Aus der Neumark in die Altmark
Bericht über eine geglückte unglückliche Flucht
Von Hagen Stein
Teil 3
– gering gekürzt –
Vorbemerkung
Dieser Erinnerungsbericht von Herrn Hagen Stein hat ein großes Interesse bei vielen Lesern geweckt. Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, weitere Kapitel aus dem rund 30 Seiten umfassenden Bericht zu veröffentlichen. – Die Redaktion und der Vorstand des HK danken Herrn Stein für die Freigabe.
Zweiter Versuch mit reduziertem Gepäck.
Wir werden hinausgebracht.
Der Abend, die Nacht und der Morgen sehen uns auf allen erdenklichen Schlafstellen, hauptsächlich auf dem Fußboden, und in beständiger Angst um unsere umtriebige Mutter. Sie ist fortwährend, nachdem sie uns stets eng umschlungen gruppiert hat, unterwegs, um die Chancen der weiteren Flucht zu erkunden und irgendwelche Papiere zu ergattern, die uns vielleicht Plätze in einem Fahrzeug sichern oder wenigstens erhoffen lassen. Jedes Mal schärft sie ihrem Großen ein, auf die Kleinen zu achten, die beim Erwachen anhaltend nach ihrer Mama schluchzen. Glücklicherweise meldet sich immer eine der anderen Mütter, die der unsrigen verspricht: „Wir machen das schon!”
Auch am nächsten Tag, während sich die Stadt mit Flüchtlingen und vielen Wehrmachtsfahrzeugen zu füllen scheint, setzt sie ihre Suche fort. Die Nachrichten über die Lage sind von dramatischer Widersprüchlichkeit, manchmal wecken sie Hoffnungen, wenig später erzeugen sie Verzweiflung. Anscheinend werden wir hier auf die Russen warten müssen. Unsere furchtlose Mutter lässt sich von den „Scheißhausparolen”, wie sie es burschikos und mit verständnislosen Blicken auf die Mutlosen nennt, nicht beeindrucken, und so bin ich sicher, dass sie Erfolg haben wird. Sie setzt ihre Rotkreuz-
utensilien und den entsprechenden Ausweis ebenso geschickt ein wie ihr Mutterkreuz, vor allem aber das schlagfertige Mundwerk, eine unbezahlbare Errungenschaft aus der Fladerschen Großfamilie.
Trotzdem müssen wir noch eine weitere kalte Nacht hinter uns bringen, dieses Mal beengt und schlaflos sitzend im stickigen Luftschutzkeller. Beim Morgengrauen herrscht wieder Optimismus – noch immer scheint das Grollen der Front weit entfernt. Unsere Mutter hat die Familienhabe in einem einzigen Koffer und einem Täschchen konzentriert. Allerdings bleiben wir auf die Hilfe größerer Jungen oder älterer Männer angewiesen, als wir zu einer Straße mit Wehrmachtsautos geführt werden. Frau Witzke und ihre Kinder haben wir aus den Augen verloren. Uns wird ein mittelgroßer Kastenwagen mit geschlossenem Aufbau, zwei Fenstern an jeder Seite, Einstieg von hinten, zugewiesen. „Nur ein Gepäckstück pro Person!“, verkündet eine barsche Stimme, und nun sehe ich beglückt endlich wieder ein Lächeln in den übermüdeten, schwarzgeränderten Augen meiner Mutter, als wollte sie sagen: „Diese Sorge möchte ich haben…“
Ein schlaksiges Mädel, vielleicht 12 Jahre alt, stößt ein erschrecktes, langgezogenes „liiih!“ aus. Am Einstieg des Fahrzeuges ist zwischen den Leisten des Lattenrostbelages eine große bräunlich-rote Lache geronnenen Blutes zu sehen. „Wir haben Verwundete gefahren!“, erklärt der einweisende Soldat knapp, „Rein mit euch. Betet, dass wir durchkommen!“ Flehend fügt er hinzu: „Lasst keinen Landser rein, die Kettenhunde kontrollieren alles!“
Wir fahren in einer langen Kolonne los. Ab und zu stoppt der Wagen mit einem heftigen Ruck, was anfangs mit einem kollektiven Aufschrei registriert, aber bald hingenommen wird. Die Stimmung bessert sich, bald verlassen wir Reppen. Vom Fenster aus kann ich altklug verkünden, wie gut wir vorankommen. Ich kenne ja schließlich die Strecke von vorgestern!
Rechts durch eine Schonung überholen uns einige Sturmgeschütze, indem sie die Bäume einfach niederwalzen, ansonsten aber sieht die Landschaft noch immer friedlich und unzerstört aus.
Urplötzlich rumpelt unser Fahrzeug nach links, weg von der asphaltierten Straße. Alles wird durcheinander geschüttelt. Im Abdrehen nehme ich über der Chaussee die Leuchtspurgirlanden eines dunklen Flugzeuges wahr, denen wir knapp zu entgehen scheinen. Nach relativ kurzer Holperfahrt stoppen wir mit einem Dutzend anderer Autos am Rande einer Lichtung. Bleich schauen sich alle an; denn nun ist, laut und bedrohlich nahe, Gefechtslärm aus westlicher und nördlicher Richtung zu vernehmen. Sofort bricht weinerliche Verzweiflung bei einigen Frauen aus, doch die Mutigeren schaffen es, rasch wieder Hoffnung zu verbreiten.
Ich hocke hinter dem Auto und muss einmal ganz dringend austreten, als aus dem Dickicht ein großgewachsener Soldat in Tarnjacke auftaucht, der außer einem Sturmgewehr noch eine Maschinenpistole und ein seltsames Rohr umgehängt hat. Am Gürtel trägt er mindestens vier Handgranaten, auf dem Rücken einen Tornister. Von mir möchte er wissen, wie lange wir schon hier stehen und wo das sei. Stolz gebe ich ihm Auskunft, obwohl er mir ein wenig unheimlich ist. Meinen durstigen Augen folgend, fasst er an seine beiden Feldflaschen und bedauert: „Geht nicht. Schnaps!“ Danach lauscht er gen Westen und sagt bestürzt: „Dett sind doch Ratsch-Bumm!? Ist der Iwan etwa schon durch?“ Das kann ich ihm sogar ganz genau bestätigen!
Er gibt ein undefinierbares Geräusch von sich und schlägt seine behandschuhten Fäuste einige Male gegeneinander. Schließlich sagt er laut „Scheiße!“ und erklärt mir freundlich, wohl weil ihm meine ängstlichen Blicke aufgefallen sind, dass er sich von Süden durchgeschlagen habe, aber nun anscheinend von einem Kessel in den anderen geraten sei. Alsdann stapft er zu einem Klapptisch in etwa 20 Metern Entfernung, an dem Offiziere Karten ausbreiten und meldet sich so zackig, dass ich ihn sofort zum Vorbild küre. Er legt einige seiner Waffen ab, kramt in seinen Taschen und sticht anscheinend mit dem Bajonett in die Landkarten. Dann kommt er lächelnd zu uns, in den Händen zwei geöffnete Büchsen mit gezuckerter Kondensmilch.
Tröstend übermittelt er, dass wir bald weiterfahren würden, im Moment gebe es auf der Straße jedoch noch Feindeinsicht, sie liegt unter Beschuss. Wir würden ganz sicher durchkommen. Und ein armamputierter Zivilist, der vom Nachbarauto herbeigeeilt ist, ergänzt: „Die SS haut uns raus, sie haben sie schon vorgeholt!“. Er spricht das Doppel-S genau so aus, wie alle meine Verwandten und die Leute, von denen ich es sonst gehört habe. Mit einer Mischung aus Anerkennung und Furcht, aber hier mit einem hoffnungsvollen Unterton grenzenlosen Vertrauens. Ich bin nun auch fest überzeugt, dass alles zu einem guten Ende geraten kann, doch unsere Mutter tut meine frühreifen Weisheiten schlicht mit der Bemerkung ab: „Quatschkopp! Bleib schön bei uns, dann kommen wir alle durch!“ Und ganz leise und traurig: „Oder keiner!“.
Vorsichtig, damit wir uns an den scharfen Kanten keinesfalls verletzen, schlecken wir Kinder die süße Milch und bekommen kurze Zeit später schlimmen Durst. Wir lecken Schnee, um die trockenen Kehlen zu benetzen. Mein Bruder Ingo mag selbst das nicht. Er hat Halsschmerzen und kann nicht schlucken, fiebrig wimmert er auf einem Koffer sitzend, vor sich hin.
Inzwischen breitet sich zwischen den Fahrzeugen wieder eine gedrückte Stimmung aus, man hört Schluchzen, Gebete, Zanken und ein hysterisches „Ich bringe mich um, ich bringe mich um!“ Wir sollen nicht hinhören, doch selbst unsere umsichtige und tapfere Mutter kann nicht acht Ohren zugleich zuhalten! Und – welche Freude! – man nimmt diese Laute ja nur wahr, weil sich der Kampflärm westwärts verzogen hat!
Unser Fahrer, der die Frauen erfolgreich von Versuchen zur Entfernung des geronnenen Blutes abgehalten hatte, kommandiert plötzlich mit frohem Unteron: „Alles auf die Plätze! Keine Landser reinlassen!“ Er ruft zweimal, was von allen schon aufgeregt beim ersten Mal befolgt worden ist.
Als wir wieder, inzwischen muss es Nachmittag geworden sein, Richtung Reichsstraße schaukeln, weinen einige Frauen vor Erleichterung, mit bebender Stimme dankt jemand Gott. Wir sind allerdings nicht einmal so weit, wie wir vorgestern bereits gewesen waren, also mahnt meine Mutter laut: „Wir sind noch nicht in Frankfurt!“
Wie hat sich die Chaussee in den wenigen Stunden verändert! Dunkler Rauch überzieht ganze Straßenabschnitte, alle Telegrafendrähte hängen in Bögen herunter, der Straßengraben und die angrenzenden Waldstücke sind zwischen herabgebrochenen Ästen von verlassenen Fahrzeugen, zerstörtem Gerät, toten Tieren, Kisten, Koffern, Kleidungsstücken und undefinierbaren Resten bedeckt. Solche Bilder habe ich schon oft gesehen, im Kino, in Illustrierten und den spannenden Kriegsbüchern. Aber es waren immer die Feinde, von deren panischer Flucht die Fotografien zeugten. Ich starre fassungslos und voller Schmerz schweigend auf das Chaos.
Nicht allzu weit von unserer Lichtung liegt ein umgestürzter Laster an der Böschung. Aus dem zerbrochenen Kastenaufbau sind Hunderte von Broten in den Schneematsch gefallen. Brote! Wir haben seit Stunden nichts gegessen, außer der süßen Kondensmilch!
Unser Konvoi fährt bei abflauendem Beschuss, aus dem auch ich nun die „Ratsch-Bumm“ heraushören kann, in unterschiedlichen Schüben. Fällt ein Fahrzeug aus oder wird es getroffen, entsteht ein kurzer Halt, um den Havaristen zur Seite zu schieben und die unglücklichen Passagiere irgendwie umsteigen zu lassen. Auch bei uns sind die Kotflügel kurzzeitig belegt, aber dann kommen die bleichen und verzweifelten Frauen woanders unter. Jede längere Strecke ohne Halt lässt schnelle Hoffnung aufkeimen.
Wir Fensterplatzinhaber sehen, wie an den Waldrändern die Soldaten Gräber für ihre gefallenen Kameraden ausheben, die leblos und mit grausamer Exaktheit aufgereiht sind. Auch an der Straßenböschung liegt gekrümmt, wie schlafend, ein Mann im graublauen Fliegermantel auf der Seite. Aus der offenen Hecktür eines Funkwagens hängt ein toter Offizier mit blutigem Gesicht, die Arme weit von sich gestreckt. „Guck nicht hin!“, mahnt meine Mutter, doch ich bin vor Entsetzen wie gelähmt und kann die Augen nicht abwenden.
Schließlich erreichen wir wieder Neu-Bischofsee. Aus dem teilzerstörten Haus am Ortseingang, in das wir uns vorgestern gerettet hatten, wehen die Vorhänge nach draußen, das Dach ist halb abgedeckt. Wo mochte die unglückliche alte Frau sein?
Die Häuser sind mit Einschüssen übersät, Glas, Trümmer, weggeworfene Waffen und Reste von Autos bedecken die Dorfstraße.
Mein fiebernder Bruder lehnt fast leblos in der Enge unseres Fahrzeugs an einem Koffer. Schon seit mehr als einer Stunde wimmert er: „Mutti, Durst, Mutti, Durst!“. Als die Kolonne im Ort wieder einmal hält, springt unsere Mutter, abermals von unserem verängstigten „Mutti, nein!“ begleitet, auf die Straße, ruft etwas Richtung Fahrerhaus und stürzt sich vor meinem Ausguck in das nächste Haus. Sie steigt über die in der offenen Tür des Vorbaus liegende Leiche eines grauhaarigen Mannes und – für mich unsichtbar – auch noch über eine tote Frau, von der nur die bestrumpften Beine mit Hausschuhen im Türrahmen zu erkennen sind.
Glückstränen verschleiern meinen Blick, als ich unsere geliebte Mutter mit einer weißblauen Zwiebelmusterkanne und einer passenden Tasse in der Haustür auftauchen sehe und ein erleichtertes „Sie kommt!“ nach hinten rufen kann. „Herrgott, wir danken dir!“, ertönt eine Frauenstimme, spürbare Erleichterung breitet sich aus, gepaart mit aufrichtiger Bewunderung.
Nun da alles gut verlaufen ist, sind wir sehr stolz auf unsere mutige Mutti! Mit ihr werden wir überall durchkommen!
Sorgsam und gerecht wird das Wasser an die kleineren Kinder verteilt, jeder bekommt ein paar winzige Schlückchen. Kein Tropfen darf verschüttet werden, und für unseren Kranken wird ein Rest rigoros verteidigt. Wenn es bloß vorangehen würde! Unser Bruder ist besorgniserregend apathisch, auch an unserer Mutter ist eine Spur von Hektik zu erkennen. „Fahr doch, fahr doch!“, möchten wir dem Fahrer zurufen, allein das schreckliche Ratsch-Bumm erzwingt immer wieder einen Halt.
Hinter Neu-Bischofsee lichtet sich der Wald, wir kommen aus dem noch schneebedeckten Gelände durch schwarze Äcker und grüne Weiden über das Schlachtfeld von Kunersdorf (1759) und schließlich, mit immer weniger Halts, in der Dämmerung endlich an die Oder.
Das aber sind 10 Kilometer anhaltender Angst vor einem Treffer und voller Entsetzen am Straßenrand! Hier war vor kurzer Zeit noch stundenlang gekämpft worden. In einer Senke zähle ich neun zerstörte Panzer, zwei davon in hellen Flammen. Mit einer gewissen Zufriedenheit stelle ich fest: nur drei deutsche. Die gefallenen Rotarmisten liegen verstreut auf Äckern und Wiesen, an manchen Stellen auch im Straßengraben, besonders viele am Ortsrand von Kunersdorf. Die deutschen Opfer werden gerade unübersehbar geborgen.
Wir passieren eine Stelle, wo offensichtlich eine Flüchtlingsgruppe zwischen die Fronten geraten und durch Panzer von der Straße geschoben worden war. In dem ausgebrannten Gerippe eines seitlich aufgerissenen Busses liegen zwei schwarze Körper. Tote Pferde, einige umgestürzte Planwagen, gebrochene Achsen, Gepäck- und Wäschebündel sehen wir zwischen Schneeresten auf dem Acker.
„Das ist kein Schnee!“, sagt neben mir heiser und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen eine Frau. Schnell greift sie herüber und will mir den Blick versperren, aber ich habe das Grauen bereits wahr genommen: Leichen von Frauen und Kindern im Straßengraben und in den Furchen des Ackers, die wahrscheinlich von den Überlebenden mit Laken und Tüchern verhüllt worden waren. Direkt neben uns, nicht zugedeckt, eine Frau bäuchlings über einem Kind, dessen Gesicht verborgen ist, den linken Arm unter ein Bündel gesteckt, aus dem zwei Beinchen mit Gamaschenhosen ragen. Reglose, winzige Bündel.
Als wir kurz vor der Frankfurter Dammvorstadt Straßensperren und frisch ausgehobene Stellungen passieren, löst sich endlich die unsägliche Anspannung, spürbar breitet sich Erleichterung aus, einige weinen vor Glück still vor sich hin, andere beten. Wir drücken uns an die Mütter – es ist geschafft! Die Oder! Wir sind raus! Raus! Raus!
Es ist der Abend des 3. Februar 1945.