Fahrt in unsere Heimat – Abschied von Grunow
von Lieselotte Porsche geb. Karpe
Ein Artikel im Heimatbrief 1/2012 „Wenn die Heimatglocken leise klingen“ inspirierte mich und meinen Bruder Wolfgang Karpe zu einer Reise in unsere alte Heimat. Im letzten Abschnitt des Beitrags heißt es nämlich „…vorbei an der Försterei Grunow – hier, wie die Inhaber aller Förstereien, die wir auf unserer Heimatfahrt berühren und die in der kommenden großen Not hervorragende Menschen waren – gilt ihnen und ihren Familien unser besonderer Gruß.“
Und in eben dieser Försterei bin ich im November 1935 geboren. Meine Eltern, Revierförster Erich Karpe und seine Frau Frieda, lebten von 1931 bzw. 1933 bis Ende Januar 1945 hier. Zusammen mit meinen Brüdern Wolfgang, Klaus Dieter und Peter verlebten wir hier eine schöne, unbeschwerte Kindheit. Wir wuchsen mitten im Walde auf, lernten Tiere und Pflanzen kennen, gingen baden, rudern und fischen im Lagow-See. Wir hatten Hunde und alle Tiere, die zur Versorgung der Familie nötig waren: Kühe, Schweine, Hühner, Enten u.a. Zur Schule gingen wir nach Grunow zum Lehrer Zeh allein durch den Wald ca. 2 km und oft barfuß. Wegen seiner herrlichen Lage am Lagow-See war das Forsthaus Grunow im Sommer auch von Verwandten als Urlaubsort begehrt, für uns Kinder eine willkommene Abwechslung.
Im Januar 1945 fand diese schöne Zeit ein jähes Ende. Nach einem warnenden Telefonanruf von meinem Patenonkel Oberförster Hauk aus der Försterei Buchspring, bei dem russische Soldaten vor dem Haus standen und ihn später erschossen haben, flüchteten wir mitten in der Nacht vor der schnell anrückenden Front. Bei großer Kälte und im tiefen Schnee stapften wir zum Bahnhof Grunow. Mitnehmen konnten wir nur, was wir tragen konnten: Schulranzen mit Brot, Wurst und Namen mit Adresse unserer Verwandten auf dem Rücken, auf einem Schlitten noch ein Koffer mit persönlichen Dingen und Federbetten. Mutter trug den kleinen Peter gerade 2 Jahre alt – in einem Pelzmantel gehüllt. Unser Vater brachte uns zu einem dort wartenden Bus, wohl die letzte Gelegenheit für uns, noch über die Oder zu kommen. Da er dem „Volkssturm“ angehörte, durfte er nicht flüchten. Ihm gelang es aber später auch noch wegzukommen und sich zu unserem Notquartier bei Verwandten in der Nähe von Halle durchzuschlagen. Nach dem Krieg waren wir zwar bettelarm, aber wieder glücklich vereint.
Unsere neue Heimat wurde Mitteldeutschland: Röblingen am See, Bischofrode bei Eisleben und schließlich Gernrode/Harz, wo unsere Eltern bis 1985 bzw. 1988 lebten. Vater arbeitete bis 1967 als Forsteinrichter und führte nach seiner Pensionierung Urlauber durch den Harzwald und brachte ihnen die „Ehrfurcht vor dem Wald“ und dessen Schönheit nahe, wie auch seinen 9 Enkelkindern. Ich selbst lebe seit 1960 berufsbedingt in der Magdeburger Börde, wo mir eigentlich immer der Wald fehlt. Soviel nur zur Vorgeschichte, unserer Kindheit und Familie und Leben danach.
Und nun zu dem anfangs genannten Bericht in der Heimatzeitung: Gelesen, kopiert und an Bruder Wolfgang geschickt, Sofortreaktion: „Da fahren wir hin, und Du kommst mit!“
Dienstag, 14.8.2012 – Fahrt nach Frankfurt/Oder zur Übernachtung und kurzem Stadtbummel. Mittwoch, 15.8.2012 – Erwartungsvolle Weiterfahrt nach Lagow. Auf der Fahrt dahin fielen uns schon einige bekannt klingende Ortsnamen auf wie z.B. Koritka, früher Koritten u.a. und der Spiegelberg, ein Wahrzeichen unserer ehemaligen Heimat war immer präsent.
Erster Halt dann an der Grunower Mühle – leerstehend und zum Verkauf angeboten. Weiterfahrt zum Bahnhof Grunow, wo wir damals in den rettenden Bus eingestiegen sind, der uns nach Mitteldeutschland brachte. Vom Bahnhof mit der gegenüberliegenden Brennerei – damals Pehe – ging es links ab zum Forsthaus. Wir pflückten uns jeder einen schönen Strauß Heidekraut und ich nahm noch einen kleinen Stein mit. Die Spannung stieg. Weiter ging es vorbei an der Eisenbahnbrücke, durch die unser Schulweg führte, Richtung Forsthaus. Und dann die große Ernüchterung – nichts davon war mehr vorhanden. Nur eine Tafel erinnert noch daran, dass dort einmal ein Forsthaus stand. Die noch dastehenden alten Linden und Apfelbäume machten es uns aber möglich, zu rekonstruieren wie es einmal war. Natürlich flossen Tränen und viele Erinnerungen wurden wach „Weißt Du noch…“ Stabile Holzbänke luden zum Picknick ein und mein Bruder fuhr mit seinem mitgebrachten Fahrrad den Weg zur Grunower Mühle und zum ehem. Bismarckplatz am Lagow-See, wo er wie früher auch badete. Nach längerer Pause nahmen wir nun – sicherlich zum letzten Mal – Abschied von unserer alten Heimat.
Weiter ging es über vormals „Abels Eck“ nach Lagow (früher die kleinste Stadt Preußens), damals wie auch heute ein begehrter Ausflugsort mit vielen Touristen. Faszinierend seine Lage direkt am See, die Johanniterburg und die beiden Backsteintore, Polnisches und Märkisches Tor. Viele Touristen waren unterwegs und die Stadt bietet im Sommer ein reiches kulturelles Angebot – u.a. Filmfestspiele, Konzerte, Ritterspiele, Festival der Jagdmusik. Auf dem See wimmelt es von Booten aller Art.
Nachdem wir uns mit Kaffee und Kuchen gestärkt hatten, ging es weiter nach Grunow, dem kleinen Dorf, in dem wir einst zur Schule gegangen waren. Gleich am Ortseingang steht eine neue große Hotelanlage mit schönen Finnhütten, wo wir schon einmal übernachtet haben. Wir hielten im Dorf, gegenüber dem ehemaligen Standort unserer Schule, gingen einen Teil unseres früheren Schulweges und auch ein Stück durchs Dorf. Dort trafen wir zu unserer großen Freude eine Frau in unserem Alter, die Deutsch sprechen konnte und uns viel über die Vergangenheit und Gegenwart des Dorfes erzählen konnte. Sie stammt aus Grunow und mit einer Unterbrechung während des Krieges infolge Deportation nach Deutschland hat sie immer in Grunow gelebt. Es war eine schöne und herzliche Begegnung von geborenen Grunowern mit unterschiedlichem Lebensweg und ein guter Abschluss unseres Besuches in der alten Heimat.
Danach ging es wieder zurück nach Frankfurt auf der Straße, auf der wir 1945 geflüchtet waren. Viele Tankstellen und Nachtklubs am Straßenrand. Von der Grenze merkt man kaum etwas. Das war unser Abschiedsbesuch in der alten Heimat.