Erlebnisse einer evakuierten Schülerin und Lehrling 1943-1945
Von Ingeborg Kretschmer, geb. Kramm
Teil 2
Eine weitere Episode ergab sich eines abends beim Krebsessen. Meta hatte Urlaub und aus irgendeinem Grund hatte ich alleine Dienst. Es waren einige Gäste da und, da das Ehepaar v.B. verreist war, war Frau v. Boose die Hausfrau. Ich hatte die Tafel mit dem entsprechenden Krebsbesteck gedeckt und auch die Fingerschalen fehlten nicht. Inzwischen war ich fast perfekt, auch beim Servieren. Berta schickte mir die Schüsseln per Aufzug mit den gekochten Krebsen hoch. Ich brachte sie ins Speisezimmer und stellte sie auf den Tisch. Ich brauchte in diesem Fall nichts zu servieren, man bediente sich alleine. War eine Schüssel leer, brachte ich eine frisch gefüllte. Der Abfall, die Krebsschalen, brachte ich in anderen Schüsseln zunächst in das angrenzende Anrichtezimmer. Hier hatte ich zwei Eimer, in den einen kamen die ausgelutschten Schalen und in den anderen die kleinen Scheren‚ also das, was niemand im Mund hatte. Aus letzterem sollte dann noch Suppe gekocht werden. Man war sehr sparsam.
Das Essen hatte um 19.45 begonnen, inzwischen war es kurz vor 22.00 Uhr. Frau v. Boose, schwanger, rannte etliche Male hinaus und erbrach sich auf der Toilette in der Garderobe. Ich bewegte die Schüsseln, volle mit Krebsen rein und die mit den Schalen raus. Berta muss unten in der Küche offenbar eingeschlafen sein. Ich musste jedenfalls etliche Male mit dem Aufzug rütteln‚ bis sie schlaftrunken angeschlurft kam. Ich verlangte nach Eimern, die Schalenschüsseln häuften sich nämlich in der Anrichte. Ich musste wieder rein, als ich wieder raus kam, standen zwei Eimer auf dem Tisch, einer leer und der andere voll mit Schalen. Die Schüsseln waren alle in einen Eimer entleert worden. Ich war entsetzt! „Welcher Idiot hat denn das getan?“, rief ich entsetzt. Da kam meine Mutter um die Ecke. „Schrei doch nicht so, ich will dir doch nur helfen!“, sagte sie. Ich: „Aber du hast alles zusammengeschüttet.“ Und ich erklärte ihr‚ weshalb getrennt werden sollte. Darauf nahm meine Mutter den vollen Eimer und entleerte ihn zur Hälfte in den leeren mit den Worten: „Na und, isst du die Krebssuppe?“ Ich konnte nur den Kopf schütteln. Das Essen dauerte bis 23.00 Uhr. Die restlichen Schalen wurden umschichtig in die Eimer entleert. Ich war sehr froh über die Hilfe meiner Mutter. Der Abwasch ging zu zweit wesentlich schneller.
Nochmals auf die Sparsamkeit zurückzukommen, die Köchin Berta war fast 60 Jahre alt und seit ihrer Jugend im Hause der v. B. Sie hatte eine Speisekammer; aber gnädige Frau hatte auch noch eine mit allen Vorräten und verschlossen. Und wenn es z.B. abends auf der Pfanne gebackene Mehlplinsen geben sollte, dann schloss Frau v. B. ihre Speisekammer auf, Berta erschien mit einem Teller und gnä’ Frau strich Schmalz auf den Teller‚ unterbrochen von Bertas Einwand: „Es reicht schon, gnä’ Frau!“ Die Kammer wurde wieder abgeschlossen. Ich glaube das Mehl durfte Berta selbst verwalten‚ ansonsten hätte sich ja ihre Speisekammer erübrigt. Gnä’ Frau war sich auch nicht zu schade‚ im Ausgehkleid, die Röcke zu raffen, um die Leiter am Getreideboden zu erklimmen und noch schnell höchstselbst Hühnerfutter aus dem verschlossenen Boden herunterzuholen! Tati und ich hatten dann die Arbeit mit dem entsprechend zugerichteten Kleid.
Dann ist mir noch etwas passiert. Ich hatte wieder abends alleine Dienst. Und während die Herrschaften aßen, musste ich die Fensterläden in der Bibliothek, wegen der Verdunkelung, schließen. Dazu musste ich mich weit aus dem Fenster lehnen und mit großer Kraftanstrengung den Fensterladen aus der Halterung lösen. Um das Gleichgewicht zu halten, angelte ich mit einem Bein nach hinten. Ich kam dabei an ein Stromkabel, welches mit einer Lampe verbunden war, die Lampe kippte um. Es war eine wertvolle chinesische Vase, das obere Vasenteil brach ab. Völlig abgetreten servierte ich den Nachtisch: Käse. Man merkte mir an, dass etwas geschehen sei und ich beichtete. Während Frau v. B. um das wertvolle Stück jammerte – ich meinte, man könnte es doch kleben; sie klärte mich darüber auf, dass der Wert trotzdem verloren sei – meinte Herr v. B.: „Na und, ist doch bloß ’ne Vase!“
So war ich einige Monate als Lehrling im Hause der v. B. beschäftigt. Frau v. B. fragte uns dann mal, was wir werden wollten, und ich sagte: „Zunächst werde ich Gutsinspektorin und dann Schriftstellerin! Frau v. B. schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hielt uns für billige Dienstboten. Wir bekamen im 1. Lehrjahr 11 DM, außer Kost und Logis, und im 2. Lehrjahr 12 DM. Die Landwirtschaftsschule schaltete sich dann ein und entzog die Ausbildungserlaubnis. Warum eigentlich, weiß ich nicht mehr so genau. Das bedeutete, wir hätten in einen anderen Ort gemusst. Das wollte ich nicht. Wo Christa hinging, weiß ich nicht.
Ich entschloss mich, das ganze als Teil meines Pflichtjahres zu betrachten. Um das zu vollenden, ging ich in den Nachbarort Mekow zu Schlinkes auf den Bauernhof. Die Familie Schlinke bestand aus Großmutter mit Ehemann, Frau S. , zwei Jungen und einem Mädchen. Herr S. war Soldat, ich lernte ihn nie kennen. 2 Ukrainer, 1 Knecht und 1 Magd, 1 Pole, als Schweizer (war für die Kühe verantwortlich), und 1 Holländer gehörten zum Personal. Morgens, um 6 .00 Uhr, aßen Letztere und ich die von der Oma gekochte Milchsuppe. Wir saßen an einem Tisch. Alle anderen Mahlzeiten nahm ich zunächst mit der Familie im Wohnzimmer ein. Dann fiel Frau S. ein, dass ich ja eigentlich zum Personal gehöre. Und ich musste in der Küche essen. Nach zwei Tagen, ich hatte mit am Tisch gesessen, wurde Frau S. von einer „guten“ Freundin darauf aufmerksam gemacht, dass ich als Deutsche nicht mit den Leuten einer verpönten Rasse zusammensitzen dürfte. Ich bekam einen kleinen Tisch extra für mich. Ich war unglücklich. Dann wurde bekannt, dass die Holländer ja nicht zu den verpönten Rassen gehören, sie seien der deutschen Rasse fast gleichzusetzen; aber auch nur fast! Also Holländer und Deutsche nicht an einen Tisch! Noch ein kleiner Tisch musste her. Er stand sonst im Korridor und wurde nur zum Essen hereingeholt. In der Küche konnte niemand mehr treten. Da reichte es dem Holländer. Er sagte zu mir: „Willst du am Katzentisch sitzen? Ich nicht!“ Er nahm meinen und seinen Tisch und verbarrikadierte damit die Küchentür. Nun aßen wir alle wieder gemeinsam. Und ich war froh! Da kamen mir, der gläubigen Nationalsozialistin, die ersten Zweifel am Regime. Das ging noch weiter. Das Ukrainermädchen musste sich in der Futterküche waschen. Ich fand das diskriminierend. Ich sagte zu ihr: „Davon, wie man euch hier behandelt, weiß der Führer sicher nichts!“ Sie lächelte nur über meine Naivität. Sie war sehr intelligent und versuchte schnell Deutsch zu lernen. Ich brachte ihr dann einige Begriffe, wie Namen von Tieren z.B. Elefant, bei. Das konnten wir, wenn wir gemeinsam im Garten arbeiteten. Sonst durfte man sich ja nicht unterhalten, es durfte niemand mitkriegen, dass man persönliche Kontakte zu Fremdarbeitern hatte.
Mein Tagesablauf sah folgendermaßen aus: 5.30 Uhr aufstehen, 6.00 erstes Frühstück, dann ins Wohnzimmer gehen, die Leselampe anmachen, „Guten Morgen“ sagen; denn die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Nun hatte ich, fast im Dunkeln, auf Knien das Wohnzimmer zu wischen. Das hätte ich etwas später sicher besser gekonnt; es entsprach aber offenbar dem Herrschaftsbefinden einer Frau Schlinke, die von der einfachen Bauersfrau nun zu jemanden, der sich Personal halten konnte, aufgestiegen war. Meine Mutter, sie kannte Frau Sch. noch aus ihrer Schulzeit, sagte ihr später darüber gründlich die Meinung; sie hatte meine an den Spitzen durchgescheuerten Hausschuhe, die sie mühsam für mich erworben hatte, bemerkt und mich nach der für sie unverständlichen Ursache befragt. Das Herrschaftsgebaren ging noch weiter. Ich wurde, Strümpfe stopfend, am Wohnzimmerfenster von der „guten“ Freundin vorgefunden, und ich saß, welch ein Frevel!, auf einem Sessel. Übrigens ein hartes unbequemes Ding. Ich saß da nur, weil es weiter hinten im Zimmer zu dunkel und ich Licht sparen wollte. Es wurde Frau Sch., die gerade nicht anwesend war, hinterbracht. Und nun bekam ich etwas zu hören. Man konnte auch nicht verstehen, dass ich sagte, für mich bestehe kein Unterschied zwischen einem harten Stuhl und einem ebensolchen harten Sessel.
Ansonsten habe ich aber in Mekow viel gelernt und meistens bei der Oma des Hauses. Wir stiegen zusammen in den Keller. Oben wurde die Kommode, die auch sonst den Einstieg unsichtbar machte, über die Fußboden-Klappe geschoben. Wir setzten ein kleines Butterfass in Gang. Wir machten heimlich Butter. Das war staatsgefährdend. Am Anfang des Krieges wurden alle Butterfässer requiriert und im Spritzenhaus eingeschlossen. Alle Milch musste abgegeben werden. Für den Hausgebrauch bekam man Magermilch und‚ entsprechend der Personenzahl, eine gewisse Buttermenge von der Molkerei zurück. Wir waren aber stets ausreichend versorgt. Nur ich glaube, der Gatte der Oma, er lief stets in SA-Uniform herum, hatte davon keine Ahnung. Wir butterten nur, wenn er längere Zeit abwesend war. Dann lernte ich Brot backen. In einer großen Holzmolle wurde am Vortag ein Klumpen Sauerteig, der vom letzten Backen, kühl gelagert, aufgehoben worden war, mit Mehl verrührt. Das Ganze „ging“ dann 24 Stunden. Am Backtag kam noch mehr Mehl hinzu und alles wurde gut durchknetet. Nun wurden Laiber geformt. Sie mussten vor dem schon vorgeheizten warmen Backofen auch noch mal etliche Stunden „gehen“. Nun wurde das brennende Reisig aus dem Ofen geragt und man spritzte, mit der Hand, Wasser hinein. Wenn das Wasser in großen Tropfen durch den Ofen hüpfte, war die Temperatur richtig und die Brote wurden eingeschoben. Über die genaue Backzeit weiß ich nichts mehr, es war aber mehr als eine Stunde. Auf Grund der Bräunung wurde entschieden, wann die Brote rauszuholen waren. Nun wurden sie mit Wasser bestrichen und konnten auskühlen. Der Brotvorrat für die nächsten zwei Wochen war gesichert, ebenfalls der nächste Backtag; denn es wurde ein Klumpen des Teiges in Mehl in einem Steintopf aufbewahrt. Schlinkes Backofen befand sich in einem Kellerraum. Der meiner Großmutter befand sich im Freien, hinter dem Vier-Stuben-Haus. Er kam nur zu Festtagen zur Geltung und das halbe Dorf brachte Kuchenbleche zum Abbacken. Das war ein Backofen wie im Märchen von Frau Holle.
Nach dieser Abschweifung zurück nach Mekow. Ich lernte Kühe melken, die Milch durchseihen und für den Abtransport in die Kannen zu füllen und war beim Kalben zugegen. Ferner lernte ich alles Geflügel zu schlachten. Meine erste Huhn-Schlachterei ist mir noch in Erinnerung. Wolfgang, Schlinkes Ältester, wenig jünger als ich, hielt das Huhn mit dem Kopf über dem Hauklotz und instruierte mich, ja richtig zuzuschlagen. Das tat ich auch. Der Kopf war mit einem Hieb ab, ihn erwischte, die dann blutgefleckte, dabeisitzende Katze. In der Futterküche wurde das Huhn gebrüht, das durfte nicht zu heiß sein, sonst hätte sich, samt der Federn, wie beabsichtigt, auch die Haut gelöst. Nun wurde das Huhn ausgenommen; dabei musste man darauf achten, dass man die Leber und die Galle ganz herausbekam um sie dann zu trennen. Ansonsten wäre die Leber ungenießbar geworden Aber es klappte. Ich konnte keinen Bissen dieses Huhnes herunterbringen. Bei den nächsten von mir geschlachteten, aß ich auch wieder. Enten wurde der Hals umgedreht und dann abgeschnitten, Gänse wurden „gestochen“. Man musste die, durch einen Schlag am Kopf vorher betäubte Gans, fest zwischen die Schenkel nehmen‚ den Kopf festhalten und über ein Gefäß zum Auffangen des Blutes halten und dann stach man, mit einem Messer, oben in den Kopf und ließ sie ausbluten. Das war wichtig. Die Federn mussten unbefleckt bleiben. Gänse wurden ungebrüht gerupft. Das musste gleich nach der Schlachtung geschehen, sonst saßen die Federn zu fest. Meine Zeit bei Schlinkes ging bis in den Herbst und ich lernte auch noch Sirup aus Zuckerrüben und Pflaumenmus kochen. Stunden, ja tagelang wurde Feuer unter dem Waschkessel unterhalten und die Masse mit einer abgewinkelten Holzkelle gerührt, bis sie die nicht erwünschte Flüssigkeit abgedampft hatte und zu Sirup bzw. zu Pflaumenmus geworden war.
Auch meine zweite Arbeitsstelle war nicht von langer Dauer. Frau Schlinke durfte kein Pflichtjahrmädchen mehr haben. Irgend wer war neidisch. Sicher die „gute“ Freundin. Ich kam nach Zielenzig. Der Name der Familie ist mir entfallen und meine Tagebuchaufzeichnungen enthalten ihn auch nicht. Ich werde sie Familie B. nennen. Ich lernte aber nur Frau B., eine zwölfjährige Stieftochter, Anita und zwei Kleinkinder, Hiltraut, drei Jahre und Astrit zwei Jahre, kennen. Herr B. fuhr irgendwo Lokomotiven. Deshalb denke ich, die Wohnung lag in einer Eisenbahner-Siedlung. Die erste Frau von Herrn B. war verstorben. Er lernte Frau B., die aus Holstein stammte‚ durch ein Inserat kennen. Sie war Säuglingsschwester und heiratete den Witwer mit einem Kind. Jedes Jahr bekam sie selbst eins hinzu. Ende 1944 war sie mit dem 3. schwanger, das 2. machte gerade die ersten Schritte. Ich hatte vorher schon viel gelernt. Hier lernte ich auch Kochen und feinere Speisen, wie Karamellpudding, zuzubereiten. Meinen Cousin Manfred hatte ich schon als Baby versorgt und seine etwas älteren Schwestern ebenfalls. Nun durfte ich drei kleine Kinder versorgen. Es hat mir viel Spaß gemacht. Es war leider nur von kurzer Dauer.
Weihnachten 1944 war ich in Arensdorf. Ich erinnere mich an meinen Besuch bei Lucia im Schloss. Sie war inzwischen die Köchin bei den jungen v. Böttinger. Klärchen, die ehemalige Köchin und Hilde, das Zimmermädchen waren kriegsverpflichtet worden. Lucia gab mir selbstzubereitete Rote Grütze, es war ein Genuss! Wir sprachen über das nahe Kriegsende. Ich wollte ihr nicht glauben, dass die Rote Armee bald da sein würde. Im Januar war ich noch einige Tage bei Familie B. Dann erschien meine Mutter und sprach mit Frau B. Dann sagten mir beide, ich solle meinen Koffer packen. Frau B. sagte: „Du gehst mit deiner Mutter. In den nächsten Tagen müssen die Familien zusammenbleiben.“ Ich wollte nicht weg, musste dann aber doch gehen. Wir gingen am Bahnhof vorbei. Auf der Landstraße erwartete uns der polnische Gespannführer, der mich auch zur Konfirmation gefahren hatte. Er lud meinen Koffer auf. Er hatte Brot für die französischen Gefangenen geladen. Das und uns brachte er zum Vorwerk. Hier blieb mein Koffer. Dann, kurz vor dem Dorf, stiegen wir ab und gingen zu Fuß zum Vier-Stuben-Haus. Meine Mutter bedankte sich. Ich nicht, ich sagte nicht mal Auf Wiedersehen. Wenn ich etwas in meinem Leben bereue, dann ist es mein unmögliches Verhalten diesem polnischen Manne gegenüber. Er hatte meiner Mutter gesagt, dass damit zu rechnen sei, dass in den nächsten Tagen die Rote Armee einmarschieren würde und nach mir gefragt und ihr dann meine Heimkehr vorgeschlagen. Wer weiß, was aus mir in den darauffolgenden Wirren geschehen wäre. Ich hörte später, dass Frau B. mit den Kindern noch mit dem letzten Zug aus Zielenzig abgefahren sei. Sie hatte sich einen doppelten Tragegurt genäht‚ darin hatte sie ihre Kinder‚ eine auf dem Rücken und eine vorn. Die größere hatte einen kleinen Rucksack. Hoffentlich sind sie in Frau B. Heimat gut angekommen. Ich habe nie wieder von ihnen gehört. Habe mir ja auch damals nichts aufgeschrieben.
Als ich nach 50 Jahren wieder mal in Zielenzig war, habe ich vergeblich die Straße und das Haus gesucht. Meinen Koffer holte Opa abends, mit dem Handwagen, ab. Im Dorf erzählten wir, dass ich krank geschrieben sei. Wir hatten viele Flüchtlinge aus dem Baltikum im Dorf. Meine Mutter kochte für sie und ich konnte ihr dabei helfen. An einem Nachmittag verabschiedete ich mich von Lucia. Sie hatte ihre Sachen auf ihrem Rad und fuhr heim nach Osterwalde, was bei Königswalde liegt. Bis 1949 hörte ich nichts mehr von ihr. Sie war in Sibirischen Bergwerken und nun lernte sie im Urban-Krankenhaus Krankenschwester. Als wir uns wiedersahen, lernte ich in der Charité Säuglingsschwester.
Meine Tagebuchaufzeichnungen datieren vom 1. Februar 1945 und ich schrieb, dass am Vortag‚ also am 31. Januar, die ersten Russen, drei Mann zu Pferde, nach Arensdorf gekommen seien. Sie wurden von den Polen empfangen. Diese nahmen dann, die für uns zur Flucht vorbereiteten Wagen und fuhren in ihre Heimat. In Arensdorf fiel kein Schuss. Mitte Februar verließen meine Mutter und ich und viele andere Dorfbewohner Arensdorf in Richtung Landsberg. Wir bauten fünf Flugplätze für die Rote Armee.
Im Mai waren wir wieder in Arensdorf, bis wir am 24. Juni 1945 ausgewiesen wurden. Ende Juni waren wir endlich wieder in Berlin.
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Mein Berufswunsch Gutsinspektorin hatte sich gründlich zerschlagen. Meine evtl. schriftstellerischen Fähigkeiten konnte ich in Ansprachen verfassen, ich war lange Jahre eine leitende Mitarbeiterin im Gesundheitswesen, und nun in meinen „Memoiren“ anwenden.
Mein Leben nahm eine ganz andere Richtung. Die Zeit in Arensdorf hat mich sehr geprägt. So habe ich eine Vorliebe für schönes Porzellan. Im Geiste sehe ich das Kaffee-Service für 60 Personen vor mir, in verschiedenen Gelbtönen bemalt oder das für noch mehr Personen bestimmte Essservice mit rotem Rand. Leider habe ich mir die Markennamen nicht gemerkt. Und ich denke an die Silberbestecke, die mit Zigarrenasche geputzt wurden. Im bescheidenen Maße besitze ich es auch, sogar ein Esszimmer mit blau-samtenen Polstern. Die Esszimmerstühle im Schloss waren mit rotem Samt bezogen.
Vor einigen Jahren war ich oft Gast im Königswalder Schloss. Es war nun ein Hotel. Es kursierten Gerüchte, dass auch das Schloss in Arensdorf ein Hotel werden soll. Dann würde ich mal dort Gast sein.