„Reiterurlaub“ in Königswalde vom 20. 7. – 27. 7. 1971
Otto-Karl Barsch
Im Frühjahr 1971 überraschte mich meine Frau mit der Nachricht, dass vom Reiseveranstalter Hummel in Zusammenarbeit mit dem staatlichen, polnischen Reisebüro Orbis Reiterurlaube in Lubniewice, zu unserer Zeit Königswalde, angeboten würden. Bisher hatte ich nur von Aufenthaltsgenehmigungen für Jäger gehört, die im Schloss von Sophienwalde untergebracht wurden und für den Abschuss eines Rot- oder Schwarzwildes horrende Summen an DM zahlen mussten. Eine solche Reise kam für mich nicht in Frage. Ich wollte ja die Familie mitnehmen und nun nach dem Kriege nicht wieder auf lebende Wesen schießen müssen. So schien der von Orbis angebotene Reiterurlaub endlich eine Möglichkeit zu sein, unsere Heimat wiederzusehen. Doch noch mitten ,,im kalten Krieg“ waren wir uns unsicher, ob wir auch zu den Orten unserer Kindheit würden fahren dürfen. Waren doch für uns „West-Berliner“ die Auflagen, wenn Verwandtenbesuche in Berlin oder der DDR bewilligt wurden, ganz besonders streng. Die Fahrt hatte auf dem kürzesten Wege zum Wohnsitz des auf dem Dokument verzeichneten Verwandten zu erfolgen und ein Abstecher zu anderen Verwandten außerhalb des genehmigten Aufenthaltsortes war verboten und unter Strafe gestellt. Trotz dieser großen Unsicherheit, beantragten wir bei der polnischen Militärmission in der Lassenstr. in Berlin-Grunewald für meine Frau und mich sowie die beiden Töchter die Visa, da wir auch ihnen die Orte unserer Kindheit einmal zeigen wollten. Am Morgen des 20.7. konnten wir nun die Bahnreise von Berlin-Zoologischer Garten nach Reppen (Rczepin) antreten. In dem Zuge, der weiter nach Posen führ, waren bereits weitere Reisende der Gruppe aus Westdeutschland und die Reiseleitung anwesend. Während der Fahrt wurden uns die Dokumente für den Grenzübergang Westberlin/DDR/Volksrepublik Polen ausgehändigt. Bei meinen mehrseitigen Unterlagen war eine Seite für einen anderen Reisenden enthalten, mir jedoch fehlte. Die Hoffnung, dass die Seiten lediglich vertauscht seien, erfüllte sich nicht. Die Passkontrolle Westberlin/DDR verlief ohne Beanstandungen, während es jedoch bei der Überfahrt an der Oder zu Komplikationen kam. Der polnisch Kontrolleur musste nun seinen Vorgesetzten am Bahnhof Rczepin konsultieren. Dieser verfügte, dass ich ohne die fehlende Seite bei den Papieren nicht einreisen dürfte und ich die Unterlagen in der Lassenstr. vervollständigen lassen musste. Eine andere Lösung war trotz der Hilfe durch die Reiseleitung nicht zu erzielen. Ich musste meine Familie mit dem Bus nach Königswalde fahren lassen und wurde selbst, eskortiert von einem polnischen Soldaten, mit dem nächsten Zug nach Frankfurt/Oder gebracht. Ungute Erinnerungen überkamen mich, da ich am 7.2.1945 in unmittelbarer Nähe mit einer kleinen Gruppe in Gefangenschaft hatte gehen müssen und wir nur durch das handgreifliche Eingreifen eines sowjetischen Offiziers vor der Erschießung seitens eines Sowjetsoldaten verschont geblieben sind. Bei der polnischen Mission in der Lassenstraße angekommen teilte mir der Posten mit, dass heute Feiertag sei und keiner sonst im Büro sei. Nach vielem Zureden bemühte er sich jedoch in das Gebäude und fand wirklich die vermisste Seite auf dem Schreibtisch des Bearbeiters, während ich draußen ungeduldig wartete. Inzwischen war es Nachmittag geworden und der nächste Zug fuhr erst am späten Abend vom damaligen Ostbahnhof in Richtung Warschau. Meine Verwandten aus Pankow hatte ich wegen der Teilung Berlins auch sehr lange nicht gesehen und so konnte ich die Zeit ausnutzen, um meine Nichte zum Bahnhof zu bitten und wiederzusehen. Hatten sie doch nach dem Mauerbau ihre Mutter, meine ältere Schwester verloren, ohne dass es mir rechtzeitig genehmigt worden war, ihr das letzte Geleit zu geben.
Die Bahnfahrt ging dann mit vorwiegend polnischen Reisenden im Abteil in Richtung Osten. Erst als alle anderen schliefen wagte es eine Frau, mich in deutscher Sprache anzusprechen und machte mir Vorwürfe ohne der polnischen Sprache mächtig zu sein, in dieses Land einzureisen. Am Bahnhof Reppen fand ich einen Taxifahrer, der mich dann über die Orte Drossen und Zielenzig nach Königswalde fuhr. Gegen Mitternacht war ich endlich wieder bei meiner Frau, die noch ganz aufgeregt war, da von der vorherigen Reisegruppe ein Mann, der versehentlich in das russische Sperrgebiet von Wandern geraten war, auch noch nicht zu seiner Reisegruppe zurückgekehrt war. Auch waren bei meiner Frau die Erinnerungen an die Februartage 1945 wieder lebendig geworden, an denen ihr Vater von den Russen nur zu einem vermeintlichen Arbeitskommando abgeholt worden war, von dem er, sowie viele andere, nie zurückgekehrt ist.
Das polnische staatliche Reisebüro Orbis hatte das am Anfang des 20. Jahrhunderts von der Familie von Waldow errichtete neue Schloss als Hotel eingerichtet, wo meine Familie bereits zwei Zimmer bezogen hatte und wir im großen Speisesaal mit einem Dreigängemenu täglich bewirtet wurden. Es wurde streng darauf geachtet, dass die Bürger der DDR nicht mit denen aus der BRD bzw. Westberlin in einem Saal aßen. Für mich war erstaunlich, dass in den Räumen des Schlosses noch alte Kamine, Möbel, Kachelöfen, Kronen aus Abwurfstangen des Rotwildes und das ganze Jagdzimmer die Kriegswirren überstanden hatten. Hatte ich doch als Kriegsgefangener, der damals in den Pionierkasernen in Zielenzig inhaftiert war, den vielen vor den Häusern liegenden Hausrat gesehen.
In den zum Schloss gehörenden Stallungen waren auch die Pferde für den Reitunterricht untergebracht. An dem nahmen dann auch unsere beiden Mädchen teil, während meine Frau und ich uns für die geplanten Kutschfahrten in die nähere Umgebung entschieden. Zwar überredeten mich die beiden Mädchen auch einmal ein Pferd zu besteigen und auch eine Runde zu reiten und an einem Ausritt teilzunehmen. Ich hatte ihnen doch von dem Reitunterricht bei der Reiter-HJ. erzählt. Um nicht an dem Unterricht bei der Pflicht-HJ. teilnehmen zu müssen, war dieses für mich eine gute Alternative und so konnte ich der direkten politischen Beeinflussung entgehen. Die Veranstaltungen des HJ-Dienstes erfolgten am Anfang des Krieges am Mittwochnachmittag und am Sonnabend. Am Wochenende waren wir jedoch im Heimatort Waldowstrenk, abseits vom Schulort Landsberg a. W. wo uns nie jemand zum HJ-Dienst aufforderte, da wir uns ja hierzu in Landsberg angemeldet hatten. Die Kutschfahrten durch die abwechslungsreichen Forsten um Königswalde wurde von einem Herren durchgeführt, der früher Offizier der polnischen Kavallerie gewesen sein könnte. An einem Abend teilte uns die Reiseleitung mit, dass ein Klavierkonzert in der Empfangshalle des Schlosses stattfinden würde und wir dazu mit eingeladen seien. Obwohl wir auf der Wendeltreppe zum Obergeschoss nur noch Platz fanden, ergab sich durch die Stücke von Chopin und anderen Klassikern eine festliche Atmosphäre beim brennenden Kamin. Veranstalter in Frack und Abendkleid waren für mich vorher in einem sozialistischen Staat nicht vorstellbar. Es hat allen anwesenden gut gefallen.
Zwischenzeitlich hatten wir in Erinnerung gebracht, dass wir uns auch außerhalb von Königswalde frei bewegen könnten. So beschlossen wir, die Stadt Landsberg zu besuchen, wo auch meine Frau zur Oberschule gegangen war. Es gab einen recht betagten Linienbus, der uns an meinem nun dem Erdboden gleich gemachten Heimatort vorbei in die uns früher so vertraute Stadt brachte. Wie ich bereits im Heimatbrief berichtete, hatte ich bei einem Marsch von Zielenzig nach Landsberg (ca. 40 km) als Kriegsgefangener den zerstörten Ort gesehen. Doch nun waren alle Ruinen und auch das einzige damals noch stehende 3-Familienhaus für Leute, die bei uns im Betrieb tätig waren, abgeräumt. Die Natur hatte sich in der Zeit von mehr als einem Vierteljahrhundert Vieles wieder zurückgeholt und überwuchert, was früher Kulturlandschaft gewesen war. Dieses fanden wir auch an den nächsten Tagen bestätigt, als wir dann Waldowstrenk und Hammer als direktes Ziel erwählten. Landsberg war uns in der Innenstadt fremd geworden, da ja die Richtstraße mit ihren Nebenstraßen 1945 niedergebrannt wurde und neue Häuserzeilen versetzt entstanden sind. Vorbei ging es am Volksbad, wo die kleine Rettungsschwimmerprüfung abgelegt wurde, am Wohlfahrthaus, wo in derselben Halle 1914 mein Vater und 30 Jahre später ich als Verwundete gelegen hatten und dann zum Lyzeum, wo meine Frau ihre Schulzeit bis zum Abitur 1943 und wir Jungs unseren Unterricht bis 1938 hatten. Denn erst danach hatten wir eine neu erbaute sehr gut eingerichtete „Herrmann-Göring-Schule“, besucht, die uns bis zur Einberufung zum RAD Sommer 1942 als Lehranstalt zur Verfügung gestanden hatte. Anschließend ging es mit dem Linienbus zurück nach Lubniewice, da man dort um 18 Uhr pünktlich zum Abendessen sein musste. Da wir nun auch Lossow, den Geburtsort meiner Frau gegenüber von Költschen auf der anderen Seite der Warthe gelegen, besuchen wollten, mieteten wir uns bei der Rezeption im Schloss einen Polska-Fiat und fuhren über Kriescht, Fichtwerder und Dühringshof dorthin. Das Schulhaus war, wie auch ein großer Teil des einst trocken gelegten Landstriches, im Sumpf versunken. Die auf einem Sandhügel liegende Kirche mit dem angrenzenden Friedhof ist erhalten. Nun ging es weiter nach Heinersdorf nördlich von Landsberg, wohin sich mein Schwiegervater wegen des kürzeren Schulweges zum Lyzeum für seine Tochter hatte versetzen lassen. Hier gab es eine herzliche Begegnung mit einer „Hildchen“, die meine Frau von ihrem Hause aus auf dem Dorfplatz erkannt hatte. Ein Einblick in das frühere Klassenzimmer wurde uns gestattet, da die frühere Deutsche, die einen polnischen Knecht geheiratet hatte und nun Besitzerin des Hofes geworden war, uns begleitete.
An einem der letzten Tage besuchten wir dann auch mit dem Auto die Grabstellen in Hammer, wo im Bannkreis um die Kirche auch heute noch zwei Grabkreuze der Familie Barsch stehen, bei denen als Geburtsjahr 1734 und 1744 vermerkt worden war. Die Grabkreuze und -steine waren auf dem alten am Walde liegenden Friedhof zum großen Teil zerschlagen bzw. umgestürzt. Beim gegenüber des Weges bereits zu unserer Zeit eingerichteten Friedhof, auf dem die neuen Bewohner anschließend weiter beigesetzt wurden, sah es damals im Gegensatz zu heute recht ärmlich aus. Wasser gab es aus einem Ziehbrunnen, wie ich ihn in der Ukraine kennen gelernt hatte. Anschließend fuhren wir zur Hammer-Schneidemühle zu dem Grundstück, wo einst der Maler Franz Lippisch geboren wurde und dann mein Vater am 2.2.1945 von einem Russen erschossen wurde. Er musste auch dort begraben werden. Danach haben wir in vielen Jahren die Grabstelle besucht, die dann von einer ukrainisch/polnischen Familie, mit der wir bei unseren Besuchen Freundschaft geschlossen hatten, gepflegt wurde. Leider ist aber auch dieses Ehepaar schon verstorben und liegt auf dem Friedhof oberhalb des Lübbenssee in Lubniewice. Von der polnischen Bevölkerung haben wir dort nie ein böses Wort gehört, doch es gab eine politische Macht, die jegliche Kontakte der Bevölkerungen untereinander unterbinden, zumindest aber erschweren wollte.
Im August will nunmehr der Heimatverein nochmals eine Reise in das Sternberger Land, Schwerpunkt Warthebruch, unternehmen und wir werden die Grenze ohne Warteschlangen und ohne die früher mehrmals schikanösen Kontrollen, oft seitens der DDR, passieren dürfen. Dieses ist doch ein Fortschritt in dem nun langsam zusammenwachsenden Europa. Ich bin dankbar, dass ich dieses noch erleben darf.
2.6. 2014
Fotos: O.-K. Barsch(6), H. Habermann (4)