Das Hospital in Zielenzig von Februar bis September 1945 – Teil 2
Von Dora Quast, geb. Praetsch
Dann kam der Tag der Vertreibung ! Es war Ende Juni. Wenige Stunden nach der Bekanntgabe mussten die Bewohner des Kreises Oststernberg ihre Heimat verlassen. Die wichtigsten Beförderungsmittel waren Handwagen und Kinderwagen. Vollgepackt mit Betten, Kindern und alten Menschen wurden diese Fahrzeuge von Frauen, größeren Kindern und alten Männern gezogen. In großer Hitze, eingehüllt in Staubwolken, quälte sich ein endloser Elendszug, angetrieben und bewacht von bewaffneten Soldaten, stundenlang die Breesener Chaussee hinauf. Auch aus unserem Hospital waren viele mitgezogen. Natürlich blieben Ärzte, Schwestern und die Apothekerin. Für die Arbeit in der Küche fanden sich einige alte Menschen bereit, auch meine Eltern (Hedwig Praetsch, geb. Peschke, Max Praetsch) arbeiteten dort. Wir blieben, denn die Kranken mussten versorgt werden. Uns wurde aber bewusst, dass wir eines Tages gehen müssen. Wir zogen alle in die Nähe des Hospitals, um möglichst dicht beisammen zu sein. Außer uns waren noch die Polen anwesend, die im Krieg bei den Deutschen hatten arbeiten müssen. Auch kranke Menschen, die nicht im Hospital waren, blieben. Der Kreis Oststernberg war leer.
Die zurückgelassenen Hunde und Katzen suchten Menschennähe. Sie kamen zu uns. Seit einiger Zeit gab es keine Waschmittel mehr. Die Hospitalwäsche wurde nun mit Soda gekocht und dann lange Zeit draußen getrocknet. Auch wurde sie gebügelt. Aber die Nissen und Läuse überlebten. Die Patienten, die gesund geworden waren, zerbrachen sich den Kopf, wie sie wegkommen könnten. Manche von ihnen lagen schon seit Februar bei uns. Nach dieser Zeit im Hospital wollten sie nicht mehr in Gefangenschaft geraten. Kleidung fehlte ihnen. Wir suchten alles zusammen, was sie brauchten. Nachdem sie von Dr. Eske ein Attest bekommen hatten, verließen sie uns.
Eine neue Plage kam auf uns zu – Diphtherie –! Zuerst erkrankte unsere Apothekerin.
Sie bemerkte es gleich und unternahm alles dagegen. Sie kam durch. Schwester Helga Zimmermann war nur einen Tag krank. Am nächsten Morgen war sie tot. Die Diphtherie hatte ihr Herz gelähmt. Ihr Tod hat uns sehr mitgenommen. Auch die Polen nahmen Anteil und bauten einen Sarg. Ihre Ruhestätte fand sie auf dem Friedhof nahe dem Grab des Fliegers Erich Albrecht. Helga war erst 25 Jahre alt.
Während des Hochsommers wurde Zielenzig von einem schweren Sturm heimgesucht. Die hohen Tannen am Hospital wurden zum Teil geknickt. Ruinen und stehen gebliebene Schornsteine brachen zusammen.
Der russische Kommandant zog nun ab. Der Kommandant stellte Dr. Eske anheim, das Hospital zu verlassen. Da nahm Dr. Eske nach einigem Zögern das Angebot an. Ein russisches Fahrzeug wurde ihm zur Verfügung gestellt, das ihn bis Frankfurt/Oder bringen sollte. Er hätte einiges mitnehmen können, z.B. ein Bett. Er ergriff nur seine Arzttasche. Mit ihm fuhren auch die Lungenfachärztin und Schwester Anna. Wir kamen uns recht verlassen vor. Oberschwester Margot hatte nun ohne Arzt die Verantwortung für die Kranken. Jetzt wurden die Nahrungsmittel ganz knapp. Es gab auch kein Salz mehr. Aber in den Gärten ernteten wir Beeren und frühes Gemüse. Die alten Kartoffeln waren inzwischen ungenießbar. Die neue Ernte wurde sehnsüchtig erwartet.
Eines Tages bekam Schwester Margot von den Russen zwei Ziegen geschenkt. Sie hat lange überlegt, was sie damit machen sollte und stiftete sie dann dem Hospital. Wir waren alle sehr dankbar, endlich einmal etwas Fleisch zu bekommen. Aber für so viele hungrige Menschen war es nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Zielenzig bekam nun neue Einwohner. Die Polen, die ihre Heimat am Bug verlassen mussten, wurden im Kreisgebiet angesiedelt. Sie kamen mit wenig Gepäck und sehr erschöpft. Viele waren krank. Sie hatten z.B. Typhus und mussten in Quarantäne. Einige litten an wolhynischem Fieber (5 Tage Fieber). Um uns vor Typhus zu schützen, tranken wir ab und zu einen Schluck Wodka. Ein junger deutscher Arzt übernahm jetzt die ärztliche Versorgung im Hospital. Er hieß Helmut mit Vornamen und kam wohl aus dem Gefangenenlager vom Pionierstab (am Bahnhof). Kurz danach trafen täglich viele deutsche Gefangene aus dem Lager zur Untersuchung ein. Sie bekamen alle von ihm ein Attest, dass sie arbeitsunfähig seien. Somit half er vielen Menschen nach Hause zu kommen.
Wieder gab es eine Veränderung. Ein älterer polnischer Arzt trat nun seinen Dienst an. Neben ihm war auch Helmut weiter als Arzt tätig. Der polnische Arzt stammte auch aus dem Buggebiet oder aus Wilna. Außerdem trafen zwei polnische Krankenschwestern ein. Die Sprachschwierigkeiten konnten wir überwinden. So kamen wir gut miteinander aus. Besonders herzlich war Schwester Maria.
Eines Tages im September war es dann soweit! Unserem Aufbruch stand nichts mehr im Wege. Soweit ich mich erinnere, waren wir 40 Personen. Zuvor hatten die älteren Männer, die im Hospital seit Juli arbeiteten, für uns Handwagen gebaut. Dabei waren sie sehr erfinderisch. Paidi-Kinderbetten, Bretter und Räder in allen Größen wurden dafür verwandt. Die Hauptsache das Gefährt rollte. Unsere Habe bestand aus ein paar Betten und etwas Wäsche. Die Kinder, die im Frühjahr durch die schweren Verletzungen Arme und Beine verloren hatten, nahmen wir mit. Auf dem Bahnhof standen auch Erika Kupke mit ihrem Sohn, sie musste ihre Mutter zurücklassen, die eingesperrt war. Und dann lag auf einer Bahre Herr Rechtsanwalt Graßmann gelähmt, und betreut von seiner treu sorgenden Frau.
Sie kamen alle mit. Auf dem Weg zum Bahnhof nahm mein 72-jähriger Vater Abschied vor den Trümmern seines Hauses. Trotz allem waren ihm seine Frau, sein Sohn, seine Töchter und Enkel geblieben. Schwester Maria war auch zum Bahnhof gekommen, sie hatte es sich nicht nehmen lassen, uns Lebewohl zu sagen. Unsere Handwagen ließen wir zurück. Der Zug fuhr nur bis Reppen. Nach langem Hin und Her durften wir in einen Waggon eines Güterzuges einsteigen. Die Waggons waren voll von entlassenen deutschen Soldaten, die aus Leningrad kamen. Eine Nacht verbrachten wir in dem geschlossenen Waggon. Morgens fuhr der Zug weiter nach Frankfurt/Oder. Mit Erleichterung stiegen wir in Frankfurt aus. Einige Zielenziger blieben dort. Am nächsten Tag durften wir in einen Zug einsteigen, der nach Berlin ging. Berlin war von Flüchtlingen überfüllt. Aber wir kamen in einer Turnhalle unter. Die elternlosen Kinder wurden dem Roten Kreuz übergeben. Nach der langen Zeit der Zusammenarbeit im Hospital waren wir ja alle miteinander verbunden. Nun trennten wir uns, und jeder ging seinen eigenen Weg einer ungewissen Zukunft entgegen.
Ich habe versucht, mich in diese schwere Zeit zurückzuversetzen. Viele Namen sind mir entfallen, und ich kann mich nicht mehr an die vielen Einzelheiten erinnern. Mein verstorbener Bruder, Fritz Praetsch, bat mich öfters um einen ausführlichen Bericht. Damals war es mir zeitlich nicht möglich, ihn zu schreiben.
Fast 40 Jahre sind seitdem vergangen. Dr. Eske, Dr. König, meine Schwester Fridel Schmaus und viele Krankenschwestern sind inzwischen verstorben. Aber es wird auch noch einige Zeugen aus dieser Zeit geben. Ihnen gilt mein Gruß
Dora Quast, im November 1984