Alte Unterlagen aus Familienbesitz über Kemnath und Sternberg
für das Brandenburgische Landeshauptarchiv in Potsdam
Mitten in der Kalten Kriegszeit schickte mir mein Großonkel Ernst Michel aus Zeulenroda/Thüringen (DDR) alte Familiendokumente nach Freiburg/Breisgau (BRD), wo meine Eltern damals mit uns Kindern lebten. Er wollte diese Unterlagen aus dem 17.-19. Jahrhundert, über die ich im Alter von 16 Jahren erschrak, da ich sie nicht entziffern konnte, in jüngere Hände legen. Erst viele Jahre später konnte ich sie mit Hilfe meiner Mutter Charlotte Schachinger geb. Michel und meiner Tante Lieselotte Berndt geb. Rittwagen lesen.
Mit Bezug auf Kemnath handelt es sich um die Regelung von Besitzverhältnissen zwischen Adligen aus der Familie von Winning und Bauern, die zum Teil auch als Zeugen auftreten. Es sind sehr zerrissene Papiere, die Namen und Jahreszahlen aber noch lesbar, die Schilderung der Flurverhältnisse fremd und unklar. (Diese wurden im 18. und 19. Jahrhundert neu geregelt.) Gut lesbar dagegen ist die Entscheidung der Neumärkischen Regierung aus der Festung Küstrin vom
1. Juli 1728, daß sich Kemnath – im Gegensatz zu Wallwitz und Grabow – nicht am Unterhalt der Kirche in Sternberg zu beteiligen braucht, wie es dem herkömmlichen Recht entsprach. Die Kemnather hatten um die Bestätigung dieses Rechtes gebeten, da sie in dieser Angelegenheit von Wallwitz und Grabow bedrängt wurden.
Andere Dokumente beziehen sich auf Sternberg, wo unsere Vorfahren aus der Familie Senstius im 18. Jahrhundert durch drei Generationen hindurch Akzise-Einnehmer waren. Mit ihrem Vermögen mußten sie für die Einnahmen aus der Akzise (Verbrauchssteuer auf Konsumgüter), aus dem Zoll und aus der Stempel-Kasse (Gebührenerhebung für amtliche Bescheinigungen) haften. Deshalb wurden entsprechende Summen als Kautionen in das Hypothekenbuch von Sternberg eingetragen, das zugleich das Grundbuch war: 400 Reichstaler ab 1739 auf das Haus Nr. 1 in Sternberg, gelegen in der Frankfurter Straße. Hinzu kamen noch 100 Reichstaler ab 1794 für die Verwaltung der „hiesigen Revierskasse“, eine Summe, die auch für die Verwaltung der Stempelkasse ab 1810 reichte. Nicht nur diese Lasten, sondern auch die Privilegien der Akzise-Einnehmer gehen aus den Kauf- und Verkaufsunterlagen zu Haus Nr. 1 hervor. Der Anspruch auf freies Brennholz aus den umliegenden Wäldern der Gutsherren wurde durch die nachfolgenden Generationen derselben immer wieder bestätigt. Holz wurde ja täglich zum Kochen, nicht nur zum Heizen benötigt.
Eine alte Abschrift eines Rezesses (einer Einigung, Regelung) von 1664 zwischen den Gutsherren („Junkern“) der Umgebung und den Einwohnern von Sternberg, verhandelt in der Festung Küstrin, also unter staatlicher Aufsicht, bezeugt ebenfalls die Bedeutung von freiem Holz, das die Gutsherren den Städtern kostenlos für die Verarbeitung zu sog. Feuerleitern (auf jedem Haus und auf jeder Scheune), zu Brücken und zu Schlagbäumen zu stellen hatten. Für die Abfuhr und Verarbeitung des Holzes hatten die Bürger selbst zu sorgen. In erster Linie bezeugt der Text aber das angespannte Verhältnis zwischen den „Junkern“ (sie übten die sog. niedere Gerichtsbarkeit für kleine Delikte aus), die „die Einwohner unseres Städtleins“ als Bürger behandeln und ihnen „mit guter Bescheidenheit“ vorangehen sollten, und den Einwohnern von Sternberg, die den Junkern mit bürgerlicher Höflichkeit und gebührendem Respekt begegnen sollten. Es folgen Regelungen für den Ernte-Dienst im August, den die Einwohner (sog. Ackerbürger) den Gerichtsjunkern zu leisten hatten, auch Regelungen für die Aufsicht in den Jahrmärkten, bei den Schlagbäumen. Mit Bezug auf das Trinkgeld wird die vielsagende Aufforderung zur Bescheidenheit verbunden, „auch mit dem Trunke sich nicht überladen…“ Da die Akzise-Einnehmer zum Teil auch die Aufgabe von Polizei-Inspektoren hatten, modern ausgedrückt, verwundert es nicht, daß sich in ihrem Nachlaß auch diese aussagekräftige Regelung von 1664 fand, die offensichtlich lange Gültigkeit hatte.
1820 wurde das Haus Nr. 1 verkauft; die Kautionen wurden gelöscht. Um diese Zeit muß der letzte Akzise-Einnehmer unter unseren Vorfahren, August Ludwig Gotthilf Senstius (1777-1854), seine amtliche Tätigkeit aufgegeben haben.
Im Februar 1800 hatte er Maria Charlotte von Haugwitz, geb. im Oktober 1782, Erbin „eines 1/3-Antheil Guts Kemnath“ (später Kemnath II genannt), geheiratet. Zu ihren Vorfahren gehörten die Familien von Oppel und von Winning. Da ihr Vater bereits verstorben war, stand sie unter der Vormundschaft ihres Onkels, der seine Einwilligung geben mußte zu dieser Liebesheirat einer kleinen Landadligen mit einem wohlhabenden Bürger. Das erste Kind, ein Sohn, war bereits unterwegs. Es sollten noch zwei Töchter folgen.
Leider litt diese Urahnin in ihren vier letzten Lebensjahren an Demenz. (Alzheimer würden wir heute sagen.) Nachdem sie 1870 hochbetagt gestorben war, entschied das Kreisgericht in Zielenzig 1872 den entstandenen Erbstreit zugunsten der inzwischen verwitweten Schwiegertochter Auguste Senstius geb. Schulz (1821-1899), einer Försterstochter aus Spiegelberg, die nun das Gut (später Kemnath II) leitete. Diese hatte mit ihren drei Töchtern, den Enkelinnen der verstorbenen Maria Charlotte Senstius geb. Haugwitz, vier Jahre lang Tag und Nacht die Pflege der an Alzheimer Erkrankten übernommen, zumal die Erkrankte kein Personal an sich heranließ. Ihre leiblichen Töchter hatten sich nicht an ihrer Pflege beteiligt. Das Gericht entschied deshalb nach Anhörung verschiedener Zeugen aus dem Personal und nach Anhörung eines Sachverständigen aus Zielenzig, für die Pflege 5 Silbergroschen täglich für vier Jahre anzusetzen. Andere Leistungen wie Verpflegung und Kleidung wurden ebenfalls verrechnet. Heute würden wir von der höchsten Pflegestufe sprechen. Die Alzheimer-Erkrankung trat Gott sei Dank unter den Nachkommen nicht mehr auf. Zwei der erwähnten Enkeltöchter wurden die Urgroßmütter der Geschwister Berndt aus Kemnath, Erich Berndt (geb. 1936) und Friedel Remenyi geb. Berndt (geb. 1931), sowie der sechs Geschwister Schachinger, zu denen die Schreiberin (geb. 1935) dieser Zeilen gehört.
Ich brauche nicht zu sagen, daß das mehrseitige Gerichtsurteil nicht nur ausgesprochen modern wirkt, sondern auch einen tiefen Einblick in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem Gut in Kemnath und darüber hinaus für diese Gegend ermöglicht.
Wie haben diese Unterlagen die Zeitläufte, Krieg und Vertreibung überdauert?
Mein Urgroßvater Alfred Michel (1843-1913), der aus Drossen stammte, hatte 1875 Charlotte Senstius (1855-1939) aus Kemnath geheiratet. Sie lebten und arbeiteten in Eilenburg bei Leipzig, wo Alfred Michel 1873 eine kleine chemische Fabrik gekauft hatte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ließ er sich die erwähnten Unterlagen in Kemnath geben, um die Geschichte seiner Frau und deren Vorfahren zu schreiben. Bereits 1882/83 hatte Alfred Michel eine Chronik über seine Linie einschließlich der Nebenlinien verfaßt. Jedoch kam er nicht mehr zu einem Rückblick auf die Geschichte der Familie seiner Frau. Stattdessen blieben die Dokumente in Eilenburg liegen, bis mein Großonkel Ernst Michel (1885-1959), der jüngste Sohn von Alfred Michel, sie – vermutlich erst nach 1945 – aus seinem teilzerstörten Elternhaus an sich nahm und auszuwerten versuchte. Er war Lehrer für Naturwissenschaften an einer Oberschule in Zeulenroda/Thüringen. Nachdem ihm meine Mutter Charlotte Schachinger geb. Michel (1912-2001) geschrieben hatte, daß ich Lehrerin mit dem Hauptfach Geschichte werden wollte, schickte er mir 1951 die alten Unterlagen als eingeschriebene Sendung zu. Sie kamen trotz der innerdeutschen Grenze (zwischen der damaligen DDR und der BRD) unbeschadet in Freiburg/Breisgau an. Aber erst viele Jahre später (ich war bereits gestandene Lehrerin) werteten wir diese Unterlagen aus, zusammen mit meiner Mutter, mit meiner Tante Lieselotte Berndt geb. Rittwagen (1906-1994) aus Kemnath II und mit ihrer Tochter Friedel Remenyi geb. Berndt (geb. 1931). Das Ergebnis wurde in der Senstius-Chronik zusammengefaßt, die 1977 als Privatdruck für die Großfamilie erschien, zeitgleich mit der Michel-Chronik. Diese konnte mit großem Einsatz der Überlebenden des Zweiten Weltkrieges bis in die Nachkriegszeit erweitert werden.
Mit Billigung der Verwandtschaft gab ich die Dokumente über Kemnath und Sternberg im Juni 2009 an das Brandenburgische Landeshauptarchiv (BLHA) in Potsdam ab. Dort liegen sie nun in der Abteilung Nachlässe, verwaltet von Dr. Neininger, um der Forschung zu dienen, da Unterlagen über die Neumark rar sind, wie mir versichert wurde.
Die Michel- und Senstius-Chronik hatte ich im April 2008 zusammen mit etwa 300 Briefen an Alfred Michel bereits an das Archiv (BLHA) abgegeben. Diese Briefe aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen größtenteils aus seiner Heimatstadt Drossen und aus Frankfurt/Oder, wo er – nach dem frühen Tod seiner Mutter – von seiner Tante, einer Bäckersfrau, großgezogen worden war. Aus diesen familiären Briefen tritt der Alltag ganz lebendig in Erscheinung, soll doch der in der Ferne tätige Alfred Michel möglichst umfassend informiert werden, auch über kommunale Ereignisse in Drossen. Erhalten hat sich auch aus dem Nachlaß in Eilenburg ein prall gefülltes, beschriftetes Foto-Album, das u.a. die Brief-Schreiber/innen aus Drossen und Frankfurt/Oder zeigt. Dieses Album und die sorgfältig aufbewahrten Briefe bedeuteten für Alfred Michel ein Stück Heimat in der Ferne, ein ungeheurer Schatz selbst noch für seine Nachkommen.
Zur Einsichtnahme für die Familienforschung habe ich jeweils ein Exemplar der Michel-Senstius-Chronik und eine Kopie des Foto-Albums im Haus Brandenburg in Fürstenwalde und in der Bibliothek der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg in Berlin hinterlegt. Zum besseren Verständnis wurden die Fotos mit Hinweisen zur Michel-Senstius-Chronik versehen.
Dr. Erika Schachinger