Oststernberger Heimatbrief
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Die letzten 5 Monate in Lagow

Aus Heimatbrief-Ausgabe 1/2014, Seite 41, vom 20.04.2014 Christa Weidlich Kategorien: Unsere Leser schreiben.

Vom 29. Januar bis 24. Juni 1945
Der unselige Krieg geht seinem Ende entgegen
Ein Bericht von Christa Weidlich, geboren 1932 in Lagow (gekürzte Fassung)

Ende Januar 1945 drang die Rote Armee in Lagow ein. Der Einmarsch verlief ohne Widerstand. Trotzdem wurden einige Häuser in Brand geschossen. Die ersten Panzer kamen. Die Panzersoldaten kontrollierten und suchten in den Häusern nach deutschem Militär. Deutsche Soldaten wurden sofort erschossen. Auch Zivilpersonen der Häuser, in denen sich die deutschen Soldaten versteckt hatten. Denn in vielen Privathäusern wurden gegen Ende des Krieges verwundete deutsche Soldaten untergebracht.
Wir wohnten damals auf der Tiergartenhöhe. Unser Haus stand dicht an der Straße. Panzer und Lastwagen fuhren durch Lagow.
Wir versteckten uns zuerst im Keller unseres Hauses. Später schlossen wir uns mit anderen Familien zusammen. Unser Vater war noch bei uns. Wir lagerten in einem Raum auf Strohsäcken und Matratzen. Die älteren Mädchen wurden zwischen den jüngeren Kindern versteckt, um sie vor dem Zugriff der russischen Soldaten zu schützen. Nachts kamen dann auch schon die ersten Soldaten und holten sich, was sie brauchten. Widerstand durfte sich niemand erlauben, es wurde sofort geschossen. Niemand traute sich nach draußen.
Am nächsten Tag mussten alle Bewohner der Tiergartenhöhe runter in die Stadt, weil Tieffliegerbeschuss drohte. Wir kamen zusammen mit einigen weiteren Familien in der Bäckerei Käthe unter. Das Bäckerehepaar nahm sich das Leben. Wir flohen in den Kindergarten.
Am 3. Februar trieben die russischen Soldaten alle Männer zusammen und fuhren mit ihnen fort. Wir sahen unseren Vater nie wieder.
Wir sollten unsere Häuser binnen einer halben Stunde verlassen und uns nur mit dem, was man tragen konnte, auf dem Sammelplatz an der Spiegelberger Chaussee einfinden. Es brach eine große Panik unter der deutschen Bevölkerung aus. Mutter musste für ihre neun Kinder sorgen – das jüngste ein Jahr und acht Monate, das älteste sechzehn Jahre alt – Der stabile Handwagen, den unser Vater noch bauen ließ und von dem er sagte, dass wir damit bis Potsdam laufen könnten, ohne zu ahnen, dass sich diese Aussage bewahrheiten würde, wurde mit dem Wichtigsten beladen. Mein Bruder Werner dachte noch an die Wagenschmiere und das Werkzeug. Die Kleinsten setzten wir in ihre Kinderwagen. Ich hatte die Verantwortung für meine jüngste Schwester, meine Schwester Martha, damals vierzehn Jahre alt, schob die dreijährige Erika in ihrem Sportwagen.
Immer mehr Menschen sammelten sich an. Sie weinten und waren verzweifelt. Alte und Kranke mussten zurückbleiben. Es dauerte Stunden, bis sich der lange Treck in Bewegung setzte. Vier oder fünf polnische Milizionäre führten den Treck. Sie wollten die Menschen vor Überfällen schützen, was aber oft nicht gelang. Tagelang liefen wir in Richtung Frankfurt/Oder. Auf den Straßen herrschte ein wildes Durcheinander. An den Straßenrändern lagen viele Gegenstände, tote Pferde, zerschossene Autos und Militärfahrzeuge. Wir sahen auch tote Menschen. Ich weiß nicht mehr wie lange es dauerte, bis wir zur Oder kamen. Wir hatten bis dahin oft unter freiem Himmel im Wald, in leeren Häusern und Ställen übernachten müssen. Es ist wirklich ein Wunder, dass von uns keiner verloren ging. Unser Schutzengel hat uns nicht verlassen. Unsere Mutter hat Großes geleistet und Gott stand ihr zur Seite. Die polnischen Milizionäre brachten den langen Treck noch über die Oder, danach überließen sie uns unserem Schicksal.
Am 19. Juli, dem Geburtstag unseres Vaters, fanden wir endlich in einem kleinen Dorf bei Potsdam eine neue Heimat und können doch die alte Heimat nicht vergessen. Nach einigen Tagen hatte unsere Mutter ausgekundschaftet, dass die Häuser auf der Tiergartenhöhe leer standen. Wir kehrten also zurück in unser Haus. Es war, wie alle anderen auch, ausgeplündert worden und sah sehr verwüstet aus. Nach und nach wagten sich auch die anderen Bewohner wieder zurück in ihre Häuser. Für unsere Mütter und für die älteren Mädchen begann eine schreckliche Zeit. Sie waren der Willkür und der Gewalt der Soldaten ausgesetzt. Wir Kinder mussten die Vergewaltigungen unserer Mütter und älteren Schwestern mit ansehen.
Zum Glück war noch unser Arzt, Dr. Gies da. Er richtete in der Försterei eine Krankenstation ein und linderte die Not der Frauen und Mädchen. Manche von ihnen waren so zugerichtet worden, dass sie starben.
Am 8. März wurden alle Mädchen im Alter von 16 bis 21 Jahren von den Sowjetsoldaten eingesammelt und abtransportiert. Man sagte nicht, wohin und für wie lange. Nur wenige kehrten aus der Gefangenschaft zurück.
Wir Kinder stromerten durch den Ort und suchten nach etwas Essbarem, denn der Hunger war groß. Manchmal bekamen wir auch von russischen Soldaten ein Brot geschenkt.
Als dann im Mai der Krieg zu Ende war, bekam Lagow eine russische Verwaltung, die das Leben im Ort kontrollierte. Wir Kinder wurden zu Aufräumarbeiten und anderen Hilfsdiensten herangezogen. Die Frauen erhielten den Befehl, die Felder zu bestellen und in den Gärtnereien und Hausgärten Gemüse anzubauen. Sie mussten für die russischen Soldaten auch kochen.
Die Rote Armee zog dann aus Lagow ab. Nun stand Lagow unter polnischer Verwaltung. Mehr und mehr Polen kamen nach Lagow und richteten sich in den leer stehenden Häusern ein. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen und Gesetzesverletzungen, dennoch hofften wir, dass sich das Leben bald normalisieren würde.
Dann kam der 24. Juni. Das für uns Unvorstellbare sollte geschehen.
Christa Weidlich – Potsdam

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