Meine Erinnerungen an das Kriegsende – 2. Teil
(1. Teil in Heft 3/09)
Wegen der vereisten Straßen, vielleicht aber auch wegen der Verantwortung für die noch in den Ställen stehenden hilflosen Tiere, wurde von allen Bewohnern des Ortsteils Kalkmühle das Ausweichquartier in der Hammer-Schneidemühle bezogen. Mein Vater, der im Sommer 1944 aus Altersgründen als Offizier der Wehrmacht entlassen wurde, hatte die Meinung vertreten, da er sich während der Kriegszeit gegenüber der polnischen und ukrainischen Bevölkerung immer korrekt verhalten habe, dass ihm seitens der Sowjets nichts vorgeworfen werden könne.
Der erste Russe, der am 2.2.1945 wohl in der Absicht, „Kapitalisten“ zu liquidieren, in die Hammer-Schneidemühle kam, eröffnete sofort das Feuer auf meinen vor dem Hause stehenden Vater. Leicht verwundet lief er ins Zimmer und wurde dort zusammen mit dem Jagdhund erschossen, als meine Mutter hinzukam, um ihn zu verbinden. Nach Erhalt der von mir geschriebenen Zettel ist dann meine Mutter zum Lagertor nach Landsberg gelaufen, in der Hoffnung, mich dort sehen und sprechen zu können. Wir waren jedoch tags zuvor auf dem Güterbahnhof in Landsberg verladen worden und nun auf der Fahrt über Kreuz nach Posen. Vielleicht war es aber auch ganz gut, dass dieses Treffen nicht zustande kam. In dieser Situation konnte ich meiner Mutter wenig Tröstliches sagen, und so hatte ich selbst immer noch die Hoffnung, dass die Eltern in Sicherheit seien.
Im Lager in Polen erfuhren wir dann vom Waffenstillstand. Die Kalaschnikows der Posten auf den Wachtürmen hämmerten, und wir lagen kurzfristig auf den Barackenfußböden, doch gab es keine Verletzten. In den nächsten Tagen erfolgte dann der „Fleischbeschau“; Aufteilung nur nach körperlichem Zustand in die Kategorien I – IV. Gruppe I und II sollten zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion, Gruppe III und IV wurden auf die Lager in Polen verteilt. Trotz eines vorher erlittenen Lungenschusses landete ich in Gruppe II, und wir fuhren durch Polen ins Ungewisse. Als ich durch die Ritzen des Wagons schaute, sah ich in der Ferne bunt und festlich gekleidete Menschen, die zum Gottesdienst gingen. Es erschien mir, dass also hier wirklich der Friede eingezogen sei. Da fast alle Strecken eingleisig waren, stand der Zug mehr, als dass er fuhr. Eines Abends, nach etwa 14 Tagen, fuhren wir auf dem Bahnsteig in Stalingrad ein. Der dortige Kommandant war mit der ihm zugedachten Fracht für den Wiederaufbau Stalingrads nicht einverstanden. Zielort war nun ein Lager in Nischni Tagil im Ural, das wieder aufgefüllt werden konnte. Probleme gab es jedoch für uns, da die Verpflegung nur bis Stalingrad gefasst war, und nun fast 14 Tage länger bis in den Ural reichen musste. Hier angekommen, waren alle so schwach, dass wir mit Lastkraftwagen ins Lager gefahren werden mussten, wo uns etwa 30 ungarische Soldaten erwarteten, die vorwiegend im Versorgungsbereich beschäftigt wurden und waren. Es war der Rest einer Belegschaft ungarischer und italienischer Soldaten, die wohl im Herbst 1943 in Gefangenschaft geraten waren. Das Lager bestand aus zweigeschossigen Holzhäusern, wobei auch ein Gebäude als Entlausungsanstalt benutzt wurde. Hier wurden alle hindurch geschleust. Auf der Eingangsseite musste alles, was man auf dem Leibe trug, einschließlich der persönlichen Gegenstände, abgegeben werden. Da sich dieses schnell herumsprach, hatten wir jedoch versucht Kleinigkeiten, die einem vorher noch nicht weggenommen waren, wie Messer oder Nähzeug zu verstecken. Doch dieses meist ohne Erfolg, da zwischenzeitlich eine Razzia seitens des Wachpersonals durchgeführt wurde. Nach der Entlausung und Abrasierung sämtlicher Haare, soweit noch nicht vorher geschehen, wurden uns fremde Kleidungsstücke, meist ungarische, wieder zugeteilt. Erinnerungsstücke und persönliche Gegenstände waren verloren und gab es nicht zurück. Nach einer gewissen Erholungszeit erfolgten die verschiedensten Arbeitseinsätze. Bei einem Panzerwerk, hier liefen im Sommer 1945 noch immer unvermindert eine große Anzahl von Panzern vom Band, mussten wir versuchen die auf riesigen Halden liegenden in sich verflochtenen Eisenspäne auseinander zu ziehen und auf Eisenbahnwagons zu verladen. Ein Ziegelwerk wurde von unseren „Spezialisten“ wieder in Betrieb gesetzt, doch konnte fast keiner die festgesetzte Arbeitsnorm, um abends zu der Fischgrätensuppe noch 1/4 l Kascha zu erhalten, erreichen. Diese kleine Zusatzverpflegung reichte nicht aus, um den Kräfteverschleiß zu kompensieren. Trotz der kurzen warmen Jahreszeit wurde mit dem Bau der wohl ersten befestigten Straße im Ort begonnen, wobei wir die für den Unterbau erforderlichen Feldsteine mit selbstgebauten Tragen vom umliegenden Gelände heranschleppten. Am Abend waren politische Schulungen Pflicht, zu denen wir im Freien Aufstellung nahmen. Ein Politoffizier hielt seine Ansprache, die von einem Dolmetscher meist unverständlich übersetzt wurde. Allerdings verstanden wir damals im Sommer 1945 dass die Grenzen von 1937 erhalten bleiben. Die stehende vordere Reihe wurde von uns abgelöst, während im hinteren Bereich viele auf dem Boden hockten. Die körperliche Arbeit und die knappe Ernährung hatte an unseren Kräften gezehrt. Infolge der starken Temperaturschwankungen und der nicht mehr voll funktionsfähigen Lunge, bekam ich eine Bronchitis und wurde in das Lazarett des Lagers eingewiesen. Dieses wurde von deutschem Pflegepersonal unter russischer Leitung geführt. Nach einigen Tagen Aufenthalt erfolgte eine Visite durch eine russische junge Ärztin und dem zuständigen deutschen Arzt. An meinem Bett angekommen, zeigte die Ärztin auf mich. Der Arzt sagte ich hätte nur noch eine leichte Bronchitis. Die Ärztin darauf im Befehlston „fährt mit“. Für eine geplante Fahrt in ein „Erholungslager“ auf der Krim waren zuvor zwei Kameraden verstorben und es musste nun Ersatz beschafft werden. Bei der Abfahrt am nächsten Tage kam die Ärztin, brachte mir eine Decke und wies mir den Platz auf der Plattform des Lkws hinter dem Führerhäuschen an. Aus welchen Beweggründen die Ärztin gehandelt hatte – war es die Ähnlichkeit mit einem ihr lieb gewonnenen Menschen oder mein damals sehr jugendliches Aussehen – habe ich nie erfahren.
Die Autofahrt ging dann nach Swerdlowsk in ein anderes Lager. Hier wurde einer der ersten Transporte zusammengestellt, die nach Deutschland fahren sollten was uns jedoch nicht mitgeteilt wurde. Es sollte wohl nicht bekannt werden, dass aus diesem Gebiet bereits Kriegsgefangene entlassen würden. Dieses war wohl auch der Grund für die Nachricht einer Verlegung in ein „Erholungslager“. Erst nachdem im weißrussischen Gebiet die Wagontüren geöffnet werden durften, änderte sich die Hoffnung in Gewissheit, dass eine Entlassung bevorstehe. Enttäuschung gab es jedoch für einen Kameraden und für mich, als wir die rot-weißen Pfähle an der Oder sahen und wir somit nicht mehr nach Hause konnten. Wegen Ruhrerkrankung haben leider viele Kameraden die vierwöchige Fahrt nicht überstanden und konnten nicht mehr aus dem Lager in Frankfurt entlassen werden. Wir fuhren mit den auf dem Bahnhof stehenden offenen Loren eines Güterzuges nach Berlin. Eine von einigen wohl erträumte freudige Begrüßung durch die Bevölkerung fiel aus. War es der eigene Kummer, war es bereits die politische Beeinflussung, dass wir die Kriegsverbrecher seien oder war es unser Aussehen, bei mir in ungarischen Uniformstücken mit zwei unterschiedlich großen Holzklappern und kahl geschorenem Kopf? Als ich nun Anfang September in Strausberg ankam, erfuhr ich, was sich in der Hammer-Schneidemühle abgespielt hatte.
Der Krieg war zu Ende, doch nun galt es für die Überlebenden, einen neuen Anfang zu finden. In Berlin fand ich dann bei einem Bruder meines Vaters, der seine Frau im Oktober 1944 verloren hatte in der ausgebombten Wohnung Unterschlupf, Rat und Hilfe. Er schlug mir vor, Bauingenieurwesen zu studieren, da ich dann mein ganzes Leben bei dem Wiederaufbau in Deutschland eine Aufgabe hätte. Diese wäre, so glaubte ich, auch eine Basis für einen Neuanfang in der Neumark gewesen, da ja zu diesem Zeitpunkt unsere Heimat nur „unter polnischer Verwaltung“ stand. So habe ich noch weit über das Rentenalter hinaus diesen Beruf ausgeführt und meinen möglichen Beitrag zum Wiederaufbau beigetragen.
Otto-Karl Barsch