Aus der Neumark in die Altmark – Teil 1
Bericht über eine geglückte unglückliche Flucht
Niedergeschrieben zum 60. Jahrestag der Ereignisse im Januar 2005 von Hagen Stein
Widmung
Den beiden großartigen Müttern, meinen Geschwistern und all den tapferen Frauen, die mit aufopferungsvoller Liebe, oft mit letzter Kraft und unter unsäglichen Bedrohungen ihre Kinder durch Bombardierung, Flucht und Vertreibung geführt und aus Not und Verzweiflung gerettet haben. Und den Tausenden, denen schuldlos dieses Glück versagt geblieben ist.
Sternberg/Neumark, Januar 1945
Unsichtbar und allgegenwärtig: die Angst
Seit Weihnachten 1944 sind etwa vier Wochen vergangen, wir befinden uns bereits im Jahre 1945. Aus dem Fenster einer sich merklich abkühlenden und auf hastigen Aufbruch schließen lassenden Wohnung schaut ein dick vermummter Junge mit tränenverschleiertem Blick auf einige wenige Holzvergaserlastwagen in sommerlichem Tarnfarbenanstrich, die sich die verschneite, gen Westen leicht ansteigende Straße hinaufquälen. Wenig Betrieb! Auch in den gegenüberliegenden Häusern herrscht gespenstische Ruhe hinter geschlossenen Fensterläden. Der stadtseitig benachbarte Bauhof wirkt ausgestorben, allein die bäuerliche Wirtschaft auf der anderen Seite lässt Leben erkennen. Die Tiere müssen ja versorgt werden!
Der Junge bin ich, Schüler der vierten Klasse, im 10. Lebensjahr und seit dem letzten Sommer vorzeitig beim Jungvolk, also „Pimpf“, wie es mein bewunderter Kietzer Opa nur hören will.
Die seit Tagen urplötzlich und unsichtbar auf den Menschen lastende, aber von niemandem offen ausgesprochene oder gar eingestandene Angst hat nun auch unsere Familie ergriffen. Mir ist das Herz im Moment allerdings vor allem wegen des gnadenlosen Abschieds von meinem liebgewordenen, sorgsam gehüteten und bewahrten Spielzeug und anderen vermeintlichen Schätzen schwer. Trennung von vielen, vielen Büchern, von der funkelnagelneuen Eisenbahn, von den Schachteln mit Soldaten, Rittern, Tieren, Burgen, Festungen, Zäunen…! Alles soll hierbleiben! Umsonst das stürmische Einschlagen auf meine einzige Schwester Irmtraud (8), wegen ihrer runden Wangen zärtlich und eigentlich ungerecht „unser Dickchen“ gerufen, als sie – noch klein – den Plastilinsoldaten im Nachttopf das Schwimmen beibringen wollte. Vergeblich die Errettung des Führerautos aus den Händen meines Bruders Ingo (6), genannt „Zerstörer Wilhelm“, der im Begriff war, dem Modell die Türen abzubiegen. Und auch meinem jüngsten Bruder Volkmar (4) hätte ich ruhig all die mir heiligen Spielsachen überlassen können, nach denen er mit beängstigend geschwollenen Stirnadern schreiend verlangte, um an ihnen herumzukauen oder sie einfach nur hin zuwerfen. Sie müssen zurückgelassen werden! Würde sich noch jemand an ihnen erfreuen? Heimlich habe ich allerdings unten auf dem Schlitten… das jedoch darf niemand wissen!
Wer soll verstehen, nach welchen Regeln von unserer Mutter ausgewählt wurde, was der Mitnahme würdig ist? Aus dem Herrenzimmer die geheimnisumwitterten Mitbringsel meiner Onkel von fernen Seereisen, das unendlich spannende Lexikon und der wunderbare Weltatlas, unser Globus, ihre sorgsam gehüteten Hochzeitsgeschenke, die Rolle mit faszinierend akkuraten Zeichnungen meines Vaters aus der Mansarde, unsere Schulbücher und -hefte – über Nacht „Tinneff“, wie meine Mutter in Sekundenschnelle über meine ungefragten Vorschläge entschied. Zu schwer und einfach zu viel! Auch die sorgsam gepflegten Zimmerpflanzen, Geschirr, Bestecke, die nur von Erwachsenen zu bedienenden Uhren mit ihrem vertrauten Schlag, unser wunderschön glänzender Weihnachtsbaumschmuck – alles bleibt da!
Das, vor dem wir uns in Sicherheit bringen wollen, muss viel schlimmer sein, als sich meine Fantasie nach dem gierigen Verschlingen aller Nachrichten aus Zeitungen, Radio und Schule, nach dem Lesen unzähliger Heldengeschichten und dem atemlosen Lauschen der Wochenschau ausmalen kann. Vielleicht kann sich der angehende Hitlerjunge bewähren!?
Auf der zugeschneiten Rasenfläche des schmalen Vorgartens stehen unsere Rodelschlitten und ein Kinderwagen, hoch und ein wenig wacklig beladen, mit Koffern und Bettzeugbündeln. „Komm, Hagen“, sagt meine Mutter, „wir müssen!“
Und so geht sie mit uns los.
Unsere Mutter stammt aus einer großen Familie mit sieben Kindern, die 1920 aus der Gegend von Thorn nach Küstrin-Kietz zwangsausgesiedelt worden war, ist noch 26 Jahre jung, schmal und eher klein als mittelgroß. Sie ist sehr sportlich, kann auf der Mandoline spielen und engagiert sich beim Roten Kreuz. Wir lieben sie unendlich, vor allem seit wir die Entfremdung mit dem Vater spüren. Als sie vor einigen Monaten sehr krank war, stürzte ich vor Kummer in der Schule vom Primus auf den letzten Platz. 14 Fehler im Diktat! Natürlich weiß ich, dass meine kleinen Brüder noch besonders bemuttert werden müssen, deshalb versuche ich, meinen milde belächelten Ruf als Muttersöhnchen abzulegen. Es fällt mir wahrlich nicht leicht, aber schließlich bin ich neuerdings beim Jungvolk, und da erfährt man, wie ein deutscher Junge zu sein hat…
Nun stolpern wir mit unseren Schlitten durch die Kälte in das Zentrum des Städtchens. Sind nur vier Wochen seit Weihnachten vergangen?
Kriegsweihnacht 1944 in fast friedvoller Umgebung
Das Weihnachtsfest 1944 hatten wir – wie so oft – ohne unseren Vater gefeiert, dessen damals – und zugleich auch für einige Jahre – letzter Brief von einer Abkommandierung zur Fahnenjunkerschule nach Spandau kündete. Was dies auch immer sein mochte, tatsächlich befand er sich im Baltikum bei einer Heeresgruppe, die als so genannter Kurlandkessel erst am 9. Mai 1945 kapitulieren und in Gefangenschaft gehen sollte.
Unsere große und moderne Wohnung war Teil eines um 1937 erbauten Vierfamilienhauses und Offizieren der Garnison (Pioniertruppen) vorbehalten. Das Städtchen Sternberg, dem die waldreiche und sanft hügelige Landschaft in der Neumark wie auch die beiden ländlichen Kreise ihre Namen verdankten, war von den direkten Einwirkungen des Krieges bisher fast gänzlich verschont geblieben. Beinahe selbstverständlich, so schien es zumindest, gab es Lebensmittelkarten, Verdunklung, die als Lazarett genutzte Lungenheilanstalt, einen erdüberdeckten, muffig riechenden Splittergraben am Rande des Schulhofes und täglich in der Zeitung neue, Leid verheißende Anzeigen mit dem Eisernen Kreuz. Nicht nur die Väter einiger Mitschüler hatten „für Führer, Volk und Vaterland“ den Heldentod erlitten, auch bei meiner geliebten Oma in Küstrin stand ein Foto mit schwarzer Trauerschleife auf dem Vertiko.
Regelmäßig gab es Einquartierungen und seit Ende 1942 auch evakuierte oder ausgebombte Frauen mit Kindern aus dem Ruhrgebiet und aus Berlin, die von schrecklichen, aber glücklicherweise sehr entfernten Ereignissen zu berichten wussten. Mit ihnen teilten wir die Wohnung und den Hausrat; denn sie hatten – wie die gängige Redensart zum Unvorstellbaren lakonisch lautete – „alles verloren“.
Die Familie wurde durch ein jährlich wechselndes Pflichtjahrmädchen unterstützt, eine wohlhabende Tante väterlicherseits sowie der jederzeit spürbare wärmende Zusammenhalt der Großfamilie mütterlicherseits ließen uns deshalb eher wenig von der Dramatik des sechsten Kriegsjahres spüren. Sicherlich wurden wir Kinder auch fürsorglich abgeschirmt, so dass zur Weihnacht 1944 eine fast friedensartige Stimmung herrschte: Ein großer Baum, funkelndes Lametta, Lichterglanz, festliches Essen und bejubelte Geschenke – wie man es kannte und alljährlich erwarten durfte.
Unsere Wohnung, in der die Kinderaugen glücklich glänzten, vermittelte Wärme und Geborgenheit, die den fernen Krieg weitgehend vergessen machen konnte.
Von hier bis nach Frankfurt (Oder) sind es westwärts knapp 45 Kilometer. Nur wenig größer ist die Entfernung nach Osten in die Gegend zwischen Schwiebus und Schneidemühl, wo im Spätsommer 1944 mein Dasein bei den Pimpfen durch Teilnahme an der Festigung des so genannten Ostwalls einen ersten, mit der romantischen Erinnerung an Lagerfeuer und patriotische Lieder verbundenen Höhepunkt gehabt hatte. Falls der „Iwan“, wie die Sowjetsoldaten im Landserjargon hießen, jemals bis dahin kommen sollte: Vor diesen mächtigen Panzergräben, Bunkern und Geschützkuppeln würde er sich ausbluten! Das ist sicher!
Dieser Iwan stand Ende 1944 jedoch noch weit entfernt, an der Weichsel, Hunderte Kilometer östlich von uns!
Nur zwei ruhige Wochen vor der großen Unruhe im Januar 1945
Nach dem Ferienende am 8. Januar waren wir einige Tage wie gewohnt durch das verschneite Städtchen zur Schule gegangen, aber ab Mitte Januar breitete sich spürbar ein Klima der Unsicherheit, von Ängsten und Gerüchten aus. Immer wieder tauchten neue Worte in den geflüsterten Gesprächen der Erwachsenen auf, von denen „Treck“ ein besonderes, ängstlich-abenteuerliches Gruseln bei uns Kindern erzeugte.
Unsere Königsberger Oma war nun wohl schon zu ihrer Tochter nach Elbing geflüchtet, doch der Kontakt dorthin war abgebrochen.
Die Rote Armee hatte zwischen dem 12. und 16. Januar in einer scheinbar unwiderstehlichen Offensive die Ostfront durchbrochen und stürmte so schnell westwärts, dass ich es beim Suchen der im Wehrmachtsbericht auftauchenden Orte auf der Landkarte nicht glauben mochte.
Doch weder durch mehr militärischen Verkehr in Richtung Ost noch durch eine Zunahme von Flüchtlingstrecks auf der Reichsstraße 167, an der wir unmittelbar wohnten, war eine erhöhte Bedrohung äußerlich erkennbar. In den Zeitungen und im Rundfunk verstärkten sich die Berichte über Gräueltaten der Sowjetsoldaten, von den Litfaßsäulen erschreckten uns Plakate mit schlitzäugigen Fratzen unter fremdartigen Mützen mit Hammer, Sichel und Sowjetstern. „Sieg oder Bolschewismus!“ lautete die Inschrift, zu der ich aus lauter Angst vor den glühenden Augen des furchterregenden Bolschewisten gar nicht hinschauen mochte.
Die Unruhe griff um sich, als sich – natürlich nur gerüchtweise – zu bestätigen schien, dass der „Ostwall“ nicht oder nur schwach besetzt sei und als gar die Schule geschlossen wurde, da die Lehrer zum Volkssturm eingezogen waren.
Was würde werden, wenn die Front unser Städtchen erreicht? Wer würde uns helfen und beschützen?
Die Erwachsenen beschließen die Flucht im Treckwagen, aber der Start verzögert sich
Auf der Seeseite des Roßmarktes führte die Familie Witzke den „Gasthof zum Löwen“, mit Hotel und „Ausspanne“. Frau Witzke und ihre beiden Kinder rüsteten einen Ackerwagen mit zwei stämmigen Gäulen für die Fahrt ins Ungewisse um und boten die Mitfahrt an. Gewiss aus Anteilnahme für uns Kinder, aber ganz sicherlich auch, um sich der mutmachenden Aktivität eines Energiebündels zu versichern: unserer
Mutter.
Nun sind wir also auf dem Wege zu den Witzkes. Wir haben so viel Kleidung übergezogen wie irgend möglich, damit das Handgepäck kleiner ist und wir versorgt sind, falls es noch kälter werden sollte. Unser Planwagen wird ungeheizt sein!
Auf dem Hof der Gastwirtschaft ist der Wagen hergerichtet, die teuren Teppiche als Planen, vorn ein Brett für die Kutschfrauen. Die sechs Kinder würden sich auf dem Gepäck und zwischen den Federbetten einrichten müssen, was trotz der bedrückenden Stimmung ein wenig Abenteuer verspricht.
Aus irgendwelchen Gründen (Hielt der Ostwall doch? Müssen wir gar nicht flüchten? Gab es Verbote?) ist jedoch nicht angespannt, die Abfahrt wird verschoben.
Viele Jahre später werden wir erfahren, dass die junge Frau Witzke möglicherweise auf die Mitfahrt von Albert Witzke und seiner Frau gehofft hatte (Oststernberger Heimatbrief 1/2008, S. 5-6).
Wurde noch geschlachtet oder war dieses halbe Schwein im hinteren Wagenbereich schon von gestern? Wir Kinder haben plötzlich Zeit und Gelegenheit, auf den verschneiten Wiesen Ski zu fahren und auf dem zugefrorenen Eilangsee zu schlittern. Zum Erschrecken der Schulkameraden gerate ich in ein Angelloch, aus dem mich zwei herbeieilende Männer schimpfend retten. Jetzt nur nicht von Mutti erwischen lassen! Glücklicherweise habe ich nicht alle angeordneten Sachen an, und beim heimlichen Umziehen aus einem der Koffer, die nicht mitgenommen werden können, schmuggele ich mein wenige Monate altes Braunhemd unter den Pullover. Es hat so praktische Brusttaschen!
Wir können, ja, wir sollen sogar, so viel essen wie wir immer mögen: Feinste Sachen, auch „Friedensware“ genannt, und unendlich viel süßes Kompott! Herrlich! Die Vorräte müssen weg! Ansehnliche Brotlaibe und allerlei Eingemachtes in zerbrechlichen Gläsern werden außerdem auf dem Wagen verstaut. Dazu einige geheimnisvolle Flaschen, die – wie wir erfahren durften – angeblich eine teure, wohlriechende Nachfüllsubstanz für die Flakons auf den Frisiertischen des Hotels enthalten. Ich hasse diese Flaschen; denn zu ihren Gunsten wurde meine heimlich an Bord geschmuggelte Spielzeugkiste zurückgewiesen.
Als wir zu Bett gehen, ist aus dem Osten ein unaufhörliches, beängstigendes Gewittergrollen zu vernehmen, am Horizont hat der Himmel eine unheimliche, rosa bis rote Färbung, in der immer wieder grelle Blitze zucken.
Unübersehbar: Die Front ist nahe!
Am anderen Tag ist der Roßmarkt schon in aller Frühe voller Leben und Unruhe. Aus dem Fenster im Obergeschoss sehe ich zuerst auf zwei weiß angestrichene Sturmgeschütze, die sich vorsichtig einen Weg bahnen. Richtung Westen! Trotz meines Entsetzens kann ich den Blick nicht von einem riesigen roten Fleck an der Panzerung reißen. Menschliches Blut! Und so viel!
Flüchtlingswagen stehen geordnet, Frauen schreien, Kinder weinen zwischen herumliegenden Gegenständen und zerbrochenen Handwagen. Viele mit Bettzeug schier turmhoch überladene Kinderwagen sind zu sehen. Am Geländer des Kriegerdenkmals öffnen einige ältere Männer mit Messern Konservendosen und essen hastig. Daneben werden Panzerfäuste an Zivilisten mit dem Armstreifen des Volkssturms ausgegeben. Warm angezogene Frauen mit den Hauben des Roten Kreuzes teilen auf dem Gehweg Suppe und Tee in teilweise abenteuerliche Behältnisse aus.
Mein Blick bleibt an einer Kolonne von etwa fünfzig unrasierten schmutzigen Männern mit Käppis hängen, die schräg über ihren olivgrünen Feldblusen eingerollte Decken und an den Beinen grobe Wickelgamaschen tragen. Unter den Arm hat jeder ein kleines Stück Brot geklemmt. Zwei von ihnen teilen im Laufen aus einem Wassereimer mit einer Kelle Wasser aus, das trotz der Kälte sichtbar gierig getrunken wird. Bewacht von einigen jungen Soldaten in langen Mänteln, trotten sie in Richtung Westen: Sowjetische Kriegsgefangene, die wahrhaftig dem Bolschewikenplakat etwas ähnlich sehen und meine ängstlichen Fantasien beflügeln.
Offiziere und ein paar Braununiformierte versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen, doch ich glaube zu erkennen, dass wir unmöglich in diesem Gedränge mit unserem Wagen vom Hof kommen können und spüre einen dicken Kloß der Furcht im Hals. In den Augen der Mütter sind zudem ungekannte Ängste zu sehen. Sorgen um uns Kinder — das ist klar.
Haben sie etwas falsch gemacht? Soviel ist wohl sicher: Der Ostwall hat nicht gehalten! Das nächste große Hindernis für die Sowjetarmee wird die Oder sein, hinter die wir nun schnellstens kommen müssen!
Überraschend zerstreuen sich noch am Vormittag die Menschen und ihre Fahrzeuge, viel Unrat und die erstaunlichsten Gegenstände zwischen den pflichtbewusst mit Tee und Suppe wartenden Frauen und Mädchen zurücklassend.
(Fortsetzung folgt)
Anmerkung der Redaktion:
Herr Stein bittet die Leser des Oststernberger Heimatbriefes um Gedankenaustausch zu den Entwicklungen längs der ehemaligen Reichstraße 167 Ende Januar, Anfang Februar 1945. Seine Adresse: Hagen Stein, Werner-Seelenbinder-Straße 6, 07747 Jerna, Telefon (03641) 333114.