Unsere Kindheit im Pfarrhaus in Neudorf
Von Dr. Christa Berger, geb. Poethke
Als ich 1935 als jüngstes Kind geboren wurde, waren meine beiden Brüder ein und drei Jahre alt. Der Jüngere war ein Zwilling, das Mädchen starb leider mit etwa 1/2 Jahr – das Grab befindet sich auf dem Neudorfer Friedhof. Der Vater war evangelischer Pfarrer (Pfarrer Willy Poethke) und predigte in mehreren Dorfkirchen (insgesamt in 14 Gemeinden, da alle jüngeren Pfarrer in den Krieg ziehen mussten). Die Mutter war Hausfrau. Um das Pfarrhaus herum hatten wir 3 verschiedene große Gärten mit Gemüse- und Kartoffelanbau neben Obstbäumen – und viel Platz zum Spielen. Das Pfarrhaus selbst war sehr geräumig. Der Vater arbeitete täglich bis in die Nacht hinein, so dass wir ihn am Tag nur relativ kurz sahen, aber Mittagessen und Abendbrot wurden gemeinsam eingenommen. Die Mutter hatte im Haus und Garten reichlich zu tun, später war eine junge Haushaltshilfe bei uns einige Jahre tätig. Als wir älter waren, fuhren die Eltern öfter mit uns nach Landsberg/Warthe, vor allem zum Einkauf. Dazu mussten auch wir Kinder ca. 8 km (pro Strecke) zur nächsten Bahnstation „Post Waldostrenk“ laufen. Zurück die gleiche Strecke, immer von unser Katze begleitet, die im Wald immer auf unsere Rückkehr wartete. Die Vorfreude auf Landsberg war so groß, dass wir Kinder auch die längeren Wege wie selbstverständlich in Kauf nahmen. So konnten wir z.B. in Landsberg im Theater das Märchen „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ sehen. Erinnern können wir uns auch noch an eine Zirkusvorstellung.
Ein Auto haben wir nie besessen. Unser Vater hatte anfangs ein Motorrad, später immer nur ein Fahrrad, um in die entlegenden Dörfer zu fahren.
Es soll am Benzinmangel für das Motorrad gelegen haben.
Und nur einmal in der Neudorfer Zeit hat er sich mit der Familie eine Fahrt an die Ostsee – nach Horst – geleistet.
Die Angst vor den ankommenden Wellen dort habe ich eigentlich nie vergessen.
Ich muss da etwa 3 oder 4 Jahre alt gewesen sein. Meinem Bruder ging es nicht so. Die Gartenarbeit zu Hause liebten wir nicht sonderlich, lieber kletterten wir auf die Bäume oder strichen durch die Felder, am liebsten durch Kornfelder. Das erfreute die Landwirte nicht gerade. Aber das trübte unsere im großen und ganzen sehr fröhliche und ungezwungene Kindheit keineswegs.
Der ältere Bruder Martin besuchte allerdings zeitweise auswärts eine Förderschule. Der jünger Bruder Gerhard und ich gingen auf die Dorfschule, in der etwa Kinder von drei Klassen auf einmal unterrichtet wurden. Unseren Lehrer empfanden wir als streng. Erinnern können wir uns lediglich nur noch an einen Lehrer. Mit den anderen Kindern im Dorf hatten wir einen guten Kontakt.
Auf Weihnachten freuten wir uns immer besonders, da klopfte es mit der Rute an die Tür, wir sagten daraufhin unser Gedicht auf. Gesehen haben wir den Weihnachtsmann nie, aber über die reichliche Bescherung war die Freude groß. Unser Vater hat nicht nur gepredigt, sondern selbst auch regelmäßig Orgel gespielt – und auch wir durften dann den Blasebalg betätigen. Darauf waren wir sogar ein wenig stolz.
Beerdigungen, die unser Vater vornahm, waren uns auch nicht fremd; so habe ich einmal meine eigene Puppe sterben lassen und sie dann eingebuddelt. Dass unsere Kindheit so sorglos und schön war, dass haben wir eigentlich erst später so richtig schätzen gelernt, als diese Kindheit 1945 (bei Kriegsende) abrupt zu Ende war.
In der letzten Zeit vor Ende des Krieges wohnte bei uns eine Flüchtlingsfrau mit einem Sohn unseres Alters. Später haben wir sie nicht mehr wiedergesehen.
Mit einem Wehrmachtstrecker mit Anhänger sind wir geflüchtet, da, wie wir hörten, die Front sich immer mehr näherte.
Ein deutscher Offizier wies uns daraufhin, dass dies die letzte Chance sei. Mitgenommen haben wir etwa fünf Koffer mit dem Nötigsten. Den Schmuck verstauten wir extra in einem kleinen Koffer – beziehungsweise beim ältesten Bruder Martin verborgen am Leib. Als es dunkel wurde, haben wir den Trecker verlassen müssen und sind ohne all unsere Habe (sogar den Bruder wurde aller Schmuck weggenommen) in Seefeld in ein Haus geflüchtet. Wir traten dabei auf in Schlamm liegende Leichen. Praktisch standen wir schon unter ständigen Beschuss, d.h. wir sind zwischen die Fronten geraten.
Unsere ständige Angst kann man nicht beschreiben. Bald sahen wir die ersten Russen. Anwesende deutsche Soldaten, gezielt gesucht, wurden sofort gefangen genommen bzw. erschossen; dies auch, wenn sie sich ergeben hatten – wie ich selbst gesehen habe und diesen Anblick auch niemals vergessen kann.
Die deutschen Frauen in dem Haus in Seefeld, auch unsere Mutter, wurden Nachts geholt und vergewaltigt. Auch das erfolgte Schreien der Kinder verhinderte das nicht. Neben mir am Fenster stand eine junge Polin – die anderen im Raum saßen auf der Erde – die, als ein eingetretener russischer Soldat, der an seinem Gewehr hantierte und sich ein Schuss löste, von einem Querschläger tödlich getroffen wurde. Das Blut dieser Frau tropfte auf mein Kleid.
Als es draußen etwas ruhiger wurde, haben wir das Haus verlassen und sind von Seefeld aus über Drossen, Heinersdorf, Langenfeld, Zielenzig, Meekow, Rauden nach Neudorf zu Fuß zurückgelaufen. Unterwegs wurde unser Vater mehrmals durch russische Soldaten von uns getrennt, hat aber immer wieder – Gott sei Dank – zu uns zurückgefunden. Man ließ ihn laufen, weil er auch älter war (56 Jahre), die jüngeren Männer hat der Vater danach nicht wieder gesehen.
In unserer Abwesenheit diente, wie wir erfahren hatten, dass Pfarrhaus als Lazarett für verletzte deutsche Soldaten. Diese wurden durch die Russen einfach erschossen oder um Munition zu sparen erschlagen und sind in der Nähe des Pfarrhauses von Dorfbewohnern begraben worden. Wir fanden bei Ankunft noch deren von Blut getränkte Uniformen. Es war alles so entsetzlich, furchtbar und schwer für uns alle zu ertragen. In unserem Haus – vor unseren Augen – wurde unser Vater von uniformierten Soldaten geschlagen, weil er sich schützend vor unsere Mutter gestellt hatte.
Wenig später kam ein polnischer Offizier und forderte uns auf, dass Haus innerhalb kürzester Zeit zu verlassen. Mitnehmen konnten wir nur das, was wir gerade noch tragen konnten – also nur das Allernötigste.
Der lange und sehr beschwerliche Flüchtlingsmarsch, von Hunger, Durst und Angst geprägt, dauerte mehrere Tage, bis wir endlich in Küstrin ankamen. Unser ältester Bruder Martin war schon so schwach, dass er nicht mehr laufen konnte und von uns in einem schwierig zu lenkenden Handwagen geschoben wurde.
Ein kleiner Koffer, den mein Bruder Gerhard, damals elf Jahre alt, in der Hand trug, wurde ihm von einem polnischen Soldat einfach weggenommen.
Wir hatten dann das Glück, mit der Bahn von Küstrin nach Berlin zu fahren, wo die Eltern Verwandte hatten.
Mein älterer Bruder Martin, der sich von den Strapazen der Flucht nie wieder erholt hatte, starb kurz nach Kriegsende. Beide Beine hatte er sich erfroren, die in Berlin amputiert werden mussten. Auch hatte er eine offene Tuberkulose. Wir hatten Kleider und Kopfläuse und waren bettelarm.