Kriescht heißt heute Krzeszyce
In Kriescht gingen am 22. Juni 1945 die Lichter aus
Von Erhard Moritz
Der Anlass zu diesem Bericht ist das beigefügte Bild vom Konzentrationslager Sonnenburg, wo zwei Tage zuvor nach dem Erscheinen der Russen über 800 Gefangene erschossen bzw. ermordet wurden.
Aber ich möchte viel weiter von vorne beginnen, nämlich am 22. Juni 1945, es war mir erst vor einiger Zeit eingefallen, dass genau vor vier Jahren der Krieg gegen die Sowjetunion begonnen wurde.
Nun zu meinem Thema: Es begann sich in jener Zeit in Kriescht und auch des Weiteren ein Gerücht zu vertiefen, dass wir unsere Heimat verlassen müssen. Sicher meinten wir, das sollte nur vorübergehend sein, aber keiner wusste etwas Genaues.
An einem wunderschönen Sommertag gingen wir, wie in den Tagen vorher, ganz früh am Vormittag zur Arbeitseinteilung. Die aus der Schweriner Straße und der Trift trafen sich bei der ehemaligen Kohlenhandlung Ohst. Hier hatte sich vorerst die polnische Gemeindeverwaltung niedergelassen.
Der polnische Beauftragte erzählte uns eine ganze Menge, was wir kaum in seiner polnischen Sprache verstanden. So kündigte er uns eine Liste an über die Zulieferung von Lebensmitteln, die wir in Zukunft für unsere Arbeit bekommen sollten. Er sprach von Brot, Butter und, und – und diesen Satz werde ich nicht vergessen – wir sollten auch pro Kopf/Tag einen Gramm Schwarzen Tee bekommen.
So standen wir nun dort, warteten auf unsere Arbeitseinteilung, aber, was komisch war, er hatte an diesem Tag keine Arbeit für uns und schickte uns alle nach Hause. Wir wehrten uns dagegen, denn ohne Arbeit gab es nichts zu beißen, aber alles war zwecklos.
Zu Hause angekommen konnten wir zwei polnische Soldaten beobachten, die mit einem russischen Karabiner bewaffnet von Haus zu Haus gingen. Die Bewohner kamen dann bepackt auf die Straße. Schnell suchten auch wir einige Sachen zusammen, denn jetzt hatten wir die Bestätigung, wir müssen weg; wer wusste schon wie lange. Unter polnischer Begleitung wies man uns die Schweriner Straße entlang zum Anger. Auch die provisorische Krankenstation im Hause vom Schuldiener Mertens wurde geräumt. Für eine Frau wurde eine Trage gezimmert, die zum Transport auf einen Handwagen dienen sollte. Dann, so etwa gegen 3 Uhr am Nachmittag, als man wohl alle Krieschter zusammengeholt hatte, wurde befohlen loszuziehen. So tippelten wir an Reimanns Ecke vorbei die Sonnenburger Straße entlang Richtung Küstrin. Weiter ging es auf der Reichsstraße 114 an Groß-Friedrich vorbei, dann Burgwall, und mit großer Mühe den Berg hinauf nach Limmritz, denn sehr viele hatten als Transportmittel ihrer noch übriggebliebenen Habe kaum etwas Geeignetes; manches war auf die Schnelle handgezimmert.
Am Eingang von Limmritz hieß es plötzlich: Stopp. Die Frau, die man auf der Trage von Kriescht mitnehmen musste, war verstorben. Sie sollte hier auf Anordnung der polnischen Begleitung begraben werden. Es blieb ja nichts Besseres übrig. Meine Mutter kannte die Verstorbene Frau Tietz sehr gut. Wir waren früher sehr oft am Anger auf Besuch gewesen. So ging meine Mutter auch zu der provisorischen Beerdigung.
Dann ging es weiter, aber niemand in Limmritz war an der Straße. Wo waren alle diese Leute? Später hatte ich eine Erklärung dafür: Man hatte mit der Ausweisung stufenweise begonnen, erst die Orte an der neuen Grenze (zu dem Zeitpunkt war für uns das alles noch unbekannt), und dann immer weiter zurück.
Limmritz ließen wir hinter uns, dann an der Munitionsfabrik vorbei, es wurde langsam schummerig, erreichten wir Sonnenburg. Ganz am Anfang des Ortes lag das inzwischen völlig zerstörte Zuchthaus; dass es auch Konzentrationslager war, ist den meisten von uns unbekannt gewesen.
Das Zuchthaus wurde unser Nachtquartier zwischen Trümmern der zerstörten Gebäude. Mein Mutter und ich mit noch einigen Nachbarn hatten das Glück, in einem jetzt nun unbenutzten Pferdeunterstand (es roch noch immer nach Pferd) unser Nachtlager aufzuschlagen.
Hier komme ich zu dem aus dem Bundesarchiv beigefügten Bild. Als wir in das Zuchthaus eingewiesen wurden, stand rechts neben dem Eingang ein großes Bild mit dem Hinweis, dass hier zwei Tage vor dem Erscheinen der Russen noch über 800 Gefangene erschossen bzw. ermordet wurden. Am Schluss dieses Berichtes komme ich darauf zurück.
Zunächst also weiter von Sonnenburg nach Küstrin. Am Ortsausgang hat es früher mal einen Bahnhof gegeben, den man jetzt vergeblich suchte. Ein Stückchen weiter konnte man von hier aus schon die Stadt Küstrin erblicken, aber es war alles weg. So kamen wir an den Haltepunkten unserer Bahn Küstrin–Hammer vorbei: Schernow, Neu-Amerika usw. Über die Oder war von den Russen eine Holzbrücke gebaut worden, die auch einen T34 standhalten konnte.
So ganz langsam kamen wir nach Küstrin-Kietz. Hier waren wir erstaunt, dass uns viele Leute an der Straße beobachteten. Natürlich gab es eine ganz einfach Erklärung: „Hier seid ihr jetzt in eurem Deutschland“, sagte uns einer der begleitenden polnischen Bewacher, und hatte es mittlerweile ziemlich eilig wieder zurückzugehen. Es könnte sein, dass sie auch abgeholt wurden. Wir schauten uns alle ein bisschen verdutzt an, und hatten es immer noch nicht richtig begriffen, dass das Gebiet östlich der Oder polnisches Staatsgebiet geworden war!
Aber zurück nach Sonnenburg. 1975 fuhr ich zum ersten Mal nach der Vertreibung mit meiner Frau und meiner Schwiegermutter wieder einmal nach Kriescht. Ich hatte durch eine Vermittlung meines Onkels aus Frankfurt/Oder eine Adresse einer polnischen Familie, wo der Ehemann deutsch sprach, und die in Woxfelde wohnten. U.a. wollte dieser Pole uns unbedingt das Museum zeigen, was in Sonnenburg beim ehemaligen Eingang des Zuchthauses eingerichtet war. Die Besichtigung war sehr interessant und das Museum war auch verständlich für einen Deutschen Besucher eingerichtet worden. Leider vermisste ich das Bild von 1945. Später wurde von anderer Seite behauptet, dass von 8000 Toten die Rede war, was ja nicht stimmte.
Voriges Jahr, 2011, war ich mit meiner Frau wieder einmal dort, und wir wollten noch einmal unbedingt das Museum besichtigen. Am Haupteingang fanden wir eine Telefonnummer, und prompt kam auch ein Pole, der hierfür zuständig war und mit dem wir uns verständlich machen konnten. Er wollte uns erst gar nicht ins Museum reinlassen, weil er sich schämte, denn die Räume waren chaotisch. Es regnete überall durch und die sonst so sauber gehaltenen Bilder waren kaum noch zu deuten. Es ist aber wohl so, dass das Interesse entschieden nachgelassen hat. Nach dem damaligen Bild gefragt, konnte er uns auch keine Auskunft geben.
Nach mehrmaligem Reinschauen ins Internet wurde ich fündig. Im Bundesarchiv unter Bild-Nr. 183-E0406-0022-035/CC-BY-SA fand ich endlich das gesuchte Bild:
Zuchthaus Sonnenburg. Sowjetische Soldaten zwischen ermordeten Häftlingen stehend. – In der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1945 ermordete ein SS-Kommando 800 (nicht 8000) Häftlinge des Zuchthauses Sonnenburg, darunter 91 Refraktäre aus Luxemburg. (Als Refraktäre werden solche jungen Männer bezeichnet, die sich der Wehrpflicht entzogen, die Gauleiter Gustav Simon entgegen jeglicher Bestimmungen des Völkerrechts am 30. August 1942 in Luxemburg eingeführt hatte. 3510 junge Luxemburger von 10200 Betroffenen stellten sich nicht oder entzogen sich dieser „Pflicht“ durch Desertion.)