Erinnerungen eines „Jamaikaners”
Mein Großmutter Ilse Sperling, geb. Gottschalk (1895–1975) war 50 Jahre in Jamaika, Warthebruch zu Hause. Meine Mutter verbrachte ebenfalls die ersten fast 25 Jahre ihres Lebens dort. Bis zur bitteren Vertreibung aus der Heimat. So wurde ich schon als Kind und Jugendlicher mit Geschichten aus dem Warthebruch groß. Da die Verwandtschaft aus dieser Gegend groß war und einige von den ehemaligen „Jamaikanern” hier in Wesendorf (Landkreis Gifhorn, Niedersachsen) die zweite bzw. dritte Heimat fanden, wurden Familienfeiern zu kleinen Heimattreffen. Das weckte mein Interesse schon frühzeitig diese Gegend zu erkunden. Seit 1974 und ab 1990 nutzte ich die Gelegenheit oftmals für kurze Reisetouren. Per Bahn und Fahrrad, Motorrad oder Auto lässt sich das Wartheland immer relativ gut erkunden. Vom ehemals deutschen Charakter und der einst dichten Besiedlung ist leider heute nicht mehr viel geblieben.
Mit folgendem Beitrag schildere ich die Entwicklung der unteren Warthebruchdörfer (auch Koloniedörfer genannt) ab 1945. Aus Erzählungen und selbst Gesehenen.
Für Besucher, die das erste Mal dorthin kommen macht insbesondere der Zustand der Wohn- und Lebensverhältnisse eher einen erschütterten Eindruck, bis heute.
Die Ursachen und der Beginn des Zerfalls liegen im Geschehen des Zweiten Weltkrieges.
Wie aus dem Zeitungsbericht „Woxfelde/Saratoga – heute“ zu lesen ist, war das Warthebruch (unterer Bruch) nordöstlich der Stadt Sonnenburg vor. ca 1960 noch unbewohnt. Somit waren die (ehemals deutschen) Dörfer der Natur überlassen und die Gebäude der Witterung ausgesetzt. Davon betroffen waren die Koloniedörfer Jamaika, Ceylon, Sumatra und die zu Sonnenburg gehörenden Siedlungen Bürgerwiesen und Schleestädt, evtl. auch Hampshire.
Der teilweise Untergang der Orte begann bereits mit dem Einmarsch der „Roten Armee”.
Anfang (2. oder 4.) Februar 1945. Durch Brandschatzung der Sowjets gingen schon etliche Gebäude im Flammenmeer verloren. Da die Fachwerkbauweise überwiegend vertreten war und die Dächer vielfach mit Rohr gedeckt, waren oft die Löschversuche vergeblich oder halfen gar nicht. Hinzu kam das Übel, dass die westlichen Warthebruchbewohner am 11. Februar 1945 von den sowjetischen Soldaten gen Osten vertrieben wurden. Die Familie meines Großvaters musste mit dem Nötigsten, aber noch mit Pferd und Wagen, ca. 15 km – bis hinter die Chaussee von Kriescht zur Warthebrücke Fichtwerder – für 11 Wochen in Wirtschaftsgebäuden auf einem Bauernhof in Korsika Quartier beziehen.
Ob alle Ortschaften westlich dieser Straße und die Stadt Sonnenburg ebenfalls geräumt wurden, ist aus meiner Sicht fraglich. Sicher gibt es noch ehemalige Bewohner, die darüber Auskunft geben können. Die „Rote Armee” brauchte anscheinend diese Gegend als Rückzugsgebiet und für Unterkünfte ihrer Kämpfer der Schlachten um Küstrin und den Seelower Höhen. Diese Vertreibung nach Osten (wenn auch nicht sehr weit) ist anscheinend wenig bekannt oder in Vergessenheit geraten.
Nach der Rückkehr Ende April 1956 nach Jamaika, nur noch mit dem Handwagen, bot sich zu Hause ein trostloser Anblick. In den Wohnhäusern, soweit noch vorhanden, fehlten großenteils Fenster und Türen. Fast jeder Lebensgrundlage beraubt (kein Vieh mehr in den Ställen), mühte man sich diese so gut es ging, wieder herzustellen. Die jüngeren Frauen mussten für die damals noch von den Russen besetzten Heimatdörfer im großen Stil Kohlpflanzungen anlegen. Aber es bleiben bis zur endgültigen Vertreibung am 24. Juni 45 nur noch 8 Wochen. Bis zur Oder wurden die Deutschen von der polnischen Miliz „begleitet”.
Als mit Beginn des visafreien Reiseverkehrs von der DDR nach Polen um 1972 die ersten Besuche in die ehemalige Heimat ermöglicht wurden, war die Enttäuschung meist groß. Die Bausubstanz an den Häusern und Hofgebäuden hatte, von einigen Ausnahmen abgesehen, extrem gelitten. Es gab Ziehbrunnen, wo zu Zeiten der Deutschen schon Wasserleitungen vorhanden waren. Sicher waren die polnischen Bewohner wenig motiviert. Sie kamen anscheinend aus einer eher Rückstandskultur und hatten wenig finanzielle Mittel. Ein Beispiele dieser Lebensverhältnisse zeigt das Bild im Heimatbrief 3/2012, Seite 26. Das früher zur Familie Bellach gehörende Haus in Jamaika, wohl im Jahre 1975 aufgenommen.
Trotz allem waren viele polnische Bürger recht gastfreundlich. Die Straßenverhältnisse hatten sich gegenüber deutscher Zeit erstaunlicherweise sehr verbessert. So entwickelte sich das Wartebruch im Laufe der folgenden Jahrzehnte, bis heute, sehr zwiespältig. Die Bevölkerung scheint sich extrem zu verringern. Die Gebäude sind vom weiteren Zerfall, sowie teilweise vom Wiederaufbau bzw. Neubau geprägt. Wer Mittel und Energie hat, schaffte sich stattliche Anwesen. Diese sind aber in den ehemaligen lang gestreckten Koloniedörfern des Wartebruchs aber recht selten.
So sind in den letzten fast 70 Jahren, wohl die Hälfte der damaligen Anwesen verschwunden. Jede strauchbewachsene Erhöhung zeugt heute davon, dass hier einst deutsche Bürger ihre Lebensgrundlage hatten. Die Höfe waren ja größtenteils auf Erdanschüttungen errichtet, besonders die Wohngebäude. Zu beobachten ist auch, dass viele große Bäume wie Pappeln, Weiden und auch Obstbäume seit den 1990er-Jahren aus den Dörfern verschwanden. Bei allem Für und Wider ist das Wartebruch mit seinen Wasserläufen und grünem Urstromtalcharakter besonders zur Vegetationszeit allemal eine Reise wert. Das Schöpfwerk Herrenwerder bei Sonnenburg zieht Maler aus allen Gegenden an, die diese Landschaft von hochgelegenen Wall aus mit Pinsel und Stift aufs Papier verewigen. Der übermäßige Storchenbesatz im Bruch zeugt von einem reichhaltigen Nahrungsangebot für diese Großvögel. An vielen Stellen hat sich die Natur ihr Recht zurückerobert, da die landwirtschaftliche Nutzung in den letzten 20 Jahren anscheinend mehr und mehr den Stellenwert verliert. Somit grüßt Sie als Leser des „Osternberger Heimatbriefes“
Bernhard Rusch, Dorfangerstr. 14, 16792 Wesendorf.