Mit der Vertreibung aus Rauden endete auch ein Teil unserer Kindheit
Von Edeltraut Grey, geb. Klemke
Mein Bruder Burghard (Harri), geb. 1933, und ich, geb. 1934, gingen beide, wie auch die anderen Kinder in den Nachbarort Neudorf zur Schule.
Die Schule in unserem Ort wurde 1938 abgerissen. Wir sind gelaufen oder mit dem Fahrrad gefahren, ca. drei Kilometer.
In den Sommer- und Herbstferien war Kühe hüten angesagt. Die anderen Kinder kamen auch mit Kühen. Wir liefen dann alle gemeinsam zur Wiese und dann auch wieder zurück. Jede Kuh kannte ihren Weg und auch den Hof, wo sie hingehörte.
Rauden, umgeben von viel Wald, hatte einen schönen See, da kam im Sommer das Baden nicht zu kurz. Im Winter, als der See zugefroren war, war Schlittschuhlaufen angesagt, bis man steif gefroren war. Dann ging es nach Hause, im Ofen war noch Feuer zum Aufwärmen, denn die Finger kribbelten. Einen großen Berg (Fichtenberg) mit vielen Schlittenbahnen und einer Eisbahn gab es ebenfalls.
Natürlich mussten wir auch Aufgaben erfüllen. Der Vater wurde 1943 zur Wehrmacht eingezogen, wir mussten dann beim Futter heranholen helfen und Maisstängel häckseln.
Am 2. Februar 1945, ca. 14 Uhr, standen meine Mutter und ich an der Straße, es war Tauwetter und deutsche Soldaten führten Pferde mit einem Panjewagen. Meine Mutter fragte: „Wie weit weg sind die Russen?“, aber auf dem Wagen saßen schon gefangene russische Soldaten.
Weil meine Mutter und Großmutter nicht allein mit uns im Haus bleiben wollten, gingen wir zum Nachbarn. Dort war im Haus ein Keller mit einer Falltür, da sind wir alle durchgestiegen. Der Vater der Nachbarin hat die Tür von außen zugemacht und noch irgendetwas drauf gepackt, sodass nichts zu sehen war.
Auf einmal schrie jemand: „Türen auf!“ Es muss ein deutscher Soldat gewesen sein, der durch das Haus rannte. Als es wieder ruhig war, konnten wir alle den Keller verlassen. Trotzdem blieb die Angst. Hinter dem Berg an der Straße brannte Vorraths Holzhaus und einen Tag später, gegenüber von uns, Beiers Haus.
Mit meiner Mutter, Großmutter und meinem Bruder, sowie noch einigen anderen Frauen und ihren Kindern, verbrachten wir auch einige Zeit im Wald. Tiefflieger flogen über uns hinweg, sie suchten bestimmt deutsche Soldaten. Später waren wir wieder im Haus unseres Nachbarn. Da kamen Russen und wollten meinen Bruder mitnehmen.
Sie sagten: „Du schöne schwarze Haare, du mit nach Moskau kommen.“
Eine alte Frau und ihr Enkel (2 Jahre) starben an Kohlegase, ihre Tochter überlebte, wurde aber ein oder zwei Tage später von einem russischen oder französischen Offizier erschossen.
Die Familie Kestner wurde von Paul Vorrath auf dem Hof begraben. Von den Nachbarn sind wir dann zu Langes gegangen. Dort waren viele Leute, dadurch fühlte sich auch unsere Mutter sicherer. Russische Soldaten wurden auf Langes Hof von russischen Offizieren, die mit einer Kutsche kamen und für Ordnung sorgten, mit den Füßen (Stiefeln) blutig getreten. Es kamen auch Kosaken ins Haus. Die Frauen mussten aus rohen Kartoffeln und viel Speck Bratkartoffeln in einer großen Pfanne braten. Es waren auch schwarzmeerdeutsche Soldaten dabei, die deutsch sprachen. Es war ein Kommen und Gehen. Die einen haben einen Topf Schmalz mitgebracht, die Nächsten haben ihn wieder mitgenommen. Das Nationalgericht der Soldaten war wahrscheinlich im Krieg reiner Sprit, dazu Wasser, Brot und rohen Speck (nicht geräuchert).
Am See haben die Soldaten ihre Autos gewaschen. Sie haben uns mit Puffweizen versorgt, der lecker geschmeckt hat. Zwei bis drei Soldaten sind mit dem Kahn auf den See gefahren und haben Eierhandgranaten gezündet. Durch den Druck ist bei den Fischen die Blase geplatzt und sie schwammen tot an der Wasseroberfläche. Im Wald waren russische Soldaten mit Panzer stationiert. Sicherlich Nachschub für die Front an der Oder und Berlin. Als sie die Wälder verlassen hatten, sind wir Kinder losgezogen, um nachzusehen. Große Bunker waren aus Kiefernstämmen und Sand gebaut. Eingebuddelt fanden wir Fleisch und Kernseife. Anschließend waren polnische Soldaten im Wald zu sehen. Aber nicht lange, dann waren sie wieder fort.
Die Felder waren soweit bestellt und wir waren wieder in unserem Haus. Wir haben nur noch Kartoffeln gelegt, die dann anschließend gehäufelt wurden.
Am 24.6.1945 um ca. 11 Uhr kam ein polnischer Offizier mit einer Peitsche in der Hand die Straße entlang. Wir waren gerade vor dem Hof. Er sagte zu uns, dass wir in einer halben Stunde das Dorf verlassen müssten. Ja, was nun mitnehmen? Brot befand sich noch im Backofen hinter der Scheune. Davon wurde etwas Heißes verpackt. Speck und Schinken musste auch mit auf den Handwagen, genau wie Sachen, Schuhe, Eimer, Kochtöpfe. Oberbekleidung hatte man doppelt und dreifach übergezogen. Einige Frauen waren zu der Zeit in den Blaubeeren. Sie wurden mit einem Pferdegespann und Leiterwagen aus dem Wald geholt.
Dann hatte die Stunde geschlagen, um den Ort zu verlassen. Am Ortsausgang wurde von polnischen Soldaten nochmal kontrolliert, ob wir nicht zu viel aufgeladen hatten. Einer schnitt an unserem Wagen die Schnur durch, um noch etwas runter zu schmeißen. Dabei schnitt er unserer Mutter in einen Finger, weil sie sich dagegen wehrte. Bis zum späten Nachmittag mussten wir, bis alle aus den umliegenden Dörfern zusammen getrieben waren, im Straßengraben zwischen Neudorf und der Straße von Küstrin nach Posen ausharren. Keiner wusste was demnächst passiert. Dann ging es los, viele, viele Menschen mit Handwagen, Holzschubkarren, Kinderwagen, Hundewagen und auch Pferdewagen. Die polnischen Offiziere hatten eine Kutsche mit zwei Pferden, dort hatten sie die Frau vom Lehrer Stockfisch mit ihrem Säugling auf den Kutschbock genommen. Der Kinderwagen war hinter der Kutsche angebunden. Der erste Halt war abends auf einer Anhöhe bei Alt-Limmritz. Die Frauen aus Rauden haben ihre gepflückten Blaubeeren für eine Suppe geopfert. Wir übernachteten alle unter freiem Himmel.
Am nächsten Vormittag ging es weiter in Richtung Küstrin. Es war sehr warm, der Asphalt war weich und klebte an den Füßen. Küstrin war zerstört, es war eine provisorische Holzbrücke errichtet worden und dort mussten wir alle rüber. Es wurden uns dann noch Hunde und Pferde weggenommen, danach konnte jeder dahin gehen wo er wollte.
Wir hatten zwar Verwandte in Berlin, wussten aber nicht, ob diese noch am Leben waren. Kurz vor Manschnow machten viele noch eine kurze Pause. Dort haben wir in Kartoffelmieten noch einige gute Kartoffeln zum Kochen gefunden. Danach ging es wieder weiter. Viele hatten schon eine andere Richtung eingeschlagen. Die nächste Pause fand in Diedersdorf bei Seelow statt. Dort kamen wir in einer Stellmacherei unter. In der Nähe war ein Erbsenfeld und so kochten einige Frauen Erbsensuppe. Wir blieben dort zwei bis drei Tage, dann zogen alle weiter in Richtung Berlin.
Mit ein paar Familien bogen wir Richtung Behlendorf ab. Wegen schlechtem Wetter blieben wir dort drei Tage. Danach landeten wir in Hasenfelde. Von dort aus ging Frau Knopf, auch aus Rauden, mit uns und einer weiteren Familie (Reigrotzki) auf einen Waldweg nach Buchholz bei Fürstenwalde/
Spree.
Dort angekommen wurden wir in der Schule untergebracht und dann im Dorf verteilt. Meine Mutter, meine Großmutter sowie mein Bruder und ich wurden vom Bauer Edmund Daske und seiner Frau Ilse freundlich aufgenommen. Wir bekamen ein Zimmer in ihrem Arbeiterhaus als Unterkunft. Nach vier Tagen in Buchholz wurde meine Mutter schwer krank, Hr. Daske brachte sie mit dem Pferdewagen nach Fürstenwalde in die Parkstraße. Mein Bruder wollte sie am 9. Juli besuchen, aber sie war schon beerdigt. Woran sie starb, haben wir niemals erfahren.
Nun mussten wir uns beide mit unserer Großmutter durchschlagen, sie war auch nicht mehr die Jüngste. Frau Daske hat sich rührend um uns gekümmert. Wir halfen ihr bei der Kartoffelernte und putzten Rüben. Später hüteten wir für Milch und Hirsebrei bei den Russen Kühe. Wir kochten selbst, probierten allerlei aus und es schmeckte auch. Irgendwann fuhren wir nach Berlin, um Onkel und Tante zu besuchen. Sie überlebten die Bombenangriffe, auch ihre Wohnung war heil. 1942 oder 1943 waren unsere Eltern mit uns Kindern letztmalig dort, aber wir haben es gefunden.
Am Pfingstsonnabend 1946 war im Saal des Gasthauses Reckzeh eine Feier. Wir waren gerade dorthin unterwegs, als unser Vater über den Dorfplatz gelaufen kam. Er kam aus englischer Gefangenschaft. Wir nahmen ihn mit in unser neues Zuhause und gingen später gemeinsam zur Feier. Gefunden hatte er uns, da wir unsere Adresse bei unserem Onkel hinterließen, mit dem unser Vater Kontakt aufnahm.
Nun ging es langsam bergauf.