Was ich noch von der Flucht und der Zeit danach weiß?
Erlebnisbericht der nächsten Generation
Im Februar 1945 war ich etwa 9 Jahre alt und ich kann mich noch sehr gut an die schönen Zeiten im
Forsthaus Neudorf und an die schlimmen Zeiten während und nach der Flucht von dort erinnern. Meine Erinnerungen an das Forsthaus und an dessen Lage hatten sich bei mir so sehr eingeprägt, dass ich im Jahre 1990, als ich dann erstmals in das heutige Polen fahren durfte, ohne Landkarte – von Küstrin über die Oder kommend – das Dorf Neudorf und die Reste des ehemaligen Gutes und die der Försterei sofort wiedergefunden und auch Einzelheiten erkannt habe. Emotional war diese erste Fahrt dorthin aber so beklemmend, dass ich schon nach wenigen Stunden diesen Besuch abbrechen musste. Mittlerweile bin ich bis heute (2002) sicher schon sechsmal dort gewesen und es werden immer mehr Erinnerungen und Einzelheiten aus meiner Kindheit wach.
So kann ich mich noch genau an eine Episode erinnern: Zu Ostern – ich glaube es war 1944 – bekam ich ein Fahrrad, das Opa Stelke gegen ein gestrecktes Reh eingetauscht hatte. Da meine Schwester Rosmarie als Mädchen natürlich viel eher Fahrrad fahren konnte, sollte sie mir bei meinen ersten Versuchen helfen und mich notfalls halten. Auf dem kleinen Abhang vor der Försterei ging die Fahrt dann aber schneller als geplant, Rosmarie kam nicht mehr hinterher und ich fand mich in den Fliedersträuchern wieder. Da habe ich ihr vor Wut erst mal eine Ohrfeige verpasst.
Genauso lebhaft in Erinnerung ist mir, dass ich schon sehr früh unter Anleitung meines Opas Stelke im Schießen unterwiesen wurde (war das der Ursprung, dass ich später in Gödringen bei Sarstedt zu einem sehr guten Schützen im dortigen Schützenverein wurde und auch unwesentlich später Marinesoldat wurde?). Er besaß einen Tesching, mit dem ich Ziel- und Schießübungen machen durfte. Diese kleine Waffe wollte ich dann auch unbedingt mit auf die Flucht nehmen, um uns möglichst verteidigen zu können. Der Tesching aber blieb in Neudorf.
Wann immer ich die Fotografien aus unserer Kindheit ansehe (wir selbst hatten davon nichts gerettet und erhielten die Bilder später von einer Tante), fallen mir sehr viele, damit zusammenhängende Geschichten ein – meist natürlich nur rein Erfreuliches.
Nun aber zum Januar des Jahres 1945.
Als die Trecks der Flüchtlinge aus dem Osten immer dichter wurden und immer mehr Flüchtlinge nachts um eine Unterkunft baten und auch häufiger zurückflutendes Militär sich bei uns einquartierten, wurde die Lage zunehmend brenzlicher. Schon vor Weihnachten 1944 hatte Opa Stelke in einem kleinen Holzschuppen in der Nähe des Hauses Jagdwaffen und Tafelsilber vergraben. Er hat mir die Stelle genau gezeigt, ich weiß es noch exakt (das Versteck wurde aber bald nach der Besetzung durch Russen oder Polen gefunden und ausgeplündert). Als auch hochrangige Offiziere auf die sich schnell auf uns zu bewegende Front hinwiesen und den dringenden Rat gaben, sich nun schnell nach Westen abzusetzen, wurden zwei Kastenwagen notdürftig für die Flucht vorbereitet. Als Schutz vor Kälte und Schnee wurde ein Holzgestell über den vorderen Teil des Wagens angebracht und ein Teppich darübergespannt. Die Wagen selbst wurden mit Federbetten, Decken und dem Notwendigsten an Bekleidung und Proviant ausgerüstet.
Früh am eisigen Morgen des 31.1.1945 brachen wir dann mit 12 Erwachsenen und 13 Kindern auf den zwei Pferdewagen in Richtung Kriescht, Sonnenburg und Küstrin auf.
Opa Stelke blieb aus Pflichtbewusstsein in der Försterei zurück (so sind eben die Preußen). Er kam dann Monate – nach unsäglichen Strapazen und Demütigungen – später zu Fuß und nur mit einem Rucksack nach Markee nach. Ich kann mich gut erinnern, dass das Einfädeln unserer zwei Wagen in den laufenden Treck auf der Chaussee Schwerin–Küstrin sehr lange dauerte, weil immer wieder Stockungen durch Tieffliegerangriffe und wegen der glatten, eisbedeckten Straße ein zügiges Vorwärtskommen behinderten. Die Zwischenräume der einzelnen Fluchtwagen waren gering und dazwischen gingen noch viele Flüchtlinge zu Fuß mit Handwagen, Schubkarren, Kinderwagen. Manche schoben vollbepackte Fahrräder oder hatten nur einen Rucksack oder eine Tasche bei sich.
Auf dem Weg durch Kriescht und nach Sonnenburg – es war jetzt schon heller Tag – hörten wir Kanonendonner und sahen Luftkämpfe. Es kursierten auch die wildesten Gerüchte, z.B. dass die Oderbrücke schon gesprengt sei oder dass die Russen schon in den Vororten von Küstrin ständen. In den Straßengräben lagen weggeworfene Bündel, Koffer, Taschen – wohl auch tote Flüchtlinge. In Küstrin war die Oderbrücke wirklich nicht mehr passierbar. Da der Fluss jedoch dick zugefroren war, gelangten wir über das Eis an das westliche Ufer.
Die Flucht ging weiter über Seelow, Müncheberg und durch die Außenbezirke von Berlin, bis wir in Markee bei Nauen ankamen. Aus Seelow ist mir noch gegenwärtig, dass die Straße über die Seelower Höhen vollkommen vereist war, die Pferde immer wieder ausrutschten und die Wagen sich quer stellten. Jeder Pferdewagen musste mit Hilfe vieler Helfer einzeln die Anhöhe heraufgebracht werden. Ich erinnere mich auch noch genau daran, dass die durchziehenden Flüchtlinge von der sich sicher wähnenden, ansässigen Bevölkerung nicht immer gerade herzlich behandelt wurden, wenn z.B. die Frauen für die Kinder etwas Warmes zum Essen oder Trinken zubereiten wollten.
Die wenigen Wochen vor dem Einmarsch der Russen in Markee waren erfüllt von den bangen Fragen nach den übrigen Angehörigen an der Front oder nach der völlig unsicheren Zukunft. Meine Schwester Rosmarie und ich gingen auch noch für wenige Wochen in die Schule von Markau – richtiger Unterricht fand aber nicht mehr statt. Als die Russen schon in Nauen standen, machte sich die gesamte Bevölkerung des Gutes Markee, wo wir alle untergekommen waren, zu Fuß auf und gingen bis zu dem Vorwerk Röthehof, wo wir dann von den Russen eingeholt wurden. Wir wurden in das Gut zurückgeschickt und mussten uns alle in einem großen Saal aufhalten. Es gab nur sehr wenige Betten und so schliefen wir vier Kinder in einem Bett, zwei am Kopf- und zwei am Fußende. Oftmals versteckte sich unsere Mutter auch noch zwischen uns Kindern, denn die Russen kamen jede Nacht, holten sich Frauen und vergewaltigten sie. Ich höre noch die unmissverständlichen Aufforderungen: „Frau komm!“ Durch unsere Tarnung blieb unsere Mutter davor verschont.
Bis zur erneuten Flucht von Markee in den Britischen Sektor von Berlin vergingen einige Monate. Wir bekamen ein kleines Gutsarbeiterhaus zugewiesen, mein Opa kam zu Fuß aus Neudorf und mein Vater etablierte sich notdürftig als Arzt. Geheim, bei Nacht und Nebel und mit nur kleinem Handgepäck flüchteten wir dann – nun die ganze und vollzählige Familie – nach Berlin. Nach einiger Zeit der Registrierung, Entlausung und des Wartens wurden wir dann in einem Viehwaggon der Reichsbahn über Oebisfelde nach Hannover verbracht und von dort fuhren wir auf einem offenen Kleintransporter nach Mehle bei Elze, wo die Odyssee dann erstmal ein Ende hatte. Erinnern kann ich mich, dass wir aus dem Staunen nicht herauskamen, als die Fahrt an der Marienburg bei Nordstemmen vorbeiging. Hatten wir doch noch nie eine Burg und solche Berge wie den Osterwald oder den Ith gesehen.
1990 fuhr ich das erste Mal nach Neudorf. Das Forsthaus steht nicht mehr. Die Kellergewölbe sind noch vorhanden, z.T. aber eingestürzt. Nur die zwei großen Kastanien vor dem ehemaligen Haupteingang und zwei Linden, rechts und links davon, stehen noch immer. Sämtliche Gebäude des Gutes Neudorf sind gesprengt und abgetragen worden.
Im Dorf selbst leben nun Polen, die von den Russen hierher aus Ostpolen1946/47 zwangsumgesiedelt wurden. Der kleine Friedhof – die Eltern meiner Großmutter Elise Stelke sind hier begraben – ist verwüstet, die Grabsteine sind zerschlagen.
Das gleiche in Kriescht, wo Opa Gustav Groger und sein Sohn Rudolf begraben sind. Erfreulicherweise wurde im Jahr 2007 in einer deutsch-polnischen Gemeinschaftsaktion eine Erinnerungsstein errichtet.
Vieles hat sich in Neudorf verändert und dennoch zieht es mich – so wie ein Lachs flussaufwärts zu seinem Ursprung zurückkehrt – immer wieder nach Neudorf zurück. Ich habe dort inzwischen Kontakt zu netten Menschen aufgenommen und besuche sie häufig.