Rückblick auf die Reise in mein Heimatdorf Limmritz 1977
Von Vera Kynast, geb. Schreiber
Fünf Reisen habe ich bis jetzt nach Limmritz unternommen, aber die allererste war die beeindruckenste, an die ich immer wieder denken muß.
32 Jahre waren seit unserer brutalen und unmenschlichen Vertreibung 1945 vergangen. Wie überall im früheren Osten Deutschlands wurden auch wir aus unserer Dorfgemeinschaft gerissen und mussten mit sehr wenig Hab und Gut versuchen, weiter im Westen eine neue Bleibe zu finden. Ich war damals knapp 5 Jahre alt und wusste natürlich nicht, was da mit uns geschah. Durch viele Erzählungen meiner Mutter, die immer von unserem ZUHAUSE sprach, war der Wunsch in mir schon lange gewachsen, einmal dorthin zurückzukehren, wo meine Wurzeln sind.
Als nun die Reise endlich stattfinden sollte, musste erst noch geklärt werden, ob meine Mutter, damals 74 Jahre alt, mitfahren sollte. Sie hätte mir alles sehr nahe bringen können. Einen besseren „Reiseführer“ hätte ich mir nicht wünschen können. Sie reagierte auf meine Nachfrage sehr zurückhaltend, was ich gut verstehen konnte. Ich hatte nämlich auch große Bedenken. Hätte sie eine Rückkehr in unser Heimatdorf, in dem heute kein Wort Deutsch mehr gesprochen wird, und auf unseren Hof überhaupt verkraftet? Jetzt wohnten andere Leute in dem Haus, das eigentlich ihr und meinem Vater gehörte. Sie hatte ihr halbes Leben dort verbracht, ihre Jugend dort verlebt, auf unserem Hof mit ihren Eltern und einigen Geschwistern gelebt und gearbeitet, Verwandte und Freunde im Dorf gehabt, ihren Mann, unseren Vater kennengelernt, geheiratet und meinen Bruder und mich geboren. Und dann noch viel schlimmer: Im Krieg dort ihren Mann und ihre Eltern verloren. Eigentlich war es gar keine Frage. Mir war viel wohler ohne sie zu fahren. Ich hätte viel Angst um sie gehabt. So versprach ich ganz viele Fotos zu machen, die ich ihr nach unserer Rückkehr schenken wollte.
Etliche Wochen vorher mussten Visa für meine Begleiter und mich, darunter meine Kollegin Frau K., die uns als Dolmetscherin begleiten wollte, in Köln bei der Polnischen Botschaft beantragt werden. Es ging schließlich hinter den „Eisernen Vorhang“, wie man damals sagte, in ein kommunistisches Land. 35,- DM Gebühren waren für jeden zu entrichten.
Am 9. September 1977 ging es morgens von Berlin aus los. Wir verließen West-Berlin an der Grenze Dreilinden. Wieder mussten Gebühren bezahlt werden, Visa- und Zollgebühren, 10,- und 5,- DM, Westgeld natürlich an die DDR. Dann ging es endlich über die Autobahn Richtung Frankfurt /Oder. Auch dieses war schon ein Erlebnis. Bisher hatten wir nie diese Autobahn befahren dürfen, immer war es nur die Strecke Helmstedt/Marienborn–West-Berlin als Transitreisende. Drei Strecken von West-Berlin nach West-Deutschland gab es insgesamt. So war es schon etwas Besonderes, das östliche Umland von Berlin einmal zu sehen.
Gegen 10.00 Uhr erreichten wir die Grenze Frankfurt an der Oder. Nach 2-stündigem Aufenthalt konnten wir weiterfahren und waren im heutigen Polen. Ab jetzt lasen wir nur noch polnische Ortsnamen und Beschriftungen. Das war für mich schon ein Schock. Das war einmal Deutschland! Mein Heimatland! Entschädigt wurden wir aber durch die wunderschöne Landschaft und die guten Straßen.
In Küstrin machten wir Mittagspause, bevor die Fahrt weiter ging über Sonnenburg nach Limmritz (heute Lemierzyce). Ich versuchte auf dieser Fahrt jeden Blick festzuhalten. Meine Anspannung hatte ich kaum noch unter Kontrolle. Dann war Limmritz erreicht. Wir fuhren die Chausseestraße entlang und bogen zum Dorfplatz (Dorfstraße) nach links herum. Mein Herz klopfte, als ich vor mir den großen Platz mit den alten Kastanienbäumen an den Höfen entlang sah. Wir brauchten nicht lange zu suchen, denn ich wusste sofort, dass unser Hof dort hinten rechts war. Das muß sich damals in mein Kindergedächtnis eingeprägt haben. Ansonsten hatte ich kaum klare Vorstellungen von unserem Dorf und seinem Leben damals.
Nun war der große Augenblick da. Ganz bewusst nahm ich jeden Schritt wahr, als wir auf die steinig-sandige Hofauffahrt gingen. Welch ein Weg! Meine Eltern, meine Großeltern und mein Bruder sind ihn hunderte Mal gegangen und mein Vater im Januar 1945 ein letztes Mal, als er im Krieg zum Volkssturm eingezogen wurde und nie wieder kam. Wen würden wir dort vorfinden? Ich hatte Angst vielleicht wegeschickt zu werden. So bat ich unsere Dolmetscherin die beiden Frauen, die hinten auf dem Hof vor dem Rest unserer ehemaligen Scheune Grünzeug in einer alten Maschine zerkleinerten und der kleine Enkel ihnen dabei zuschaute, in ein Gespräch zu verwickeln. Ich wollte derweil schon viele Fotos machen. Die hätte ich dann sicher gehabt.
Meine schlimmsten Befürchtungen traten Gott sei Dank nicht ein. Die jüngere der beiden Frauen war anfangs ziemlich misstrauisch, erzählte Frau K. später. Es war die Tochter des alten Bauernehepaares. Sie hatte erzählt, dass schon einige andere hier gewesen waren und gesagt hätten, sie kämen von diesem Hof. Ich weiß, dass eine Cousine in den 60er Jahren mit ihrem Mann aus der DDR hier war. Sie stammte nicht direkt von unserem Hof, aber ihre Mutter. Vielleicht waren noch andere Verwandte hier. Im Dorf gab es ja noch einige, die auch von meinen Großeltern abstammten und somit ihr Stammhaus hier hatten. Ich kann mir gut vorstellen, dass damals auch die Sprachbarriere zur Verwirrung der Maria geführt hat. Unsere Frau K. schaffte es Vertrauen herzustellen und so wurden wir zum Spätnachmittag zu ihnen ins Haus eingeladen. So viel Gastfreundschaft hatte ich gar nicht erwartet.
Das Erscheinungsbild des Hofes hatte sich sehr verändert beim Vergleich von alten Fotos mit der Wirklichkeit. Die Kriegsjahre hatten allem sehr zugesetzt. Leider war die große Scheune hinten ganz verschwunden und der Hof war durch einen Zaun in der Mitte nur noch halb so groß. Aber immer noch scharrten Hühner im Sand und Gänse liefen umher, die Katze hatte ein gutes Leben und im Stall standen zwei Pferde und ein paar Rinder.
Ich hatte es geschafft. Ich war in meiner Heimat angekommen, von der ich bis zu diesem Zeitpunkt nur eine verschwommene Vorstellung hatte. Diese Eindrücke wollte ich ganz festhalten. Hier also hatten meine Eltern fleißig gearbeitet, das Vieh versorgt, den Hof gepflegt und die Felder besorgt. Hier hatte ich meine ersten Schritte gemacht, beobachtet auch von meinen Großeltern, die hier im Altenteil wohnten. Ich stellte mir die Besucher vor, die früher oft zu uns kamen, denn es wohnten viele Verwandte in Limmritz, die auch zum damaligen lebendigen Dorfleben beitrugen. Ich sah mich mit Erlaubnis der jetzigen Bewohner überall um und konnte gar nicht genug sehen.
Dann ging es erst einmal auf Entdeckungstour durch Limmritz. Beeindruckend war der große Dorfplatz mit der prächtigen Linde in der Mitte, um den sich in einem großen Rechteck die Häuser und Gehöfte reihten. Neben dem Baum sahen wir jetzt nur noch den Sockel eines Kriegerdenkmals aus dem ersten Weltkrieg. Der ganze Platz war grasbewachsen, unterbrochen von den kreuz und quer verlaufenden Wegen, mal steinig, meistens sandig. In der Pfütze auf einem der Sandwege watschelten Gänse. Der hochaufragende Turm unserer Kirche war zwischen den Häusern und den Bäumen gegenüber gut sichtbar. Im leichten Nieselregen gingen wir dorthin, schauten und fotografierten. Dies war nun die Kirche in der unsere Eltern geheiratet haben und in der ich zur Taufe getragen wurde, sicher auch mein Bruder. Das ist lange her. Jetzt war es eine katholische Kirche. Wir wanderten an der Postum, unserem Flüsschen, entlang, sahen meinen ehemaligen Kindergarten und konnten auch noch den Bahnhof fotografieren. Die Zeit verging einfach zu schnell. Wir wollten doch noch vor dem Besuch bei „unserem Bauern“ nach Woxfelde (heute Gluchowo) fahren, um dort das Haus meiner Großeltern väterlicherseits, also das Geburtshaus meines Vaters zu sehen.
So fuhren wir über die Bruchstraße ins vier Kilometer entfernte Nachbardorf. Kurz nach dem Ortseingang auf der linken Seite war das Haus meiner Großeltern Schreiber zu sehen. Hier hatte mein Vater also seine Jugend verlebt. Von Bildern wusste ich, dass das Haus früher ein Fachwerkhaus war. Das war jetzt grau verputzt und sah gepflegt aus. Am Zaun stand eine alte freundliche Dame. Unsere Dolmetscherin stellte uns vor und so durften wir auf den Hof. Von den anderen Bewohnern war niemand zu sehen. So sahen wir uns nur um und fotografierten. Alles sah gepflegt aus, auch die Nebengebäude, die um den Hof gruppiert waren. Lange hielten wir uns dort nicht auf. Beim nächsten Heimatbesuch im darauffolgenden Mai 1978 sind wir dort sehr herzlich empfangen worden. Noch ein Blick auf die Woxfelder Kirche und dann ging es zurück nach Limmritz.
Angekommen wurden wir in unserem einfach eingerichteten Haus von den Bauern freundlich empfangen. Jetzt war auch der alte Mann dabei. Sie bewirteten uns in unserer ehemaligen Schlafstube mit Schinkenbrot und Piroggen. Dank Frau K.s Einsatz wurde nun viel erzählt. Ohne sie hätten wir nicht so viel von diesem Heimatbesuch gehabt. Irgendwann kam der Bauer mit einem Christusbild und zeigte es mir. Er wollte wissen, ob es früher uns gehörte. Es lag auf dem Hof, als er nach dem Krieg hierher gekommen war. Er und seine Frau waren ebenfalls Vertriebene aus dem früheren Ostpolen, das sich dann die Russen nahmen. Leider konnte ich zu dem Bild nichts sagen. Dankbar verabschiedeten wir uns gegen 20 Uhr und teilten ihnen noch mit, dass wir im nächsten Frühjahr wiederkommen wollten. Auf der Dorfstraße war es stockdunkel, als wir in unser Auto stiegen und Richtung Westen fuhren. Etwa um Mitternacht waren wir wieder in Berlin.
Eine ganz besondere Reise für mich war zu Ende gegangen. Ich wusste genau, es war die erste, aber es würde nicht die letzte sein. Ich wollte wiederkommen und noch viel mehr und alles noch genauer sehen. So kam es auch. Es folgten noch vier weitere Fahrten in meine Heimat.