Die Flucht, wie ich sie erlebte
Von Ingrid Klemke
Wir schreiben das Jahr 1945, Anfang Januar. Die ersten Flüchtlinge aus Ostpreußen kamen zu ihren Verwandten nach Gartow. Sie flüchteten vor den Russen und erzählten die furchtbaren Greultaten, die sie miterlebt hatten.
Bei uns in Gartow war zu der Zeit allerdings noch eine dörfliche Ruhe. Aber plötzlich wurde der Volkssturm einberufen. Nun mußten viele Frauen mit ihren Kindern und dem Hof allein zurechtkommen. Und nach wenigen Tagen schon kamen die ersten Trecks in unser Dorf. In allen Häusern wurden die Menschen einquartiert, und es waren alles Deutsche, die aus Rußland und aus Polen kamen. Bei uns war eine Familie mit Kleinkind und einer älteren Frau. Diese alte Frau sagte zu uns: „Bleiben Sie nicht zu Hause, sondern gehen Sie weg! Sie kennen den Russen nicht, aber wir kennen ihn, und darum haben wir alles im Stich gelassen und sind losgezogen.“ Am nächsten Tag verließen diese Flüchtlinge uns wieder, und andere trafen ein. So ging es bis zum 26. Januar. Wenn wir abends vor unserem Haus standen und gen Osten schauten, war der Himmel glühend rot. Das war für uns das Zeichen, daß die Front immer näher rückt. Die noch verbliebenen Männer in unserem Dorf rieten, die Wagen zu beladen und über die Oder zu fahren. Mein Vater ließ beim Schmied Köppe in Sonnenburg unseren vier Pferden die Hufe beschlagen, und wir Frauen packten 2 Wagen voll, wobei die Teppiche als Dach dienten. Es war alles fertig zum Losfahren. Plötzlich aber sagte jemand, ohne die Genehmigung des Kreisleiters Fischer dürfen wir unser Dorf nicht verlassen. So machten sich zwei von uns auf den Weg nach Drossen, aber Herr Fischer war längst nicht mehr daheim, selbst schon über alle Berge. Wir hatten noch eine Flüchtlingsfamilie aus dem Kreis Samter bei uns im Hause.
Am 29. Januar beschlossen dann unsere Männer, das Dorf zu verlassen und in Göritz über die Oder zu fahren. Familie Voß spannte die Pferde an und fuhr los und ist auch in Küstrin über die Oderbrücke gekommen. Wir dagegen legten uns noch ein Weilchen ins Bett, und um Mitternacht sollte losgefahren werden. Dann aber kamen meine Großeltern ins Zimmer und sagten, wir bleiben zu Hause, denn es wäre schon zu spät, wir würden nicht mehr über die Oder kommen, da das Eis nicht mehr hielte. Elektrischen Strom gab es nicht mehr, kein Radio; wir saßen abends bei Kerzenschein und hörten die Stalinorgeln und Kanonenschüsse durch die Nacht dröhnen.Den Franzosen, die noch im Lager waren, gaben wir eimerweise von unserer Milch.
Am 2. Februar vormittags kamen die ersten 3 Panzer aus Richtung Grunow und innerhalb kürzester Zeit kamen aus Richtung Radach unzählige Russen mit ihren Panjewagen ins Dorf. Sie plünderten unser Dorf. Die Franzosen verließen sofort das Lager, und die verbliebenen Ukrainer plünderten gemeinsam mit den Russen. Ich war mit Noacks Ursel hinter der Scheune zwischen den Kartoffelmieten versteckt. Nach einiger Zeit holte uns dann meine Oma aus dem Versteck. Die ersten Soldaten verließen uns recht bald, nachdem sie die Pferde ausgetauscht hatten. Zuletzt war kaum noch ein Tier im Stall. Dann wurde es dunkel, und die nächsten Russen kamen. Wir waren mit Noacks im Haus meiner Großeltern, im Schlafzimmer waren wir alle zusammengepfercht. Onkel Willi wurde geholt, und er mußte alle Stiefel hergeben. Tante Marta mußte unseren ganzen Vorrat an Fleisch für die Russen braten, und vor dem Haus hielten die Russen Wache. Gegen Morgen zogen auch diese ab, und wir glaubten, es wäre nun Ruhe. Was aber weiter im Dorf geschah, das haben wir erst viel später erfahren.
Am 3. Februar erschienen in den Vormittagsstunden Offiziere und erklärte uns: „Wir sollen nun das Dorf für 3 Tage verlassen, und danach könnten wir wieder zurückkommen.“ So beschlossen wir, in den Keller des Hauses meiner Großeltern zu gehen, nahmen uns Essen und Trinken mit. 13 Personen waren wir in dem kleinen Keller. Vor dem Haus waren Stalinorgeln und vor dem Kellerfenster standen Posten. Die 4 Jahre alte Hannelore Noack fing an zu weinen. Da wurden wir ängstlich, man könne uns entdecken, und so legten wir einen Mantel über das Kind. Plötzlich fing mein Opa an, sehr verwirrt zu sprechen, und wir ahnten, der Raum war zu klein, und der Sauerstoff war verbraucht. So mußten wir aus unserem Vesteck heraus, Oma und Opa zuerst. Opa sagte: „Ich bin nicht krank“, und er wollte das Vieh versorgen. Sofort wurden die beiden zur Straße hinausgejagt. Und als wir nachkamen, war von den beiden nichts mehr zu sehen. Da gingen wir zu unserem Brunnen und tranken erst einmal tüchtig. Danach trieb man uns durch die Scheune nach hinten, und da standen Geschütz an Geschütz. Dann trieb man uns weiter über das aufgeweichte Land. Wir dachten nur immer, jetzt drücken sie ab und erledigen uns.
Auf Höhnes Land lagen tote Russen und auch zahlreiche Pferde. Als wir im Wald angekommen waren, holten wir erst einmal tief Luft. Dort waren auch etliche deutsche Soldaten mit Munition. Sie fragten uns, wie sie wohl über die Oder kämen? Mein Vater erklärte es ihnen. Wir aber zogen weiter zur „Untraue“ – das ist tief im Wald. Dort hatte Janthur eine Holzbude, die oftmals zum Ausruhen für die Mittagsstunde genutzt wurde. Wir wußten davon und gingen dorthin, um eine Pause zu machen; wir waren ja auch hungrig und durstig. Als wir uns ein bißchen aufgewärmt hatten – es war mitten in der Nacht – da klopfte es plötzlich an der Tür. „Mutti, mach auf, wir sind Berliner.“ Es waren deutsche Soldaten. Wir aber standen sofort auf und verließen diese Bude, denn hätten uns die Russen mit diesen Soldaten gefunden, so hätten sie uns alle erschossen. Das war uns klar. Wir setzten uns auf einen Baumstamm im Wald und aßen Schnee; wir hatten großen Durst. Beim Morgengrauen liefen wir alle über den Berg zu Schröters, um frisches Pumpenwasser zu trinken. Mein Vater meinte, ich solle erst einmal hier an einem Baum stehen bleiben, und er wolle mit den anderen mitgehen. Doch plötzlich kommt er zurück und sagte mir: „Da liegen ja 2 Menschen, die erschossen sind.“ Mir war alles vergangen. Auch die anderen Gartower kamen wieder zurück, und wir gingen weiter zu Krafft am Radacher See. Dort stand auch Karl Grabe mit Pferd und Wagen. Plötzlich standen viele Gartower um uns herum, aber Karl Krafft sagte: „Bei mir ist alles voll. hier könnt Ihr nicht bleiben!“ Also gingen wir weiter zu Linkes. Sie nahmen uns bestens auf; wiesen uns ein Zimmer zu und gaben uns zu essen. Sie waren bisher noch von den Russen verschont geblieben. Hier bei Linkes trafen wir noch 2 Lehrer aus Sonnenburg an und Förster, die ebenfalls geflüchtet waren. In den Vormittagsstunden des 6. Februar erschienen 2 Russen, die das ganze Haus durchsuchten und beim Förster ein Gewehr fanden. Nun war die Hölle los! „Partisanen“, sagten sie und wollten uns alle erschießen. Wir zeigten ihnen alle Jäger-Zeitschriften, um zu erklären, warum der Förster das Gewehr hatte. Sie beruhigten sich tatsächlich etwas und wollten nun nur noch Uhren und Schmuck von uns: „Uhri, Uhri!“ Alle brachten ihren Schmuck, sie gaben ihr Letztes. Wir dagegen hatten ja nichts mehr, unsere Schmuckstücke hatte man uns ja schon in Gartow weggenommen. Dann verließen uns die Russen und gingen zu Krafft’s, und dort geschah ebenso Schreckliches. So ging es dann jeden Tag weiter; immer wieder kamen andere Russen. Drei Gartower Mädchen von Krafft’s wurden jeden Abend zu Langes Wirtschaft gebracht und am anderen Morgen wieder zurück gebracht. Am 8. Februar hatte mein Vater Geburtstag. Am Vormittag kamen wieder Russen, die plünderten. Wir waren gerade in der Küche; jemand dolmetschte dem Russen, daß Vater Geburtstag habe. Der Russe verschwand und kam nach kurzer Zeit wieder und überreichte Vater eine große Dauerwurst und ein Brot, welches er zuvor Linkes weggenommen hatte. Wir gaben dann beides Linkes wieder zurück, denn sie gaben uns jeden Tag Milch, Brot, Kartoffeln und vieles mehr zu essen. So ging es 5 Tage weiter. Da mußten wir mit ansehen, wie die Russen ein 12 Jahre altes Mädchen vergewaltigen wollten und der zu Hilfe eilenden Mutter immer wieder ins Gesicht geschlagen haben. Mit noch 2 Familien flüchteten wir in ein Wochenendhaus am See.
Am nächsten Tag kamen dann wieder die Russen und holten alle Gartower zusammen und führten uns nach Sonnenburg und weiter bis Limmritz. Es wurde bereits schon dunkel. In Limmritz wurden die Männer von den Frauen getrennt. Und diese Nacht werde ich in meinem ganzen Leben nie mehr vergessen, denn die Frauen haben furchtbar leiden müssen. Man gab uns weder zu essen noch zu trinken. Und am nächsten Morgen wollten wir wissen, wo unsere Männer sind? Die Männer aber wurden die ganze Nacht verhört und misshandelt. Sie mussten sich in einer Reihe aufstellen, und der Russe zählte ab. Dann konnten die Älteren gehen, aber 15 Männer aus Gartow wurden verhaftet und wurden von einem Verhör zu anderen gebracht. Die meisten erreichten nur noch Schwiebus, denn hier wurden sie zu Tode geschlagen. Nur wenige überlebten den Transport nach Russland. Wir Frauen und die älteren Männer sind dann bis Trebow gelaufen, und dort fanden wir Gartower in einem Hause Platz, denn die Menschen aus Trebow waren bereits geflüchtet. Etwas zu essen bekamen wir von den zurückgebliebenen Einwohnern. Drei Wochen durften wir in Trebow bleiben. Jeden Tag aber kamen die Russen und holten Frauen und Mädchen zur Arbeit auf die Flugplätze. Dabei nahmen sie keine Rücksicht auf die Frauen mit den kleinen Kindern. Wir bewohnten ein Zimmer zusammen mit 42 Personen, lagen auf Stroh, denn Betten hatte niemand mehr. Eines Tages erkrankte Elli, sie hustete fürchterlich. Da holten die Eltern einen Russen, der angeblich Arzt war. Dieser untersuchte sie und erklärte den Eltern, dass keine Hilfe mehr sei, und sie verstarb in derselben Nacht. Am nächsten Morgen sollten wir sofort Trebow verlassen, aber wir mussten doch zuerst Elli Wolf beerdigen Die Männer suchten Bretter zusammen und bauten eine Kiste. Neben der Kirche in Trebow fand sie ihre letzte Ruhe. Die Lehrersfrau sprach ein Gebet. Nun trieben uns die Russen sofort aus Trebow in Richtung Langefeld, wo wir nun Unterkunft suchten. Hier aber waren bereits Flüchtlinge aus Stenzig und Grunow, die nach dem Osten getrieben worden sind. Wir Gartower fanden auf dem Hausboden Platz. Aber schon am nächsten Morgen
wurde das Dorf geräumt, und wir mussten weiter in Richtung Randen. Plötzlich kamen Russen angeritten und nahmen uns fest, suchten sich einige Männer aus, darunter auch meinen Vater, und zogen mit denen los. Wir Frauen mit den kleinen Kindern standen nun verlassen im Wald und wußten erst einmal nicht wohin, denn keiner kannte sich hier aus. Da entschlossen wir uns, zurück nach Langefeld zu gehen. Es wurde schon dunkel, als wir dort ankamen, und es bot sich uns hier ein Bild des Grauens! Der ganze Ort war voller Russen, alle Deutschen waren inzwischen geflohen. Wir sind dann wieder auf diesem Hausboden gelandet. Und die ganze Nacht über holten sich die Russen Frauen und Mädchen. Es war einfach furchtbar! Im Morgengrauen aber zogen wir weiter. Einige Familien liefen nach Zielenzig, andere liefen nach Gleißen. Wir wurden in ein Schloß getrieben, in dem es furchtbar kalt war, und schlafen konnten wir auch nicht. Hier mussten wir am nächsten Tag wieder raus und fanden im Ort bei der Familie Laube eine Bleibe. Mit 12 Personen lagen wir in einem Raum. Auf dem einen Sofa im Raum lag der Opa Strehl, der in den Beinen Wasser hatte und auch noch viele Läuse. Wir lagen auf dem Fußboden auf Stroh, zum Zudecken hatte ich ein Schaffell und einen Wintermantel. Die Kleidung behielten wir natürlich Tag und Nacht an. Ich fror so und bekam in der ersten Nacht Schüttelfrost mit hohem Fieber.
Ich fantasierte in der Nacht und kroch im Zimmer herum. Am nächsten Morgen konnte ich kaum sprechen und hören. Frau Müller, sie lag mit Elli neben mir, holte eine Krankenschwester aus dem Ort. Diese sagte zu mir: „Mädel, du hast Scharlach und auch eine deftige Drüsenvereiterung. Aber, ich habe keine Medikamente, nur ein paar alte Hausmittel.“ Frau Müller ging dann ins Dorf betteln nach etwas Schweineschmalz, um die Drüse damit einschmieren zu können. Nach einigen Tagen heilte alles ab, und ich konnte auch wieder sprechen. Der ganze Körper schälte sich, und ganze Fußsohlen hatte ich in den Strümpfen. Müllers Elli, die neben mir lag, bekam auch Scharlach, und ebenso auch Priefers Margot. Margot war aber jünger als wir und war in der Schule geimpft worden, so daß die Krankheit bei ihr nicht so schlimm war. Die alte Frau Steinbock bekam eine schlimme Kopfrose. Auch sie wurde wieder gesund.
Die Russen belästigten uns jeden Tag, es war einfach furchtbar! Einige Leute meinten, wir müßten ins Krankenhaus; wir würden nämlich die anderen anstecken. So wurde ein großes Schild an der Außentür befestigt, auf dem Stand: „Infektionskrankheit“. Davor hatten die Russen große Angst, und so hatten wir Ruhe. Wurden nun andere Frauen von den Russen belästigt, so kamen sie in unser Zimmer und suchten Schutz.
Endlich kam auch mein lieber Papa, der mich suchte. Ihn hatten die Russen von einem Ort zum anderen verschleppt und verhört. Später hatte man die Männer einfach laufen lassen. Die Freude war groß, als mein Vater zur Tür hereinkam! Aber schon in der Nacht wurde auch er krank. Er konnte kaum schlucken, solche Schmerzen hatte er. Mit heißen Tüchern wurde ein Umschlag nach dem anderen gemacht. Er bekam fast keine Luft mehr. Eines Tages bekam er dann mächtigen Husten, dabei muß dieser Abzeß am Hals aufgeplatzt sein. Danach ging es ihm wieder besser. Als er sich dann wieder gut fühlte, ging er ins Dorf und bettelte für mich. Er brachte Ziegenmilch und Quark. Früher trank ich keine Ziegenmilch, aber jetzt freute ich mich riesig darüber. Ich wußte, nun geht es auch mit mir bergauf. Ich wußte, mein lieber Papa ist ja wieder bei mir, und er wird dafür sorgen, damit wir zu essen haben. Eine Frau von uns hatte Verbindung zu den Russen und brachte für die kleine Margot Essen. Elli und ich haben sehnsüchtig hingeschaut und waren neidisch. Diese Frau hatte mich ja in Trebow an die Russen verraten. Und die Russen hatten mich als einzige aus meinem Versteck herausgeholt, und ich sollte nun mit anderen Frauen auf einem Auto zum Flugplatz zur Arbeit. Mein Papa aber ließ das nicht zu und ging mit mir zum Kommandanten. Dort sprach er mit einem Dolmetscher, und wir konnten wieder zurück in unser Quartier gehen.
Der 1. Mai rückte immer näher. Die Männer hatten sich für diesen Tag vorgenommen, zurück nach Gartow zu gehen. Elli und ich waren aber bis zu diesem Tag noch nicht aufgestanden. Ellis Mutter hatte schon einen ganz alten Kinderwagen gesucht, und da sollte Elli hinein, wenn sie nicht mehr laufen konnte. Am 1. Mai brechen wir also auf. So sind wir von Gleißen bis Meckow gelaufen. Auch Elli und ich sind gut gelaufen. In Meckow warten Müllers Melitta mit Mutti und Frau Müller mit ihren beiden Kindern vom Waldfrieden (Gaststätte am Radacher See). Gemeinsam ging es dann über Sonnenburg nach Gartow. Als wir am Zuchthaus vorbeikamen, waren an der Straße lange Mieten. Mein Vater sagte: „O, die haben aber noch viel Futter.“ Er nahm an, es waren Kartoffeln oder Rüben drin. Später erfuhren wir, daß es die Häftlinge waren, die von der SS erschossen worden waren, bevor die Russen kamen. 830 Häftling sollen es gewesen sein. Und ich glaube, die Russen hatten sie dort verscharrt. Als wir dann auf der Straße nach Gartow waren, hatten wir alle ein komisches Gefühl. Es ging über den großen Lehmberg, bei Noacks vorbei, und schon hatten wir unser Gartow erreicht. Von allen Seiten wurden wir von den Russen umzingelt. Wir hatten plötzlich große Angst; was wird aus uns werden? Wir wollten doch in unsere Häuser, denn der Krieg war doch vorbei. Nach langem Diskutieren führten uns die Russen zum Ende des Dorfes. In Opitz und Wolfs Haus mußten wir einige Tage bleiben. Und die Nächte waren furchtbare! Die Russen holten sich wieder unsere Frauen. Ich hörte Frau Grützke schreien und sah, wie der Russen sie an den Armen aus dem Haus zog. Nach einigen Stunden kam sie völlig erschöpft wieder. Als es Tag war, gingen unsere Männer nachsehen, ob die Russen weg waren, denn alle wollten doch in ihre Häuser. Nach 2 bis 3 Tagen waren die Russen aus Gartow fort. Inzwischen kamen auch die anderen Gartower an. Am 3. Tag kamen dann auch meine Oma und mein Opa. Das war ein Wiedersehen!! Unglaublich! Wir waren doch von den Russen am 5. Februar auseinandergerissen worden. Und in dieser ganzen Zeit bis zum 5. Mai hatten wir nichts mehr voneinander gehört. Sie waren beide im Warthebruch, in der Nähe von Landsberg. Als dann alles vorbei war, sind Oma und Opa wieder nach Radach zurückgelaufen. Am nächsten Tag sagte Oma: „Laß uns beide nach Gartow gehen und sehen, ob wir unsere Lieben wiederfinden.“ Die Freude über das Wiedersehen war unbeschreiblich.
Am nächsten Tag sind dann die Russen aus Gartow abgezogen, und wir durften in unsere Häuser zurück. Nun machte jeder sein Zuhause sauber. Die Russen hatten ja darin furchtbar gehaust. Unsere Möbel waren zum großen Teil noch im Haus. Im Wald hatten die Russen Bunker gebaut, und wer nichts hatte, hat sich von dort etwas geholt. Die Gartower hatten sich nun erst einmal wohlgefühlt. Nach einigen Tagen bekamen wir einen polnischen Bürgermeister (Schimanski). Er bezog das Haus meiner Oma. Seine Familie war sehr freundlich zu uns allen. Tante Marta mußte für die Familie kochen, und da blieb für uns auch noch etwas übrig. Gartow bekam 5 Pferde zugeteilt, und damit mußten unsere Männer die Felder bestellen. Wir Frauen mußten die verscharrten Soldaten, die auf den Feldern lagen, ordentlich begraben.
Am 23. Juni erschien der Bürgermeister auf unserem Hof und sagte zu meinem Vater: „Gartow muß geräumt werden. Nehmen sie alles mit, was sie haben. Es werden die Pferde angespannt, das Gepäck, kranke Menschen und Kinder kommen auf 2 Wagen. Ich, als Bürgermeister und mein Stellvertreter werden sie bis über die Oder begleiten, damit kein Fremder ihnen etwas wegnimmt.”
Wir wurden bis Manschnow gebracht, und die beiden fuhren wieder nach Gartow zurück. Wir Gartower hatten dann dort in einem Park draußen geschlafen. Aber am nächsten Tag mußte jeder sehen, wie er weiter kam. Alle entschlossen sich, nach Berlin zu gehen.