelten mitfühlend über das weiße Haar. Doch der Blick der unglücklichen Frau bleibt auf eine mir unvergessliche Weise ins Leere gerichtet. Niemand würde sie trösten können. Alle weinen still vor sich hin, noch immer auf den Boden oder unter die Fenster geduckt.
Auf der Straßenseite rasseln Panzer voller fremder Soldaten und einige wenige Kraftfahrzeuge, wie wir mit größter Vorsicht durch die zerschossene Scheibe beobachten können. Das ist er also, der Iwan!
Ich glaube, meinen Augen nicht zu trauen, als ich über einem flachen Mauerrest die Rücken unserer braven Pferde und ein Stückchen der Planen sehe! Scheinbar unversehrt!
Dann ist plötzlich Ruhe, alle dürfen sich erheben. Niemand von uns hat – außer an der Kleidung – Schaden genommen. Welch ein unfassbares Glück! Vorsichtig und gebückt gehen wir hinaus, vornweg unsere Mutter mit dem Jüngsten an der Hand, der nun sogar strahlt, dass seine Mutti den Lärm abgestellt hat. Auch wir anderen fassen uns an, das mindert die allgegenwärtige und ununterbrochene Angst. Frau Witzke tastet sich prüfend um den Wagen und an die Pferde, während wir uns zitternd umschauen. Auf der Straßengabelung liegen zwei verkrümmte Körper und unzählige herausgerissene Pflastersteine, dazwischen viele Patronenhülsen, Holzteile und zerbrochene Dachziegel, ein Stück westwärts brennen ein Panzer und dahinter ein Haus.
Aber unser Glück nimmt kein Ende! Die Pferde sind tatsächlich unversehrt, der Wagen unbeschädigt, von zwei unregelmäßigen Löchern in den Teppichen und ein paar frischen Holzabsplitterungen abgesehen. Alle Nahrungsmittel, selbst das halbe Schwein, sind indes verschwunden. Die von mir so verachteten Kölnisch-Wasser-Flaschen sind geköpft und anscheinend ausgetrunken worden. Beide Panzerfäuste liegen noch unter dem Sitzbrett! Die wären wir nun sehr gern los geworden. Viel, viel Glück gehabt, aber wie nun weiter?
Überraschend tauchen Männer auf, die befehlen, zurück in Richtung Osten zu fahren und tröstend hinzufügen: „Ihr werdet rausgeholt!“. Rausgeholt? Wieso rausgeholt? Freilich! Wir sind ja nun im Kessel, und nur dort sind noch keine Russen!
Als die Frauen etwas zögern und anscheinend über das Risiko einer Weiterfahrt beraten, rufen wir Kinder flehend: „Fahrt doch, fahrt doch endlich! Zurück nach Reppen!“ Nur schnell fort von diesem schrecklichen Ort und von den rasselnden Panzern, von den schmutzigen Soldaten und den zirpenden Geschossen! Nicht noch einmal diese Ängste, diese furchtbaren Schreie, all das Schreckliche, das wir noch vor einer reichlichen halben Stunde für unvorstellbar gehalten hatten!
Aber unsere Mütter wissen in diesem Moment wohl, dass wir das unglaubliche Glück der letzten Stunde nicht nötig gehabt hätten! Einen Tag eher abgefahren, zwei oder drei Stunden früher an diesem Platz, und wir wären mit Pferd und Wagen durchgekommen. Von nun an würde es vermutlich nur noch um das nackte Überleben gehen!
Durch eine wiederum erstaunlich leere und ruhige Winterlandschaft ziehen uns die Pferde, deren stoische, während des Kampfgetöses gezeigte Ruhe noch lange Gesprächsstoff liefert, zurück in Richtung Osten. Ab und zu begegnen wir Fahrzeugen und einigen Gespannen, denen meine Mutter rät, ebenfalls umzukehren. Niemand prüft, ob sie diesen Rat für sinnvoll halten. Ein Kübelwagen mit zwei Offizieren, die zunächst glauben, wir hätten Orientierungsprobleme, hält uns etwas länger auf. Man verlangt genaue Angaben, Uhrzeit usw. Schließlich fragt der Hauptmann: „Panzer? Wie viele?“
Ich schäme mich meiner kläglichen Ängste und dass ich kein tapferer Pimpf gewesen war. Natürlich hätte ich die Panzer zählen müssen! Ein deutscher Junge…!
Als der Kübelwagen sich entfernt, fällt uns ein, dass wir ja immer noch die Panzerfäuste transportieren!
Verstört und erschöpft kommen wir wieder in Reppen an, haben unglaublichen Durst und essen mit anderen Familien in einer großen Wohnküche alles, was sich finden lässt. Eine fremde Frau entdeckt mein Jungvolkhemd unter dem Pullover und fragt mit ernster Miene, ob ich nicht wüsste, dass solche Leute zuerst erschossen würden. Ohne weitere Aufforderung versenke ich das braune Bündel im Kohlenkasten. Wegen eines Hemdes den Helden geben? Waren wir heute nicht schon genug Held gewesen? Irgendwie waren meine angelesenen Heldenerlebnisse leichter zu bestehen als die direkten!
(Fortsetzung folgt)