Erinnerungen an 1945 — nie vergessen und immer wieder durchlebt
Von Christel Vetter, geb. Schulz
Es war der 31. Januar, nachmittags. Die genaue Uhrzeit weiß ich nicht mehr. Mein Vater war nicht Soldat, da er im Ersten Weltkrieg verwundet und somit nicht wehrtauglich war. Aber dennoch wurde er zuletzt noch zum Volkssturm eingezogen.
Als die Russen bei Zielenzig schon über den Bunker rollten, nahmen alle reißaus. Mein Vater war gerade eine halbe Stunde zu Hause. Da kam die Vorhut der Russen, bestehend aus drei Reitern, die Straße von Königswalde herunter. Unser Haus stand direkt an der Straße. Vom Küchenfenster aus sahen wir sie kommen. Nachdem alles still blieb, ritten sie zurück. Aber es dauerte nicht lange und mit der Ruhe war es vorbei. Der Horror begann. Was sich dann im Ort abspielte, wissen alle noch, besonders die Frauen und Mädchen. Auch alte Frauen wurden nicht verschont und das geschah oftmals vor uns Kindern.
Von dem Moment an, als sie über die Oder rollten, wurde es ruhiger. Wir hofften, nun wieder einigermaßen normal leben zu können. Das stellte sich jedoch als Irrtum heraus. Der Kalender zeigte das Datum 24. Juni, ein Sonntag. Polnische Soldaten kamen und forderten uns auf, binnen zwei Stunden unser Haus zu verlassen und uns auf dem Platz vor der Kirche zu versammeln. Mein Bruder Karl-Heinz war mit seinem Freund Otto Wittke zum See angeln gegangen. Mein Vater wollte zum See und die beiden holen. Durfte es aber nicht. Somit verließen wir die Heimat, ohne die beiden knapp 14-jährigen Jungen. Wir durften auch nicht unseren Handwagen mit Sachen beladen, nur Handgepäck war uns erlaubt. Meine Eltern, unsere Großmutter (die Mutter meines Vaters) und wir vier Kinder zogen nun einer ungewissen Zukunft entgegen. Wir sorgten uns sehr um meinen Bruder und dessen Freund. Was würde aus ihnen werden?
Bis zur Oder brachten uns die polnischen Soldaten. Ab da waren wir uns unserem Schicksal selbst überlassen. Wir kampierten dann eine ganze Woche in Manschnow in der Hoffnung, dass uns die beiden Jungen erreichen. Aber wir warteten vergebens. Dann zogen wir weiter in Richtung Pasewalk, Anklam, Greifswald, Grimmen; denn von dort stammte meine Mutter. Der Marsch durch diese Orte – immer zu Fuß – dauerte vier Wochen.
In Gransebieth, Krs. Grimmen, wohnte eine ihrer Schwestern. Aber hier waren wir ja nun gar nicht willkommen. Das Gut Gransebieth hatte ein Vorwerk, drei Kiliometer entfernt im Wald gelegen. Hier wohnte der Förster mit seiner Familie. Es war ein großes einstöckiges Haus. Und wir kamen dort in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche unter. Wir bekamen, Strohsäcke vom Gut, später auch noch Bettgestelle sowie Decken und nach und nach einiges an Hausrat. Später nahmen dann meine Eltern Kontakt nach Perleberg auf. Dort wohnten zwei Schwestern meines Vaters. Sie holten dann auch gleich unsere Großmutter zu sich.
Nun zu meinem Bruder Karl-Heinz und seinem Freund Otto Wittke. Als die beiden ins Dorf zurück kamen, war es leer. Im Dorf lebte aber noch ein ganz netter Dolmetscher, der uns auch bei Unstimmigkeiten mit den Russen beigestanden hatte. Der wusste, dass die beiden Jungen angeln waren und informierte sie bei ihrer Rückkehr über die neue Sachlage.
Da sie nicht wussten, welchen Weg wir genommen hatten, gingen sie den Weg nach Zielenzig. Dort schlossen sie sich dem erstbesten Treck an. Ab der Oder versuchten sie, sich bei den Bauern durch Arbeit für Essen und Unterkunft mühevoll durchzuschlagen. Ihre letzte Arbeitsstelle, ihr letzter Aufenthalt war in Potsdam-Bornim, von wo sie sich dann bei Nacht und Nebel davonmachten in Richtung Perleberg. Mein Bruder wusste ja, dass Vewandte dort wohnen und unser Onkel bei der Bahn arbeitete. Also führte sie ihr Weg zum Bahnhof, wo sie den Onkel auch antrafen.
So erfuhr mein Bruder, wo wir gelandet sind. Es war Mitte September, als die beiden Jungen bei uns ankamen. Die Wiedersehensfreude war natürlich groß, dass die beiden Jungen es geschafft hatten.
Den letzten Teil dieses Berichtes hätte eigentlich mein Bruder schreiben sollen. Trotzdem ich es mehrmals versucht hatte, konnte ich ihn dazu aber nicht überreden. Leider ist er 2004 viel zu früh und ganz plötzlich verstorben.
Schon mehrmals war ich in den vergangenen Jahren in der Heimat, bin aber sehr enttäuscht über die Zustände dort, über den Zustand unseres Hauses und des gesamten Grundstücks insbesondere. Und trotzdem zieht es mich immer und immer wieder dorthin.