Märkische Weihnacht (Sandau bei Sternberg)
von Ilse Boehm-Hedrich
Der Schnee stiebt um das kleine Haus und wird vom Sturm in die Fenster- und Türecken geweht. Die Scheiben sind außen hoch voll Schnee. Innen im Zimmer dagegen sieht es warm und gemütlich aus. Pelargonien blühen auf dem Fensterbrett, etwas bleichsüchtig schon, aber noch immer in roter Pracht. Dazwischen hockt die Katze und äugt hinaus zum Apfelbaum. Der Bauer hat eine volle Korngarbe in seine kahlen Zweige gehängt zum Festtagsschmaus für das hungrige, laut scheltende Spatzenvolk. Leise an das Fensterglas klopfend, mache ich die Katze auf mich aufmerksam. Im Sommer hat sie mich manchmal bis in die Wiesen verfolgt und ihren Kopf an meinen Strümpfen gerieben. Vom Krüppelwalmdach rutscht eine Ladung Schnee, gerade in meinen Halsausschnitt hinein. Ich schüttele ihn ab. Es friert mich ein wenig, als die nassen Flokken meine Haut treffen. Nun wird die Tür aufgemacht, und die Bäuerin lässt das Kätzchen hinaus. Ein Pfötchen hochhebend, huscht es rasch auf den anderen zu mir. Ich bücke mich und hebe es auf. Katzen mögen nicht gern Schnee. Sie reibt ihren Kopf an meiner Ärmelmanschette, und ich drücke sie an mich, nicht zu sehr, aber doch so, dass sie meine Wärme spürt. Immer noch stiebt der Schnee um das Haus, aber mit dem schnurrenden warmen Tierlein in den Händen, ist es behaglich. Es hat jetzt seinen Kopf in meinen Ärmel gesteckt und sich eng angekuschelt. Ich werde die Katze nun zu einem kurzen Spaziergang mitnehmen und biege in den Weg zur Sedanwiese ein. „Wiesenweg” steht auf einem Meilenstein am Wegesrand.
Am Ende dieses Weges breitet sich die tiefverschneite Wiese aus. Weiter unten ist als dunkler Streifen die Pleiske sichtbar. Unter dem Schnee kommt der Fahrweg zum Vorschein, der nun in entgegengesetzter Richtung als der „Wiesenweg” von der Sedanwiese wegführt. Ich gehe ihn mit meinem lebenden Muff entlang, der mir die Hände so prächtig wärmt. Ab und zu knackt ein Zweig im Walde. Die Meisen, die in den Kiefern und Tannen lärmen, werfen Schneebällchen auf meinen Weg. Ich komme zur Ziegeleibrücke, stehe am Geländer und schaue hinab ins Wasser, das nur wenige Eisränder hat. Nun wird es aber Zeit, dass ich umkehre, damit mein Kätzchen an seinen Milchnapf kommt. Und auch ich muss ja am Nachmittage heimfahren. Mein Bruder will den Tannenbaum schmücken und braucht meine Hilfe. Er wird mich aus Sandow abholen kommen und sich sicher wundern, wo ich so lange bleibe. Als wir ans Häuschen gelangen, ruft die Katze kläglich. Ich klopfe an die Tür und lasse sie dann in die Stube. Der Bäuerin rufe ich ein „frohes Fest” zu; sie ist erstaunt, dass die Katze mir nachgelaufen war, dabei aber gar keine nassen Pfoten bekommen hatte. Noch einmal streichele ich das Tier und verspreche ihm ein fröhliches Wiedersehen im Sommer. Als ich in die Gaststube trete, sitzt mein Bruder schon hinter seinem Teller dampfender Suppe, und auch ich bekomme meinen Teller. Die Suppe schmeckt gut und kräftig, sie wärmt mich richtig durch. Ich erzähle ihm, wo ich gewesen war, und nach dem Essen geht es dann in den Schlitten unter die Pelzdecke. Heute ist nur ein Pferd vorgespannt. Noch ein herzlicher Abschied, und unter Schellengeläut gleiten wir zum Dorfe hinaus. Es dämmert schon stark, als wir zu Hause in den Hof fahren. Nach einer gemütlichen Kaffeestunde machen wir uns an die Arbeit in der Weihnachtsstube. Erst schraubt Werner die Lichthalter in den Stamm, ehe wir mit dem Schmücken beginnen. Kerzenhalter und Kerzen sind stets das erste, das an den Baum kommt. Dann werden die alten Kisten und Schachteln geöffnet, und ich reiche Werner den Schmuck für den oberen Teil der Tanne zu, weil ich nicht so hoch hinauflangen kann. Alles kommt zum Vorschein, wie wir es in jedem Jahr haben und gern mögen: gläserne Eiszapfen und Sterne, die vielen schönen Silber- und Goldkugeln und die im Sommer gesammelten Kiefern- und Erlenzapfen aus Sandow, die wir in manchen Stunden anbronziert hatten. Manchmal muss ein Draht oder eine Öse erneuert werden. Noch heute, mehrere Jahrzehnte später, erfreuen uns viele dieser Zapfen um die Weihnachtszeit, und ich streiche behutsam mit den Fingerspitzen über diese Walderinnerungen, die sich vor Zeiten in den Kronen des Sandowforstes wiegten und nun noch immer frisch bemalt in Silber und Gold in den Zweigen des Weihnachtsbaumes prangen. Beim Schmücken denke ich noch einmal zurück an das im Schnee versunkene Dörfchen, aber auch an das Kätzchen, das jetzt vielleicht auf der warmen Ofenbank liegt und schnurrt, während der Schnee draußen leise sirrend durch die Dämmerung singt und die Bäuerin noch an einem Paar Strümpfe für den Gabentisch strickt. Als wir mit der Arbeit fertig sind, holen wir die Eltern, damit sie unser Werk bewundern sollen. Morgen werden dann die Geschenke auf der langen Tafel verteilt; jedes Familienmitglied hat seinen angestammten Platz für die Gaben. Vorläufig drehen wir die Lampen aus, ehe wir zum Abendbrot gehen. Nach dem Essen sitzen wir noch in der Küche zusammen. Es wird Rotkohl geschnitten und der Grünkohl gesäubert, den es mit Schmorwurst und Biersauce am Heiligen Abend geben wird. Auch die Weihnachtsgans wird zum Braten vorbereitet. Anschließend gehe ich in den Stall, um die Hühner einzuschließen. Ich stehe gern noch ein Weilchen dort und höre den Träumen der Hühner zu, die ab und an ein wenig piepsen. Die Pferde klirren mit ihren Ketten. Ich streichele sie zart und schließe dann auch den Pferdestall ab. Bald herrscht tiefe Stille, und ich gehe sacht die Treppe hinauf. Ehe wir uns schlafen legen, sitzen wir noch um den großen Esstisch. Draußen flockt es noch immer. Wir freuen uns, dass es diesmal solch schönes, weißes Weihnachtsfest ist, denn Feiertage ohne Schnee sind kein richtiges Weihnachten.
Die Erde muss unter weißen Federbettchen liegen. Es wird bestimmt kein Tauwetter kommen, denn das Thermometer zeigt 10 Grad Frost! Am nächsten Morgen werden die letzten Einkäufe erledigt, und nach dem Kaffeetrinken, als es 16.30 Uhr schlägt, wandern wir alle zur Kirche. Die Orgel erklingt, und rechts und links vom Altar stehen mit brennenden Kerzen geschmückte Christbäume. Dann verlässt uns Werner, der die Empore hinaufgeht, um im Knabenchor mitzusingen. Zwischen der Lesung der Weihnachtsgeschichte singt auch die Gemeinde all die schönen weihnachtlichen Lieder. Unter Glockengeläut gehen wir heimwärts, allerdings mit einem Umweg, weil wir noch unser Großväterchen zur Feier des Heiligen Abends abholen. Oben am Himmel ist der schönste Christbaum angezündet worden. Die Sterne sind aufgezogen. Jahre später wird mein kleiner Sohn beim ersten bewussten Anblick des ausgestirnten Himmels sagen: schönes, kühles Licht. Und nun ist es endlich soweit! Das Essen ist vorüber, und Vater geht in das Weihnachtszimmer, um die Kerzen anzuzünden. Zu Beginn der Feier werden natürlich die Gedichte von uns Kindern aufgesagt. Ich habe wieder eines schreiben müssen, das von den Großen sehr bewundert wird. Es klingelt, und wie in jedem Jahr erscheint der Kutscher und erhält seine und seiner Familie Weihnachtsgaben. Nach einem Glas Wein kehrt er zu den Seinen zurück, und wir hören von unten herauf Kindergesang und die Handharmonika, die der Kutscher so gut spielen kann und die durchs ganze Haus schallt. Später sitzen wir alle noch um die langsam verglühenden Lichter. Ich habe eine Staffelei erhalten, einen Ölfarbenkasten und den ersten Keilrahmen sowie eine Palette – Gründe genug, um noch lange nicht zu Bett zu gehen. Am liebsten hätte ich gleich alles ausprobiert. Unsere gute Bertha hat noch den Besuch ihres Verlobten bekommen. Sie bereitet uns einen guten Tee mit Arrak und wird mit ihrem Besuch von den Eltern ins Weihnachtszimmer gebeten. Es gibt manches zu besprechen, denn die beiden wollen im nächsten Jahr heiraten. Vater hat in der Nachbarschaft zwei hübsche Zimmer für sie gefunden. Meine Schwester und ich haben unserer Bertha zum Fest eine Küchengarnitur gestickt. Nachdem der junge Mann gegangen ist, begibt sich die Familie zur Ruhe, und bald schlafen alle tief und fest. Der Schnee liegt am nächsten Morgen ordentlich hoch. Es hatte also in der Nacht wieder geschneit. Wir ziehen mit unseren Rodelschlitten über die Wiesen hinein in den Wald, der so zauberhaft funkelt. Es gibt einen Hügel bei der Eisenbahn, das ist unser Rodelberg. Beim Kaffeetrinken am Nachmittage sagt Vater plötzlich zu meinem Bruder und mir, wir sollten Silvester noch einmal nach Sandow fahren, aber mit dem Zweitkutscher, dem ältesten Sohn unseres Kut- schers. Wir sollten vom Förster Berger zwei Karpfen holen, er habe das so mit ihm am Telefon vereinbart. Wir kneifen uns vor Freude unter dem Tisch. Am Altjahrsabend früh geht es noch einmal in die verschneiten Wälder. Es ist eine sehr lustige Fahrt mit Karl. Wir sind ja zusammen aufgewachsen, und haben viele Dummheiten gemeinsam ausgeheckt. Für den Sommer machen wir schon einige Pläne. Im „Grünen Tisch” unterbrechen wir die Fahrt, trinken Kaffee und gehen zu dem zugefrorenen See. Ab und zu ertönt ein Vogelruf. Mittags sind wir in der Teerbude, um die Fische in Empfang zu nehmen, die Grüße der Eltern und ein gutes neues Jahr zu bestellen! Das ist nun so unendlich lange her, und doch steht es mir überdeutlich vor Augen. Und es kamen noch viele Weihnachtsfeste. Auch in diesem Jahr werde ich, wenn die Glocken läuten, wieder zurückdenken an meine einzig schöne Kindheit, an die einfachen Freuden in ihr. Ich werde nicht traurig sein, dass dies alles vergangen ist, sondern mich darüber freuen, es einmal besessen zu haben: eine schöne Heimat, liebevolle Eltern und treue Geschwister.