Von der Odyssee einer Kirchenglocke in die alte Heimat
Von der Odyssee einer Kirchenglocke in die alte Heimat
Nach 73 Jahren Heimkehr nach St. Anna in Nowa Wies (Neudorf)
Im äußersten südwestlichen Zipfel des ehemaligen ost-brandenburgischen Kreises Schwerin (Warthe) liegt der lang gestreckte Ort Neudorf, heute Nowa Wies. Das Dorf entstand mit tätiger Hilfe des Zisterzienser-Klosters Blesen. Die Mönche holten um 1259 deutsche Siedler aus Thüringen und aus Schlesien ins damals menschen-leere Land. So kann der Ort bereits sein 750-jähriges Jubiläum begehen. Nicht so alt war die alte Holzkirche, die bis 1750 existierte. Dann entstand für die damalige Zeit ein Prachtbau mit großem Turm. Ein Ziegelbau, verputzt, ein wahres Schmuckstück mitten auf einer Anhöhe im Dorf. Die Kirchengemeinde von St. Anna, die auch nach der Reformation katholisch geprägt blieb, gab eine Glocke in Auftrag. Sie wurde bei einem damals sehr bekannten Meister gefertigt, war im spätgotischen Stil erarbeitet, wog über sieben Zentner, mit sehr star-kem Bronzegehalt und entstand im Jahr 1523. Ihr war-mer und dunkler Klang passte so richtig in die Land-schaft mit weiten Feldern und dichten Mischwäldern. Auf dem Fries der Neudorfer Glocke steht in lateinischer Inschrift: „0 Rex Gloriae, veni cum Pace” (zu Deutsch: Oh König der Ehre komme in Frieden). Über 420 Jahre lang erklang ihr Geläut in Friedens- wie in Kriegszeit vom Turm der St. Anna-Kirche.
Totaler Krieg braucht Glocken
Glocke und Kirche von Neudorf überstanden den Dreißigjährigen Krieg, die preußischen Kriege, Napoleons Feldzüge und den Ersten Weltkrieg. Dann kam im „totalen” Krieg von Hitler der Befehl, die Glocke abzubauen und zur Einschmelzung auszuliefern. Für die vielen Granaten der Kanonen wurden die kupfernen Führungsringe gebraucht. Der Moloch Zweiter Weltkrieg verschlang die immer weniger werdenden Kupferreserven. Der damalige katholische Pfarrer Kletus Gruse lieferte sich wegen des historischen Werts der Glocke mit den Nazi-Behörden für ihn selbst sehr schwierige Verhandlungen, um den Befehl abzuwenden. Es gab Aufschub, aber kein Erbarmen. 1942 musste die Glocke ausgebaut und abgeliefert werden. Drei Jahre später kam der Krieg selbst nach Neudorf. Die über 700 deutschen Einwohner verschlug es nach Flucht und Vertreibung in alle Gegenden Deutschlands. Pfarrer Gruse fand Aufnahme im Magdeburger Land. Bald war er hier wieder als Seelsorger tätig. Sehr viele Jahre wirkte er für die Gemeinde der Heilig Kreuz-Kirche in Biederitz bei
Magdeburg.
Wo ist die Neudorfer Glocke?
Bei all den Wirren der Nachkriegszeit, den steigenden Spannungen zwischen Ost und West und damals großen Problemen im Reiseverkehr verfolgte dieser aufrechte Kirchenmann beharrlich seinen Plan: Ich muss die Neudorfer Glocke finden. Er hatte aus glaubhafter Quelle nämlich erfahren, dass die Glocke nicht mehr eingeschmolzen wurde. Doch wo war sie? Über viele Wege die heute nicht mehr zu ergründen sind, suchte er monatelang auf verschiedenen Plätzen. Er kannte die Glocke genau und musste sie finden. Auf einem großen Sammelplatz in Hamburg kam er Anfang der 50er-Jahre zum Erfolg.
Pfarrer Gruse organisierte gegen Widerstände die Überführung der Glocke von der BRD in die DDR zu seiner neuen Gemeinde in Biederitz. Dieser Einsatz ist sehr zu würdigen; hier tat einer, was er tun musste. Die Neu-dorfer Glocke war nun „wieder im Dienst”. Für zwölf Jahre wechselte die Glocke noch einmal in einen Magde-burger Stadtteil, bis es dort ein neues Glockenspiel gab. Für weitere 52 Jahre hörten ihr Geläut nun wieder die Gemeindemitglieder in Biederitz. Leider war der Glockenretter Pfarrer Kletus Gruse inzwischen verstor-ben. Ja und dann stand plötzlich der Vorschlag und die Bitte eines ehemaligen Bürgers von Neudorf im Raum: Gebt diese historische Glocke ihrer alten Heimatkirche St. Anna in Nowa Wies, wie Neudorf jetzt polnisch heißt, zurück!
Der Kirchenvorstand und das Bistum Magdeburg stan-den zu diesem Vorschlag gleich positiv. Es begannen intensive Kontakte zum pol-nischen Pfarrer Adam Lewandowski in Sokola Dabrowa (Falkenwalde), der auch für St. Anna in Nowa Wies zuständig ist. Den Anstoß zu all dem aber gab der frühere Neu-dorfer Gerhard Labsch, heute wohnhaft in Gransee im Land Brandenburg. Wie es dazu kam und wie der endliche Heimweg der alten Kirchenglocke nach Nowa Wies (Neudorf) möglich wurde, dazu ein paar Fragen an und die Antworten darauf von Herrn Ger-hard Labsch.
Kindheit und Jugend in Neudorf
Bevor die Fragen zur Kirchenglocke zu stellen sind, ganz kurz: Wie haben Sie die Kindheit und Jugend in Neudorf erlebt?
Gerhard Labsch: Ich bin in sehr einfachen Verhältnissen groß geworden. Mein Vater war Vorarbeiter beim Bauern Albert Reiche, der den größten Hof in Neudorf bewirtschaftet hat. Wir waren vier Geschwister, ich vom Jahrgang 1928 der Älteste. Wir wohnten in zwei Räumen sehr beengt. So lernte man schon früh, sich mit wenig zu begnügen und freute sich umso mehr, wenn man sich selbst etwas Besseres erarbeitet hat. Nach dem Schulabschluss 1942 kam für mich das so genannte Pflichtjahr beim Bauern Reiche. Bei den Feldarbeiten konnte ich schon den Lanz-Bulldog steuern, was viel Freude machte. Ebenso die Tätigkeiten in den Viehstäl-len. Zum dörflichen Leben gehörte aber genauso immer die Kirchenglocke von St. Anna, die morgens, mittags und zum Abend erklang und uns, die zumeist keine Uhren besaßen, die Tageszeit anzeigte. Die meisten Familien im Dorf waren Katholiken und damit hatte das Dorfleben eine klare Prägung. Wir Jungen hatten oft Dienst für das Läuten der Glocke. Das hieß die lange Leine ziehen, um die Schwingung der Glocke zu sichern. Zum Jugendleben in Neudorf gehörte aber ebenso das Fangen der flinken Forellen, die im Panickelfließ und den Teichen schwammen. Wer dabei am schnellsten zum Erfolg kam, hatte ein hohes Ansehen. Am Treffpunkt der Jugend, am Gasthof Wilke, begannen so manche lustigen Streiche, wie sie wohl jeder kennt. Gab es dann aber mal richtig Ärger, so war uns immer Beichtvater Kletus Gruse eine Hilfe. Dieser freundliche Pfarrer war verständnisvoll und man hatte nach der Beichte vor ihm kein schlechtes Gewissen mehr.
Frage: Wie ging es beruflich weiter?
Gerhard Labsch: Nach dem Pflichtjahr begann ich ein Lehre bei Förster Robert Albrecht im Forsthaus Althöfchen. Meine Liebe zur Natur und den Wäldern war schon immer ausgeprägt und ich wollte einmal Förster werden. Der Krieg machte zunächst einen Strich durch alle Wünsche. Förster Albrecht wurde eingezogen und auch ich musste 1944 zu den Soldaten. Im April 1944 geriet ich in britische Gefangenschaft in Holland. Monate später konnte ich zu meinen Eltern zurückkehren. Sie lebten nach der Flucht aus Neudorf in Rauschendorf, Kreis Neuruppin; und waren natürlich wieder in der Landwirtschaft tätig. Mein alter Berufswunsch fand dann doch noch seine Erfüllung. Bei all den späte-ren Tätigkeiten im öffentlichen Dienst waren immer Landwirtschaft und Forsten wichtig; die letzten zehn Jahre bis zur Rente dann in der Kreisjagdbehörde des märkischen Landkreises Gransee.
Nun aber doch zur Kirchenglocke von Neudorf
Gerhard Labsch: Dem muss ich vorausschicken, dass es eines der schlimmsten Erlebnisse im Heimatdorf war, als 1942 plötzlich unsere alte und historische Kirchen-glocke vom Turm geholt und sie eingeschmolzen wer-den sollte. Das ging wie ein Lauffeuer durchs Dorf. Ich erinnere mich, dass eine große Traurigkeit herrschte. In großer Schar standen alle um die Glocke herum, keiner sagte ein Wort. Ein solch trauriger Moment des Abschied-nehmens bleibt ein Leben lang in Erinnerung. Die guten und die weniger guten Zeiten im Heimatort werden zur Endsumme. Und die lautet: Erst in der Fremde wird mir klar, wie schön doch die Heimat war! Natürlich fand ich auch ein schönes neues Zuhause, doch die alte Heimat bleibt immer im Herzen. Das mal als Vorbemerkung.
Als ich Mitglied im Heimatkreis Schwerin (Warthe) e.V. wurde und damit interessante Informationsblätter bei mir landeten, bekam ich Kenntnis, dass es unsere Hei-matglocke noch gibt und sie in Biederitz hängt. Inzwi-schen hatte ich schon enge Beziehungen zum Heimatort, der heute polnisch ist und Nowa Wies heißt. Dabei lernte ich den polnischen Pfarrer Adam Lewandowski als guten Freund kennen. Regelmäßig pflegte ich dort auch mit Hilfe einer polnischen Frau das Grab meines Onkels Paul Prüfert, der 1933 von den Nazis ermordet wurde. Ich besuchte St. Anna öfter und freute mich über die Lie-ferung gut erhaltener Kirchenbänke, die eine deutsche Gemeinde gespendet hat. Dann las ich von einer Glo-ckenrückgabe an die Kirche in Neudamm (Debno). Ich dachte, hier musst du dich zu Wort melden. Ich schrieb an Herrn Hubert Petzelt in Moers. Er war mir in den Heimatblättern aufgefallen und als Mann, der nicht nur redet, sondern vor Ort viel Gutes für die deutsch-polni-sche Aussöhnung bewirkt. Herr Petzelt nahm meinen Vorschlag zur Rückführung der Glocke von Biederitz nach St. Anna in Nowa Wies sehr positiv auf. So nahm die gute Sache ihren Lauf. Wir riefen zur Spendenaktion auf, da erhebliche Kosten für Restaurierung und Transport der Glocke anstanden. Persönlich habe ich für meine Heimatglocke einen höheren Beitrag gespendet. Ich freue mich sehr, dass dieses Projekt nun Wirklichkeit wird. Von dem großen Unrecht und Leid, das Hitler über die Völker und die Christenheit gebracht hat, können wir auf diese Weise gegenüber den polnischen Nachbarn ein wenig gutmachen. Wenn es meine Gesundheit erlaubt werde ich beim Patronatsfest der polnischen Kirche St. Anna in Nowa Wies (Neudorf) am 26. Juli 2015 dabei sein, wenn unsere alte Heimatglocke wieder ihren Guß weit ins Land schickt.
Erfragt und aufgeschrieben von Manfred Hallin ehem. Lokalredakteur
Nachwort des Heimatkreisvorsitzenden:
Die Geschichte von der Zurückführung der alten Kichenglocke in die St.-Anna-Kirche in Nowa Wies, ehemals Neudorf/Krs. Schwerin (Warthe) ist ein Zeichen einer echtem deutsch-polnischen Versöhnung vor Ort. Ganz besonderer Dank gebührt Herrn Gerhard Labsch und Herrn Hubert Petzelt, die die Rückführung der alten Kirchenglocke tatkräftig und beharrlich in die Wege geleitet haben.
Wir haben hier eines der seltenen Beispiele, dass Schaden nicht von der polnischen oder sowjet-russisch Seite ausgelöst wurde, sondern durch die Beschlagnahmeaktion der deutschen Kriegsbehörden im Jahr 1942. Dass die Wegnahme der Kirchenglocke zu Kriegszwecken letztlich doch noch ein gutes Ende nahm, ist natürlich auch ein ganz großer Verdienst des früheren Pfarrers Kletus Gruse von Neudorf, der von Biederitz bei Magdeburg aus, wohin es ihn nach Flucht und Vertreibung verschlagen hatte, sich intensiv und beharrlich auf die Suche nach der doch nicht eingeschmolzenen Kirchenglocke machte, ehe er auf einem Lagerplatz Anfang der 50er-Jahre in Hamburg fündig wurde. Dass damals trotz der vielen bürokratischen Hemmnisse möglich war, die Kirchenglocke vom Staatsgebiet der DDR nach Biederitz bei Magdeburg (DDR) zu bringen, allein dem unermüdlichen Einsatz von Pfarrer Kletus Gruse zu verdanken. Ihm gilt daher ebenfalls ein ehrendes und dankbares Erinnern.