Das Hospital in Zielenzig von Februar bis September 1945 – Teil 1
Von Dora Quast, geb. Praetsch
Nachdem die Russen am 1. Februar 1945 Zielenzig eingenommen hatten, wurden die meisten öffentlichen Gebäude und viele der Häuser durch Brandlegung zerstört. Rathaus, Kreishaus, Postamt, Kreiskrankenhaus, selbst die schöne Kirche, ja ganze Straßenzüge wurden ein Raub der Flammen. Das große Getreidelager der Landwirtschaftlichen Genossenschaft wurde auch niedergebrannt. Zielenzig brannte acht Tage.
Aus Angst vor den Russen hatten viele Menschen in Bodenkammern und Kellern Zuflucht gesucht. Sie verbrannten oder erstickten. Es gab auch keinen Strom mehr. Das Elektrizitätswerk stand still. In den ersten Februartagen hatten einige Zielenziger, deren Wohnungen zerstört waren, in einem kleinen Häuschen am Wanderschen Weg (einer Ausfallstraße in Richtung Wandern) bei einer alten Frau Zuflucht gesucht. Darunter befanden sich auch Dr. Eske und Fridel Schmaus (geb. Praetsch, ältere Schwester der Verfasserin). Als die ersten Verwundeten hereinwankten, wurden sie von Dr. Eske und Frau Schmaus notdürftig versorgt. Seine Arzttasche hatte Dr. Eske retten können. Auch ein russischer Offizier erhielt erste Hilfe. Als Dank händigte er Frau Schmaus eine Bescheinigung aus. Diese sollte für die kommende Zeit ein wichtiges Dokument werden. Das war der Anfang des Hospitals. So wurde es genannt, denn es war weder Lazarett noch Krankenhaus. Die wenigen Betten in dem kleinen Haus waren schnell belegt.
Fridel Schmaus wagte sich nun mit ihrer Bescheinigung überall hin. Mit Hilfe einiger Männer rettete sie aus den Kellerräumen des Krankenhauses sehr viel an Betten, Decken, Geräten, Verbandsmaterial. Dann begab sie sich mit viel Mut zu der inzwischen eingerichteten russischen Kommandantur in der Triftstraße. Dort bat sie um Hilfe. Und der Kommandant half. Das Gebäude am Kirchplatz, wo früher die Landwirschaftsschule, später der Arbeitsdienst und die Mittelschule sich befanden, durfte nun als Hospital eingerichtet und bezogen werden. Es hatte mehrere große Räume. Bald standen sie voller Betten. Krankenschwestern und Pfleger meldeten sich. Auch wurde eine Küche eingerichtet. Frauen aus Drossen und Berlin, durch die Wirnisse des Krieges nach Zielenzig gelangt, arbeiteten in der Küche.
Oberschwester Margot Burgstett assistierte Dr. Eske. Fridel Schmaus übernahm von nun an die Verwaltung und Versorgung. Alle leerstehenden Häuser wurden abgesucht.
Wäsche aller Art, Betten, Decken, Küchengeräte, Seife, Waschmittel, Lebensmittel, Kohlen und Holz, alles wurde gebraucht. Fridel Schmaus durfte auch ein Schwein für das Hospital holen. Sie trieb es von Ostrow nach Zielenzig, es fiel ihr sehr schwer. Sie schaffte es mit großer Mühe. Es war sehr gefährlich überall hinzugehen. Die Stadt war voller Soldaten. Der Eske war Chirurg und führte mehrere Operationen aus. Inzwischen hatte auch Dr. König von dem Hospital erfahren. Er kam und übernahm die ambulante Behandlung. Das Haus von Dr. König war nicht niedergebrannt. Aber er durfte es nicht betreten. So konnte er auch nichts aus seiner Praxis retten. Viele Menschen brauchten ärztliche Hilfe. Die meisten Patienten litten an ruhrähnlichen Darmerkrankungen.
Noch war Februar und die russischen T34-Panzer rollten und rollten westwärts. Während dieser Zeit kam auch Herr Lengefeld, der später seine Erlebnisse in dem Buch „Zwischen Russen und SS“ schilderte, in das Hospital. Es war das einzige „Krankenhaus“ im Kreis Oststernberg und darüber hinaus. Hier lagen Volkssturmmänner, Soldaten, Ukrainer, Po-len, ein Holländer, Russen und Ungarn. Viel hatten schwere Wunden, und da sie zu spät kamen, war die Sterblichkeitsrate sehr hoch. Die Ungarn hatten noch ihre Familien nach Groß Kirschbaum (Truppenübungsplatz Wandern) gebracht. Nun wurden sie auch dort überrollt. Ungarn und Russen wurden aber bald abgeholt. Sie kamen in das russische Lazarett nach Wandern.
Die Kasernen im Stadtwald blieben unversehrt. Dort lag nun russisches Militär. In den Nächten suchten die Soldaten die Stadt heim. Die zu spät geflohenen Zivilisten merkten bald, daß der Fluchtweg nach Westen abgeschnitten war. Der Kessel war zu. Nun irrten sie in den Wäldern umher, Frauen, Kinder, alte Leute, dazwischen Soldaten. Es gab viele Tote. Die Kälte war streng. Mehrere Kinder erlitten Erfrierungen dritten Grades. Einige verloren ihre Füße und Beine. Viele Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt und benötigten ärztliche Hilfe. Gott sei Dank blieb die Apotheke erhalten. Die Apothekerin, Frau Lehnhardt, versorgte das Hospital mit den ihr zur Verfügung stehenden Medikamenten.
Plötzlich verschwanden viele Menschen. Wir wußten erst gar nicht, was los war. Auch aus dem Hospital wurden Krankenschwestern und Pfleger abgeholt. Wir sahen sie nie wieder. Der NKWD (russ. Geheimdienst) war in Aktion getreten. Erst später erfuhren wir, daß sie eingesperrt und nach langen Verhören abtransportiert waren. In Schwiebus war ein großes Sammellager. Von dort aus gingen Transporte über Posen nach Rußland. Davon wußten wir damals noch nichts. Aber alle lebten in ständiger Angst, was der kommende Tag bringen wird.
Viele Mütter von kleinen Kindern wurden abgeholt. Aber es gab auch in dieser Zeit hilfsbereite Menschen, die sich der Kinder annahmen.
Es war März geworden. Draußen begann es mild zu werden. Ostern war da. Kurze Zeit nach Ostern mußte das Haus (Hospital) am Kirchplatz geräumt werden. Uns wurde das Gebäude der Landwirtschaftsschule in der Gartenstraße zugewiesen. Nach gründlicher Reinigung der stark verschmutzen Räume begann dann der Umzug. Er stellte an jeden große Anforderungen. Hier in der Gartenstraße war alles geräumiger. Auch war ein Garten da, wo Wäsche getrocknet werden konnte. Eines Tages wurde Dr. König vom NKWD weggeholt. Wir waren erschüttert! Noch nicht warm geworden in der neuen Umgebung, hieß es dann im April: Ausziehen! Also begann wieder der Umzug. Das Haus von Nierich in der Töpferstraße wurde uns zugewiesen. Auch das Haus von Lehrer Knitter benutzen wir. Nierichs Haus mit den vielen Treppen war vollkommen ungeeignet. Hier lag auch ein alter Arzt aus Riga. Seine Frau, hochbetagt, blieb bei ihm. Leider starb er.
Mitte April wurde Fridel Schmaus, der die Verpflegung der vielen Menschen unterstand, abgeholt und verhaftet. Inzwischen kam Dr. König wieder. Seine Hände waren rot und dick angeschwollen. Er konnte sie kaum bewegen. Dann holten sie mich. Nachdem ich meine BDM-Zugehörigkeit gestanden hatte, mußte ich unterschreiben. Lesen konnte ich das Dokument nicht, es war russisch geschrieben. Das Verhör fand im Haus von Miegel (hinter dem Rathaus) statt. Die dunklen Kellerräume waren alle belegt. Im Geist nahm ich Abschied von meinen Eltern und meinen Kindern (Tochter Karin 6 Jahre, Sohn Ulrich 3 Jahre) in der Annahme, nach Osten verfrachtet zu werden. Aber am nächsten Nachmittag durfte ich in das Hospital zurück!
An einem der ersten Maitage war Fridel Schmaus wieder da! Sie war vom NKWD mitgenommen worden bis kurz vor Berlin. Dort tobten noch die Kämpfe. Auf einem Dachboden, der kaum noch Ziegel besaß, mußte sie einige Nächte verbringen. Dann durfte sie gehen. Hungrig und erschöpft schleppte sie sich nach Zielenzig zurück. Sie brach noch im Mai zusammen. Später erkrankte sie schwer. Sie bekam eine Bauchfellentzündung. Das Dokument hatte man ihr weggenommen. Jetzt mußten wir wieder zurück in die Gartenstraße. Dieser Umzug war der schwerste. Viele Kranke lagen schon seit Februar bei uns. Sie haben all die Umzüge mitmachen müssen. Auch wir waren geschwächt. Die ungenügende Ernährung war daran Schuld. Am Bahnhof von Zielenzig, beim Pionierstab, war ein großes Gefangenenlager. Von dort bekamen wir Hilfe.
Nun waren wir wieder in der Landwirtschaftsschule. Dort blieben wir bis zu unserem Weggang. Auf den Postumwiesen hatten sich russische Soldaten eine Sauna eingerichtet. Dort waren wertvolle, geschnitzte Eichenmöbel aufgestapelt. Sie dienten als Heizmaterial.
Unsere Vorräte schrumpften. Die Wäsche wurde knapp. Wir holten aus den Häusern, was noch zu verwerten war. Oft gingen wir knietief durch Bettfedern. Die roten Inletts wurden von den Russen als Fahnen gebraucht. Am 5. Mai knallte es schon früh aus allen Rohren.
Das hielt den ganzen Tag über an. Der Krieg war zu Ende, der Sieg wurde gefeiert. Wir nahmen es alle mit Erleichterung zur Kenntnis. Nun kamen mehrere Einwohner zurück, die im Westen Zuflucht gesucht und gefunden hatten. Unter ihnen befand sich auch Frau Kalisch. Mit vier kleinen Kindern war sie zu Fuß aus Potsdam gekommen. Sie fand nur Ruinen vor. Frau Zimmermann und Tochter Helga erreichten Zielenzig mit einem alten Fahrrad, das sie abwechselnd benutzen. Beide waren Rotkreuz-Schwestern und fanden gleich bei uns Arbeit, wie auch Frau Strehmel, die mit ihnen kam. Auch traf die Lungenfachärztin aus Sternberg mit Schwester Anna im Hospital ein. Somit hatten wir drei Ärzte.
Auch in der Gartenstraße führte Dr. Eske einige Operationen aus. Obwohl er nur primitiv eingerichtete Räume zur Verfügung hatte. Der russische Kommandant sorgte dafür, dass wir jeden Morgen eine große Kanne Magermilch bekamen. Sie wurde von Landwirt Scheidemanns Betrieb in der Triftstraße abgeholt. Daraus gab es mit Mehl gekocht eine Suppe. Sie brannte zwar immer an, aber wir gewöhnten uns an den Geschmack. Außerdem bekamen wir eine Art Kommißbrot. Es war naß und glitschig. Durch Rösten auf der Herdplatte machten wir es genießbar. Aufstrich gab es nicht. „Daumen und Zeigefinger“ mußten genügen.
Auf den Dörfern konnten die Kinder nun wieder im Freien sein: Leider wurde ihnen manchmal herumliegende Munition zum Verhängnis. Viele Kinder wurde bei uns eingeliefert mit schlimmen Verbrennungen und zerfetzten Gliedern. Beine und Arme mußten amputiert werden. Die Zahl unserer Pa-
tienten nahm zu. Nun wurden die ersten Typhusfälle eingeliefert. Ein Nebengebäude der Landwirtschaftsschule, in dem sich früher die Landwirtschaftliche Buchstelle Oststernberg, die „Wirkungsstätte“ meines Mannes befunden hatte, wurde nun als Quarantäne(bereich) eingerichtet. Zumeist waren alte Menschen davon betroffen. Sie kamen nicht mehr durch.
Bisher hatten wir die abgegebene Kleidung der Kranken in einem Raum verwahrt. Inzwischen war sie so verlaust, daß alle Sachen verbrannt werden mußten.
Leider war es schon zu spät; die Läuse hatten sich auch anderswo eingenistet. Die Verstorbenen wurden in Bettücher gewickelt, bevor sie beerdigt wurden. Nun mußten sie ohne Hüllen in die Gräber gelegt werden. Die Bettwäsche wurde knapp. Waschmittel, Medikamente und Verbandsmaterial gingen zur Neige. Eines Tages brachten Gefangene des Lagers das Elektrizitätswerk in Gang. Endlich brannte wieder das Licht! Wir hatten Strom.
Der Betrieb im Hospital fing morgens um 4 Uhr an, abends war Ruhe. Die Nächte waren sehr unruhig. Ausgeschlafen hatte keiner. Meistens knurrte uns der Magen. Patienten gab es genügend. Aber Verwundete waren nicht mehr dabei. Jetzt herrschten Typhus und Darminfektionen. Viele hatten Ödeme, Karbunkel, Krätze. Hunger und Mangel an Hygiene waren die Ursachen. Eines Tages bekam Dr. König den Befehl, binnen
24 Stunden Zielenzig zu verlassen. Wir konnten es kaum fassen. Mit einem Handwagen, auf dem er seine Habe verstaut hatte, zog er in Richtung Oder. Obwohl sein Haus unversehrt war, hatte er es seit Anfang Februar nicht mehr betreten dürfen.
Alle, die einen Garten besaßen, hatten im Frühjahr gesät, Bohnen, Erbsen, Kartoffeln gelegt. Wir bekamen jetzt eine Hebamme, Helene, eine Deutschpolin. Den Schwangeren ging es schlecht. Durch Vergewaltigung mit Gonnorhoe angesteckt, starben sie nach der Entbindung an Sepsis. Die Babys überlebten nicht. Bei einer Patientin machte Dr. Eske einen Kaiserschnitt. Mutter und Kind kamen durch. Es gab keine Medikamente mehr. Fridel Schmaus sprach mit dem russischen Kommandanten. Er stellte ein Armeefahrzeug zur Verfügung. Damit wurden Oberschwester Margot und Schwester Helene nach Berlin geschickt, um Medikamente zu holen. Margot stammte aus Berlin. Sie hätte Gelegenheit gehabt, sich abzusetzen. Aber uns ließ sie nicht im Stich. So hatten wir wieder die nötigsten Medikamente. Margot und Helene erzählten uns, daß die RM Wert hätte, und daß es für viele RM auch etwas zu kaufen gäbe. Anfang Februar hatte das Geld auf den Straßen herumgelegen. Es hieß, das hat keinen Wert mehr. Wir alle hatten kein Geld.
(Fortsetzung in Heft 2/2010)