Auf den Spuren der Vergangenheit Neudorf — gestern und heute
Wie im Oststernberger Heimatbrief Nr. 3/2008 zu lesen war, fand anlässlich des 470sten Bestehens von Neudorf eine Deutsch-Polnische Begegnung statt, die von Manfred Tillack vorbereitet wurde.
An diesem Treffen nahmen auch wir, die 4 Enkel des letzten Amtsvorstehers von Neudorf und Rauden, Forstamtmann Walter Stelke, teil.
Karl Friedrich, Eberhard, Jürgen und Rosmarie Groger, (v.l.n.r.) trafen sich erstmalig gemeinsam in Neudorf und besuchten u.a. auch die Ruine des alten Forsthauses der Stiftsforst Neudorf Rauden.
Das Leben unserer Vorfahren in dieser Idylle und Erinnerungen an unsere Kindheit in Neudorf beschäftigten uns sehr intensiv.
Dabei entstand die Idee, den Bericht aus den letzten Kriegstagen und der unmittelbaren Nachkriegszeit im Heimatblatt zu veröffentlichen.
Unsere Kontaktadresse:
Karl Friedrich Groger
Ulmenstrasse 96
24306 Plön
Bericht unseres Großvaters Walter Stelke aus dem Jahre 1952
geb. 10.12.1883 – gest. 31.03.1962
von den letzten Kriegstagen in Neudorf
Am 23. oder 24.01.1945 bevölkerten die ersten Trecks die Posen-Küstrin-Berliner Chaussee, von der wie bekannt, das Forstamt Neudorf nur rund 800 m entfernt liegt. Erklärlicherweise hatten wir nun in jeder Nacht Einquartierung, einmal rund 50 dieser Bedauernswerten. Meine Frau (Ali) hat es trotzdem fertiggebracht, sie alle, wenn auch nur mit einem gut eßbarem Eintopfgericht, zu verpflegen. Alle erkannten unsere Gastfreundschaft dankbar an. Noch ahnten wir nicht, das uns nur wenige Tage von dem gleichen Schicksal der Ärmsten trennten.
Am 29.01., nachmittags nistete sich dann eine Abteilung einer Kampfdivision im Forstamt ein (Munitionsnachschub und Sanitätskolonne). Der General mit seinem Stab lag in der Försterei Wilhelmstal. Die Lage sah also schon recht bedenklich aus. Trotzdem wollte meine Familie sich noch nicht westwärts absetzen. Am 30.01.1945 abends riet dann ein, meiner ältesten Tochter (Annelore, die mit ihren 4 Kindern ebenfalls im Hause war) bekannter Stabsarzt, sich nun doch schleunigst in Sicherheit zu bringen. Daraufhin wurden am 31.1. morgens 2 Kastenwagen reisefertig gemacht und mit den notwendigsten (auch manchmal überflüssigen) Sachen von 5 Familien beladen. Weiter saßen darauf 9 Frauen und 13 Kinder. Die 4 restlichen Begleiter mußten den Fußmarsch antreten. Der Treck setzte sich dann um 10.15 Uhr in Marsch, gerade als ein russischer Jäger 2 unserer Aufklärungsflieger, 200 Meter vom Gutshof entfernt, beschoss, aber nicht traf. Ich persönlich blieb zurück, um meine Stellung so lange wie möglich zu halten. Am 31. Januar nachmittags erzählte dann ein Arzt des Stabes, der in Rauden gewesen war, daß russische Falmschirmspringer zwischen Rauden und Meeckow gelandet wären. Gegen Abend fuhr ich dann mit dem Rade (mit Warnung der Offiziere zu größter Vorsicht) nach Teerlauch um mich von Theuerkaufs zu verabschieden. Letztere wollten am 1.2., sobald Räumungsbefehl für Neudorf ergangen war, mit einem Fuhrwerksbesitzer abfahren. Laufen konnte Frau Theuerkauf nicht, da sie schwer blutkrank war. Ich will hier gleich von Theuerkaufs weiter berichten. Da der Räumungsbefehl nicht einging, wurden die gesamten Bewohner von Neudorf von dem Einmarsch der Russen überrascht. Teerlauch wurde etwa 2 Tage von keinem Russen betreten.
Als dann, etwa am 3.2. zwei Russen vom Dorf aus in Richtung Teerlauch liefen, beobachtete sie Theuerkauf vom Garten aus mit dem Fernglas. Nachdem wohl kein Zweifel mehr bestand das die 2 Russen zur Försterei wollten, verschwand Theuerkauf im Hause. Die am nächsten von Teerlauch wohnende Bevölkerung, die den Vorgang beobachtet hatte, hörte dann 2 Schüsse in der Försterei fallen und kurz darauf schlugen Flammen aus den Fenstern. Das Wohnhaus ist dann vollkommen ausgebrannt und ein Teil des Nordgiebels nach innen gefallen. So ist die Försterei gleichzeitig Grabstätte der Eheleute Theuerkauf geworden.
Die Nacht vom 31.1. zum 1.2. verlief ruhig. Seit 6 Uhr morgens, (am 1.2.) war dann die Verbindung mit dem Kampftruppen-General unterbrochen und war nicht mehr herzustellen. Da die Herren vom Stab in reichlich gedrückter Stimmung waren, fragte ich schließlich nach der Lage. Da erfuhr ich dann, daß russische Panzerspitzen in Waldowstrenk ständen, und, wenn ich mich noch absetzen wollte, es höchste Zeit wäre. Mit Hilfe der Landser brachte ich dann schließlich meinen, seit über einem Monat im Ruhestand lebenden Hansa fahrbereit und fuhr um 11 Uhr in Richtung Kriescht-Küstrin, ab. Zwischen Kriescht und Gross-Friedrich hielten mich entgegenkommende Landser an und fragten, wo ich hin wollte. Auf meine Antwort, Küstrin-Berlin, zeigten sie auf die Höhen von Limritz und sagten, dort oben sitzt bereits der Russe. Letztere waren über die Warthe, deren Eis noch trug, gekommen und hatten einen Kessel gebildet. Also zurück nach Kriescht. Hier fuhr ich zum ehemaligen Kompanie-Kameraden, Bauer Loppe.
In der Dämmerung des 1.2. schoß der Russe, der inzwischen bis St. Johannis nachgerückt war, 4 Granaten über Kriescht hinweg. Die Nacht zum 2.2. verbrachten wir mit etwa 20 Menschen im Keller und verlief ruhig. In der Morgendämmerung des 2.2. war dann Kamerad „Russki“ zu Stelle und alle Männer mußten auf dem Hof erscheinen. Ein Offizier und seine Begleiter borgten sich dann die Uhren von uns und ebenso meine „Maschin“ (Auto), worauf wir wieder entlassen waren. Tagsüber zogen dann unübersehbare russische Truppen in Richtung Küstrin. Ab und zu kam mal ein deutscher Jäger und beschoß das Strassenpflaster, denn in solchen Augenblicken war natürlich kein Russe zu sehen. Abends saßen wir dann wieder bei Loppe im Keller. Um 9 Uhr wurde Familie Loppe (Herr, Frau und Tochter) abgeholt, angeblich zur Stallwache. Später hat man die beiden Eltern tot aufgefunden. Von der Tochter hat man nichts mehr gehört. Ich persönlich blieb unter Bewachung eines Offiziers im Keller. Obwohl ich in Zivil war, wußte er, daß ich Forstmann bin. Von 22 Uhr ab, nachdem auch das ganze Haus durchsucht war, mußte ich dann mit noch 3 anderen Russen „Schnaaps“ saufen, so wie er aus der Brennerei geholt war, etwa 58-90prozentig. Da ich so ein Zeug bisher nicht getrunken hatte, glaubte ich zuerst sie wollten mich vergiften und zog ein dementsprechendes Gesicht, worauf sich die Kerle bald totlachen wollten. Schließlich wurde mir gestattet, das Zeug mit Wasser zu verdünnen.
Am 3.2., sehr zeitig, verdrückte ich mich dann in Richtung Stuttgardt. Die Chaussee nach Neudorf war gesperrt. In Stuttgardt hielt ich mich bis zum 9.2. bei einem Holzhauer der Staatsforst auf. Dann wanderte ich zurück nach Dammbusch, wo ich Unterkunft bei dem bäuerlichen Jagdpächter fand. Da Kriescht geräumt wurde, füllte sich Dammbusch sehr schnell mit Flüchtlingen. Am 17.2. wurden dann alle Parteigenossen (Pg) aus Költschen und Dammbusch verhaftet und abtransportiert. Nur 2 davon sind zurückgekehrt. Obwohl bekannt war, daß ich in dem Ort war, hat mich die Bevölkerung nicht verraten, und so hatte ich Glück und blieb unbelästigt. Natürlich lebte man immer in Sorge, wann bist du dran, denn im Nachbarort Maryland saß die GPU (Sowjetischer Geheimdienst) und fuhr in jeder Woche ein bis zweimal die Dörfer ab und griff Männer auf. Von den Vernehmungen durch die GPU wird wohl jedermann unterrichtet sein. Ich jedenfalls hatte keinen Hang mit den Herren in engere Berührung zu kommen. Zu dieser Sorge kam die um meine Familie, von der ich nichts mehr gehört hatte. Nach Erzählungen waren alle Trecks ab 30.1.45 nicht mehr über die Oder gekommen, bzw. durch russische Panzer zusammengeschossen.
Bis Ende März ging nun alles gut. Da wurde mir hinterbracht, daß der deutsch-polnische Amtsvorsteher in Költschen, dem Dammbusch auch unterstand, spitz bekommen hätte, daß ich als Pg noch vorhanden wäre. Auch eine Äußerung, daß ich auch noch weg müßte, wurde mir hinterbracht. Um die Lage zu peilen, ging ich zu ihm und fragte nach Arbeit. Ich wurde sehr unfreundlich empfangen, wie ich erwartet hatte. Da ich ihm sagte, daß ich schwere Arbeit nicht mehr verrichten könne, schickte er mich zur Untersuchung zum Arzt. Beim Weggang trug ich ihm einen Gruß an seine Frau auf, die eine fleißige Kulturarbeiterin bei uns gewesen war und auch bei mir im Sommer immer im Garten gearbeitet hatte. Danke sagte er nicht für den aufgetragenen Gruß. Als ich vom Arzt zurückkehrte, traf ich unterwegs eine Sekretärin des Amtsvorstehers, welche mir erzählte, daß ihr Chef, als ich die Tür des Amtszimmers geschlossen hatte, nochmals die Äußerung getan hätte „der muß auch noch weg“. Trotzdem wagte ich mich in die Höhle des Löwen, um bei ungünstiger Lage möglichst die Gegend zu verlassen. Zu meinem größten Erstaunen war er die Freundlichkeit selber, setzte mich als Schreibkraft des Bürgermeisters in Dammbusch ein, gab mir 2 Brotmarken (die ersten die ich bekam) und lud mich ein, ins Nebenzimmer zu gehen. Hier war der Kaffeetisch für mich gedeckt, und ich wurde von der Frau freundlich bewirtet. Dann überreichte er mir noch 1 kg Kunsthonig und ich wurde mit dem Hinweis entlassen, mir Brot abzuholen, wenn ich es brauchte. An einen solchen Erfolg meines Besuches hatte ich natürlich nicht gedacht, aber mir war wohler. So war ich nun wohlbestallter, unbesoldeter Gemeindeschreiber. Inzwischen hatte ich mir einen grausigen, schlohweißen Vollbart wachsen lassen, ein tolles Monstrum, stellenweise nur 0,5 Bestockungsgrad. Der beabsichtigte Erfolg war aber erreicht. Die Russen hatten kein besonders Interesse mehr an einem solchen alten Individuum.
Mitte April bekam ich dann vom Amtsvorsteher ein Schreiben, in dem er mir mitteilte, daß ein poln. Forstmann die Stiftsforst übernehmen würde und ich sie ihm übergeben und ihn unterstützen sollte. Beim ersten Besuch dieses meines Nachfolgers war ich nicht anwesend und er meldete sich für den nächsten Tag an. Bei dieser Besprechung eröffnete er mir, daß er den gestrigen Nachmittag dazu benutzt hätte, Erkundigungen über mich einzuziehen und er nichts Nachteiliges, sondern nur das Beste über meine Person in Erfahrung gebracht hätte. Er schlüge mir deshalb vor, die Stiftsforst wieder selbst zu übernehmen und in polnische Dienste zu treten. Da man zu dieser Zeit allgemein annahm, daß ja in Kürze alles wieder in die alten Bahnen gelenkt würde, sagte ich zu. Aus den, in den polnischen Kreisen schon beabsichtigten Gründen, wurde dann aus der Anstellung nichts. Man selbst bekam damals natürlich nichts zu hören. Ich blieb also treu und brav Gemeindeschreiber und lebte von der Gutmütigkeit der Einwohner von Dammbusch, die selbst kaum etwas zu essen hatten.
Nach der Einnahme von Küstrin im April wurde es in den Ortschaften ruhiger, da die Russen jetzt auf Berlin abzogen. Nun konnte man es auch mal riskieren die nähere Umgebung zu besuchen. Mein erster Gang war nach Neudorf. Das Forstamt steht, sah aber zum Teil innen verheerend schmutzig aus. Bis auf ein paar große Möbelstücke war alles restlos ausgeräumt. Dicht am Wohnhaus waren breite Gräben gezogen, in denen sämtliche Akten des Forstamtes, sowie die über 1000 Bücher umfassende Bibliothek unseres Schwiegersohnes Karl-Heinz Groger lagen. Im Weingelass im Keller hatte ich vor der Flucht das Vorratswerk des Forstamtes mit sämtlichen Unterlagen untergebracht, da der Raum ziemlich feuersicher ist. Bis auf die Spezialkarten fand ich auch noch alles wieder vor. Ich habe die Sachen dann mit in mein letztes Quartier in Dammbusch genommen, da ich ja immer noch annahm, dass ich die Stiftsforst übernehmen sollte. Wahrscheinlich lagern die Akten noch heute dort. Abgebrannt auf dem Gut nur die größte Scheune, im Dorf selbst 2 Häuser. An Toten hat Neudorf 11 zu beklagen, darunter 9, die sich selbst entleibten.
Die Stiftsforst selbst hat unter Waldbränden ziemlich stark gelitten, wenigstens soweit ich es im Bezirk Teerlauch/Rauden gesehen habe.
Nach dem Waffenstillstand wäre ich ja nun am liebsten gleich nach Markee (wohin meine Familie flüchten wollte) abgereist, um endlich Gewißheit zu haben. Man ließ mich in Dammbusch aber nicht los, da ich Ende des Monats erst die Schlußabrechnung für Mai machen sollte. Etwa am 22. Mai 45 war dann ein Pole vom Gut Rauden, der aber auch vor den Russen mit nach Markee geflüchtet war, auf dem Rückmarsch nach Neudorf herangefahren und ließ mir Grüße von meiner Familie bestellen, auch das sie alle gesund wären usw. Von mir wußten meine Angehörigen, wie er sich geäußert hatte, allerdings gar nichts. Der Pole hatte mir diese Bestellung aus eigenem Anlaß gemacht, anständig.
Am 1.6. setzte ich mich dann in Marsch und kam am 4.6. nach hauptsächlichem Fußmarsch in Markee an. Meine Frau hat mich im ersten Augenblick nicht erkannt. Anzug: blauer Schlosserrock und die dazugehörige Hose, auf dem Rücken einen Kartoffelsack mit meinem Hab und Gut: ein altes Hemd, einen grünen Selbstbinder und zwei grüne Kragen.
Körperlich hatte ich mich auch etwas verändert, statt der 192 Pfund wog ich noch gut 130, außerdem der weiße Vollbart. Hinzu kam der vollständige seelische Zusammenbruch. Die große Freude des Wiedersehens bekam leider dadurch einen ordentlichen Dämpfer als ich hörte, daß unsere jüngste Tochter sich noch nicht gemeldet hätte. Sie war während des Krieges bei der Wehrmacht, und man hatte sie Ende März noch nach der Tschechoslowakei in Marsch gesetzt. Von da ab fehlte jede Nachricht von ihr. Anwesend in Markee war auch unser Schwiegersohn. Als Kriegsversehrter verlebte er während des Zusammenbruchs gerade einen Genesungsurlaub in Markee.
Da das Gut sofort als Mustergut unter russische Bewirtschaftung gestellt wurde, bekam es auch einen Kommandanten. Letzterer bekam gleich in den ersten Tagen ein schlimmes Auge und Groger mußte ihn behandeln. Die Behandlung hatte guten Erfolg und infolgedessen gab es manchen Vorteil für die ganze Familie. Leider wurde dieser Mann bald durch einen anderen ersetzt.
Am 15.11.45 bekamen wir zu unserer größten Freude das erste Lebenszeichen von unserer jüngsten Tochter, und zwar saß sie in der Nähe von Hannover. Sie hat uns dann im Mai 1946 glücklich die Einreisegenehmigung und was dazu gehört in die britische Zone verschafft. Hier fanden wir zuerst in dem Dorf Mehle bei Elze, Kreis Alfeld, Unterkunft. 9 Personen, einschließlich der alten Frau Helene Groger, auf sehr engem Raum.