Was ich noch von der Flucht und der Zeit danach weiß?
8,5 Jahre war ich alt. Wir spürten irgendwann eine außergewöhnliche Unruhe um uns herum – noch begriffen wir nichts. Eines Tages kamen viele Soldaten nach Neudorf, sie suchten Quartier und waren ausgehungert. Lotte, unser Kindermädchen (sie brachte uns alle Soldatenlieder bei) kochte für alle Grießsuppe. Als die Soldaten sie freudig aufgegessen hatten fiel Lotte ein, daß sie vergessen hatte, Zucker in die Suppe zu tun. Doch alle lachten darüber und ich saß auf dem Schoß eines Soldaten. Aber schon am nächsten Tag ging es Schlag auf Schlag. Es hieß: „Wir müssen flüchten!“ Gleichzeitig aber hoffnungsvolle Stimmung: „Wir kommen aber bald wieder zurück!“ Daraus wurde jedoch nichts.
In großer Eile wurde das Nötigste auf 2 Wagen gepackt, und über einen Wagen kam der legendäre Teppich von Onkel Ewald Persicke. So lagen wir zwischen Betten und 2 Pelzen von Mutti und Ali. Mittendrin mein kleiner Bruder Jürgen, ein rosa Angoramützchen auf dem Kopf und der weinend fragte: „Darf ich mit?“ Er war dann auf meinem Arm und hat viel geschlafen. So ging die große Reise ins Ungewisse los, bei eisiger Kälte, es war der 31.1.45.
Ich spielte damals oft auf einem großen Stein und als wir an ihm vorüberfuhren rief ich ihm im Stillen zu, daß ich bald wiederkäme. Und als ich nach der Wende mit Karl Friedrich und Eberhard nach Neudorf fuhr, es klingt unwahrscheinlich – aber wir haben den Stein wiedergefunden. Ich konnte sogar noch die Richtung angeben, wo er dann auch lag und nach 50 Jahren geduldig auf meine Rückkehr gewartet hat. Irgendwann muß er des Wartens müde gewesen sein, denn er war umgekippt. All die Jahre habe ich den Stein nie vergessen!
Unvergessen bleibt mir während der Flucht auch folgendes:
Wenn wir unterwegs aus dem Gerümpel ausstiegen, mußten wir 4 Kinder uns alle anfassen, damit ja nur niemand verloren ging. Wir sahen unterwegs weinende Kinder am Straßenrand und alte Menschen, die am Ende ihrer Kräfte waren.
Nachts schliefen wir bei Bauern in nassen Kellern auf Stroh. Ali hat viel geweint, sie wußte nicht, wo Tante Inge, ihre zweite Tochter war. Auch von unserem Opa wußten wir nichts, er war in Neudorf geblieben und hatte das „sinkende Schiff“ nicht verlassen.
Oma hat nie gejammert! Sie stand Mutti immer, auch bis zu ihrem Tode mit allen ihren Kräften und der Liebe zu ihren Enkeln zur Seite. Es gab wohl kaum einen selbstloseren, bescheideneren Menschen als unsere Oma. Sie gab alles, ihr Geld und ihre unermüdliche Arbeitskraft.
Manchmal wurden wir auch von Bauern abgewiesen, weil schon alles von anderen Flüchtlingen belegt war. Mutti gab auch einmal Schmuck für eine Übernachtung. Ali hatte ihre Schmuckstücke in ein Korsett genäht.
Immer wieder sahen wir entkräftete Menschen, die dem Treck nicht mehr folgen konnten. Es war in Seelow, wo ich riesige Angst hatte, weil es so glatt war, daß die Pferde ausrutschten und wir nicht vorankämen. Viele Flüchtlinge waren traurig über die oft geringe Hilfsbereitschaft der Menschen, die zu diesem Zeitpunkt noch nichts verloren hatten. Später dann wurden sie „vertrieben“ und kamen in die gleiche Lage.
In Markee wurden wir bei Zureks freundlich aufgenommen. Es gab reichlich zu essen und wir konnten spielen, spielen. Ganz deutlich sehe ich vor mir, als die ersten Russen kamen. Es waren Mongolen (?), kleinwüchsig mit Stiefeln und O-Beinen. Sie waren freundlich zu uns Kindern. Nachts schliefen wir in einem großen Saal mit vielen Menschen. Russische Kommandanten holten sich jede Nacht junge Frauen und ich hatte solche Angst, daß sie auch unsere Mutter holen würden. Sie hatte so viel Glück, ihr ist nichts geschehen. Zu unserer aller größten Freude kam unser Vater eines Tages zurück und wir fühlten uns so sicher.
Als wir dann in dem Haus in Markee wohnten, gingen wir nachts, wir schliefen auf Stroh, auf Wanzenjagd. Auf Vati’s Kommando wurde Licht gemacht, jeder
hatte einen Latschen in der Hand, und wir schlugen wild zu. Das war sehr lustig.
Eines Tages hieß es wieder einmal: „Wir hauen ab.“ Wir Kinder durften am Tag vorher das Haus nicht verlassen – meine Eltern hatten Angst, wir würden unsere heimliche Abreise verplappern. Wir landeten unbeschadet in Berlin bei Zills. Mutti und ich sind täglich zur Essensverteilung gefahren. Wir standen immer in einer Riesenschlange, und Mutti hatte einen 10-I-Eimer mit. Eintopf gab es und wir wurden satt. Ich ließ Mutti nie aus den Augen, ich hatte eine Höllenangst, sie zu verlieren. Dort in Berlin sah ich auch den ersten schwarzen Menschen, es war ein großer schlanker Soldat und ich rief begeistert: „Mutti guck mal, ein Mohr!“ (Siehe Struwwelpeter).
Tante Inge hatte uns in Mehle bei Elze ein Quartier besorgt und dorthin ging die nächste Reise. Die Angst war nun weg, und als ich die Marienburg und die Berghöhen sah, glaubte ich in eine Märchenwelt eingetaucht zu sein.
Von nun an wurden wir kleine Niedersachsen, allerdings ohne über einen „spitzen Stein zu stolpern“ und sind es bis heute. Im Innersten aber schlagen
auch die Herzen unserer Großeltern und Eltern noch in uns weiter und wir denken so oft an alle.
Wir Kinder haben die Flucht als ein großes Abenteuer erlebt, es blieben weder physische noch psychische Schäden zurück.
Nun bin ich aber gespannt, was mein älterer Bruder Karl Friedrich noch aus der Zeit weiss und was er schreiben wird.
Neudorf – Impressionen
Was hatten wir für eine Kindheit,
die Jahre waren hell und weit.
In den schönen Fliederhecken
spielten fröhlich wir Verstecken.
Genau dort stand ich mit 8, einst stumm
und spürte plötzlich: „Ergo sum“.
Der Pfingstrosenduft in Ali’s Vase
liegt mir bis heute in der Nase.
Ich sehe Opa mit Jürgen an der Hand,
er trommelte ihm Jagdrhythmen an die Wand.
Der Kleine kreischte und Opa trommelte weiter,
das Leben in Neudorf war wirklich heiter.
Wenn Oma spät abends aus dem Garten kam,
saß sie am Bett und streichelte meinen Arm.
Dann erst konnte ich schlafen und ruhig sein
und träumen von goldenen Schuhen fein.
Eine Unart hatte ich, o je –
ich lutschte das Süße von Oma’s Dragees!
An einen Piepser erinn’re ich mich wohl,
es war ein Vogel – der Pirol.
Wir hatten sommers schwarze Zehen,
nur keine Schuhe, barfuß wollten wir gehen.
Im Winter ging’s raus in den glitzernden Schnee,
wir bibberten vor Kälte, alles tat weh.
Oma wärmte uns dann auf
und kurz darauf ging’s gleich wieder raus.
Vor jedem Schlafengehen spielten wir „Raten“,
dann beteten wir: „Lieber Gott, beschütze
unseren lieben Vati und alle Soldaten.“
Es gäb’ an die Großeltern viele Fragen…
doch heute möchte ich „Danke“ sagen.
9 Jahre waren schön, was hatten wir Glück!
Wie gern’ denk ich an Neudorf zurück.