Die kleinste Stadt der Mark Brandenburg
National-Zeitung 1896, 13. September, Sonntagsbeilage, S. 1–2.
Aus der Sammlung: Johannes Trojan:
Berliner Bilder. 133 unbekannte Momentaufnahmen. Hrsg. von Ulrich Goerdten. Bargfeld 2013.
Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers
Es ist die beste Frau, heißt es, von der am wenigsten gesprochen wird. Das habe ich manchmal gedacht, wenn ein neues reizendes Landschaftsbild in der Mark Brandenburg meinen Augen sich aufthat. Wie viel Wunderbares solcher Art, wovon die sogenannte Welt so gut wie nichts weiß, ist in der verrufenen Streusandbüchse des heiligen römischen Reiches zu finden! Sehr viele sehr renommirte Punkte können, genau betrachtet, gar nicht aufkommen gegen die Reize, die in verschwiegener Wald- und Wasserlandschaft unsere verachtete Mark birgt.
Wer weiß etwas von Lagow? Nun, ein klein wenig davon wußte ich seit Jahren schon. Ein Regierungsrath, der mit dem Steuerwesen zu thun hat, außerdem aber dichtet und Sinn für die Natur besitzt – auch unter den Regierungsräthen kommt mitunter ein solcher Kauz vor – hatte mir eines Abends spät beim Rißbacher verrathen, daß Lagow etwas ganz besonders Feines sei. Das merkte ich mir, nachher aber stellte sich Lagow als von Berlin aus nicht ganz leicht erreichbar heraus, und da mancherlei dazwischen kam, blieb mein Projekt, dorthin einen Ausflug zu machen, wie andere Projekte liegen. Nun bin ich doch dort gewesen, und wie ich dazu gelangt bin, soll später gesagt werden.
Da ich es für eine Hauptpflicht des Schriftstellers, zumal des für Zeitungen schreibenden, erachte, gründlich zu sein, so will ich mich zunächst über die Lage Lagows auslassen. Diese muß als überaus merkwürdig erscheinen. Ich will es versuchen, sie zu schildern. Es giebt eine Stelle, wo drei Kaiserreiche, Deutschland, Österreich und Rußland, an einander stoßen. Das ist da, wo auf deutscher Seite in Oberschlesien das Städtchen Myslowitz liegt. Man sagt, wenn dort ein dreieckiger Tisch stände, so könnten daran die drei Kaiser, jeder auf seinem eigenen Herrschgebiet, sitzen. Geht man von dieser merkwürdigen Stelle vierzig geographische Meilen weit in west-nordwestlicher Richtung, so kommt man an einen Punkt, wo drei Provinzen des preußischen Staates, Brandenburg, Schlesien und Posen, aneinander stoßen. Und das ist das Außerordentliche, daß in jedem der drei Provinzzipfel ein berühmter Weinort liegt: in Schlesien Grünberg, in der Mark Brandenburg Züllichau und in Posen Bomst. In dieser Gegend, nicht sehr weit von der posenschen, etwas weiter von der schlesischen Grenze entfernt liegt in der Mark Brandenburg das Städtchen Lagow.
Die Einwohnerschaft Lagows beträgt nach amtlichen Angaben 482 Seelen. Ob diese Angaben zur Zeit noch richtig sind, kann ich nicht sagen, da ich nicht selbst nachgezählt habe; jedenfalls ist Lagow, auch wenn es heute schon 500 Einwohner haben sollte, die kleinste Stadt der Mark Brandenburg. Vielleicht ist es zugleich die kleinste Stadt Deutschlands. Darauf wetten will ich nicht, denn es könnte doch in Westpreußen oder Posen oder eben hoch im Gebirge ein Städtchen geben, das noch kleiner ist.
Als eine so kleine Stadt schon ist Lagow etwas Eigenartiges und Reitzendes. Der Bürgermeister dieses Ortes, dem jetzt draußen vor der Stadt ein schönes Haus gebaut ist, muß mit seiner Gemeinde leben wie in einer großen Familie. Natürlich kennt er alle Einwohner der Stadt persönlich und kann sich, zumal wenn er Amateur-Photograph ist, ohne viele Mühe ein Album anlegen, das ihre sämmtlichen Portraits enthält. Es ist nicht unmöglich für ihn, die ganze Stadt einmal, an seinem Geburtstag etwa, zu sich einzuladen, zumal wenn dieser Festtag in die gute Jahreszeit fällt und er im Freien vor dem Hause lange Tische aufstellen kann. Auch sonst erfreut er sich mancher Vortheile, wegen derer ein Bürgermeister und selbst ein Oberbürgermeister einer großen Stadt ihn beneiden könnte. Ich kann mir nicht denken, daß er viel zu thun hat. Seine Zeit wird es ihm erlauben, Musik zu treiben, wenn er musikalisch veranlagt ist, oder zu dichten, wenn er Begabung für Poesie hat. Besitzt er Sinn für die Naturwissenschaften, so wird er Muße genug haben, Käfer zu sammeln oder die sehr anziehende Flora der Umgebung des Ortes zu studiren.
Lagow ist im Grunde noch sehr viel kleiner, als der angegebenen Einwohnerzahl nach zu erwarten ist. Der größte Theil derselben fällt auf beide Vorstädte, die märkische oder Berliner und die polnische. Lagow selbst hat nur Raum für eine geringe Zahl von Bewohnern. Es liegt nämlich zwischen zwei großen Seen, dem Tschetschsee und dem Lagower See, auf einer Landenge, durch die ein Kanal geführt ist. Auf diesem engen Gelände ist um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts vom Herrenmeisterthum Sonnenburg aus die Johanniterkomturie Lagow gegründet worden. Die eigentliche Stadt besteht auch jetzt noch lediglich aus der alten, von einer Ringmauer umschlossenen Ritterburg, an die kleine Häuser in bescheidener Zahl sich angeschmiegt haben. Ein paar davon stehen, wie man es an ähnlichen Orten häufig findet, auf der Mauer. Man kann hier noch genau wahrnehmen, wie im Schutz einer Burg Handwerker und andere Leute, die nach ihr Bürger genannt werden, sich ansiedeln, und wie allmählich daraus ein städtisches Wesen entsteht. Das in diesem Fall entstandene ist sehr klein geblieben. Lagow hat zwei Stadtthore, die einander gegenüber liegen, und es heißt, wenn ein Erntewagen durch Lagow fährt, so ist er mit seinem hinteren Ende noch nicht in der Stadt, wenn die Pferde mit ihren Köpfen schon aus der Stadt heraus sind.
Durch die Jahrhunderte hindurch hat sich ein gewaltiger Bergfried, der große runde Thurm des alten Ordensschlosses erhalten, an den sich das heutige Lagower Schloß, das, seiner Bauart nach zu urtheilen, im Wesentlichen neueren Ursprungs ist, anlehnt. Das Dach des Schlosses überragen herrliche alte Bäume.
Einen köstlichen Blick auf das Schloß und das Städtchen, die beiden Vorstädte und weiter über Wasser und Wald hat man von dem Kirchhof aus, der im Westen des Städtchens auf steil abfallender Höhe liegt. Zum Ausruhen kann es – so dachte ich, als ich vor Kurzem dort oben stand – für einen Wanderer keinen Platz geben, der mehr heiteren Frieden athmet. Mächtige alte Linden beschatten die Gräber. Überall im Grase blüht jetzt dort die himmelblaue ährenblüthige Veronica, die sich auch auf vergessenen eingesunkenen Grabhügeln angesiedelt hat. Sie bildet auch den Hauptbestandtheil der aus wilden Blumen gebundenen Sträuße, welche die Liebe der Armuth in Gläsern und Näpfen auf noch erhaltene und gepflegte Gräber gestellt hat. Eine der reizendsten Blumen
unserer heimischen Flora ist sie und in der Mark nicht selten.
Dem Friedhof benachbart, durch eine Einsenkung von ihm getrennt, findet sich auf bewaldeter Höhe ein deutlich erkennbarer alter Burgwall von ringförmiger Gestalt.
Das Schloß von Lagow ist Eigenthum einer dreijährigen Gräfin von Wurmb, die aber zur Zeit nicht dort residirt. Es ist darum jetzt wohl besonders still im Schloß und im Garten, wo die hohen Sonnenblumen über die Binsen am Ufer hinüber nach dem Wasser sehen, auf dem doch mitunter ein Boot sich nähert. Den dicken Thurm aber umfliegen noch die Schwalben, die nun bald Abschied nehmen werden. Lagow hat einen kleinen Kreis von Honoratioren, zu denen der Oberförster, der Pfarrer und der Obersteuerkontrolleuer gehören. Von Zeit zu Zeit wird in Lagow Gerichtstag abgehalten, zu dem die Richter vom Amtsgericht in Zielenzig kommen. Am Ort ist ein Fischer ansässig, der auf beiden Seen einträgliche Fischerei betreibt. Sonst wird das Städtchen zum größten Theil von Handwerkern bewohnt, die sich, da sie von der Kundschaft im Orte selbst nicht leben können, solche in der Umgegend suchen. Daneben haben sie ihr Stückchen Gartenland, auf dem sie Gemüse bauen, und so schlagen sie sich mit einiger Mühe durch. Die gute Jahreszeit bringt einige Sommergäste aus Frankfurt a. O., die ein paar Wochen in dieser angenehmen Gegend sich aufhalten. Natürlich kommen auch Radfahrer von Grünberg in Schlesien, wo der gute Wein wächst, und von andern Orten her nach Lagow. Wo erschienen denn Radfahrer nicht? Auf den einsamen Schneisen der Waldheide kommen sie einhergesaust, das entlegenste Fischerdorf an der See und die letzte Hütte im Hochgebirge ist vor ihnen nicht sicher. Der Gastwirt aber sieht sie mit mäßigem Vergnügen nahen, weil sie sich nie lange aufhalten und ihr Kodex ihnen den Genuß geistiger Getränke – glücklicher Weise , kann man sagen – verbietet. Denn wenn sie ihres Rades nicht einigermaßen Herr wären, welches Unheil würden sie dann erst unter Pflanzen, Thieren und Menschen anrichten!
Am andern Morgen fand um fünf Uhr das „große Wecken“ statt, und bald um sechs ging es zu dreien mit der Bahn über Schmargorei, das seines seltsamen Namens wegen erwähnenswerth erscheint, über Drossen, wo die Anzucht von Maiblumenkeimen für den Handel im Großen betrieben wird, und über Bielenzig, wo das schon erwähnte Amtsgericht sein Sitz hat, nach Schermeisel. Schermeisel klingt so, als müßte der Ort im Posenschen liegen; er liegt aber noch in Brandenburg, allerdings nahe der posenischen Grenze. Von Schermeisel geht die Straße nach Meseritz. Diese wählten wir aber nicht, sondern stiegen aus und setzten unseren Weg zu Fuß fort. Nach einer halben Stunde wurde im Kiefernwalde Frühstück gehalten; bald darauf kamen wir in Laubwald hinein und dann am Ufer des kleinen und des großen Bechensees in eine überaus reizende Landschaft. Beim Anblick der mit Buchenwald bedecken Hügel, deren einer sich über den andern erhob, konnte man sich in eine idyllische Gegend des Herzes oder Thüringens versetzt fühlen. Am Tschetschsee, an den wir darauf gelangten, fanden wir einen Nachen, der auf uns wartete. Er führte uns um Mittag hinüber nach Lagow, wo der schwarze Adler des Herrn Schindler uns unter seine trefflichen Fittiche nahm. Nachdem wir uns gestärkt und von der Höhe aus einen Blick auf die Landschaft geworfen hatten, bestiegen wir wieder den Nachen und ließen uns wieder über den Lagower See rudern bis zu seinem südlichen Ende, wo das Forsthaus Lindengrund ist. Der See ist ziemlich schmal, einem breiten Fluß ähnlich, und mit großer Deutlichkeit konnten wir auf beiden Seiten, da es stilles und sonniges Wetter war, im Wasser das Spiegelbild der bewaldeten Ufer sehen. Das entzückte selbst unsern Schiffsmann so, daß er uns wiederholt darauf aufmerksam machte. „Sehen Sie den Vogelbeerbaum“, sagte er einmal. „Im Wasser sieht man die Beeren genau so roth, wie sie oben sind.“
Vom Lindengrund ging es in Geschwindschritt – wir hatten etwas mehr Zeit gebraucht als im Programm vorgesehen war – nach der Bahnstation Topper. Es handelte sich darum, noch den letzten Zug zu erreichen, und das gelang uns. In der Dämmerung konnten wir noch flüchtig das mit vielen Thürmen gezierte prächtige Schloß Topper bewundern, ehemals Besitzthum derer von Manteuffel, jetzt, wie wir von einem Dorfkinde erfuhren, einem Herrn Müller gehörig. Es war aber Sonntag und im Dorf war ein Karussel, das sich lustig zu den Klängen einer mehr lauten als melodischen Musik drehte. Gern wäre ich darauf ein paar Mal in die Runde gefahren, dazu war aber leider keine Zeit mehr übrig.
In Frankfurt trennte ich mit von meinem Gastfreunde und dessen Gattin und fuhr nach Berlin weiter, das ich mit einer Stunde Verspätung – dies scheint an Sonntagen die Regel bei den von Frankfurt kommenden Zügen zu sein – um ein Uhr früh erreichte. Ich war neunzehn Stunden unterwegs gewesen, von denen sieben auf die Eisenbahn, zwei auf die Kahnfahrt und fünf auf die Fußwanderung fielen. Es blieben also noch fünf Stunden Rast, und das Ganze war eine sehr bequeme Partie.