Unsere Vertreibung aus Herzogswalde am 24. Juni 1945 und der Weg zu einem fremden Wohnort – Teil 2
Frau Anna Mechelke (57) konnte sich bei unserem Aufenthalt in Blankenfelde nicht von den Anstrengungen unseres bisherigen Marsches erholen. Es gelang ihr mit ihrem Mann Carl (64) in Blankenfelde in einem Altersheim aufgenommen zu werden. In Blankenfelde bemühten wir uns – Carl Mechelke, Karl Herfurth und ich – um Auskünfte über Zufluchtsorte. Bei einer Vorsprache im benachbarten Dorf Schildow baten wir, uns verbliebenen drei Familien – Herfurth, Teschner, Munkow – mit zwölf Personen in Unterkünfte einzuweisen. Doch ein „ Aktivist der ersten Stunde“ erklärte uns: „Ihr hinter der Oder seid alle Nazis. Ihr könnt bis zum Ende der Welt wandern – mit Euch wird niemand Mitleid haben!?“ Sollten die Straße und das Betteln wirklich unsere Zukunft sein?
Nach ca. zehn Tagen beim Bauern Blanke mussten wir uns wieder auf den Weg machen. Wir zogen nun um den 30. Juli in den Berliner Ortsteil Lübars in ein Barackenlager aus der Kriegszeit. Auf einem unbefestigten Weg hatten wir nur drei km zurückzulegen. Aber es war eine starke Belastung, denn unser kleiner Handwagen kippte einige Male um und unser Kleinster musste viel laufen. Mutti konnte ihn nicht immer tragen, denn sie war 14 Tage vor der Vertreibung in Zielenzig an einem Abszess am Unterleib operiert worden. Nun begann eine Entzündung am Hals. Von russischen Ärzten hatte sie in Blankenfelde ein Medikament bekommen. Aber die Entzündung wurde stärker.
Bei einem Erkundungsgang durch eine Gartenkolonie in Lübars entdeckte ich auf einem unbewohnten und nicht beackerten Gartengrundstück einen leichten zweirädrigen Karren. „Der wird nun unseren Marsch erleichtern“, waren meine Gedanken! Ich kletterte über den Zaun . Wie ich es geschafft habe den Karren über den Zaun zu heben, ohne ihn zu beschädigen, weiß ich bis heute nicht.
In diesem Lager bekamen wir Essenrationen. Eines Tages kam ein Arzt, der uns Kinder untersuchen sollte. Als er uns fünf Jungen sah, sagte er zu unserer Mutter: „Ich kann hier mit meiner Untersuchung nicht helfen. Schicken Sie Ihre Jungen Kartoffeln stehlen.“ Durch Vermittlung der Berlinerin Frau Engelmann, die mit ihren zwei Kindern bis zum 31. Januar 1945 bei uns in Herzogswalde evakuiert war, versuchten wir eine Aufenthaltsgenehmigung in Berlin-Tegel zu bekommen. Voraussetzung dafür war eine Entlausung. Gern hätten wir die mitgemacht, doch unsere zwei Kopfkissen und zwei Schlafdecken sollten nicht mit uns, sondern separat an einem anderen Ort entlaust werden. Dafür gaben wir unsere Sachen nicht weg, denn niemand konnte damals im Juli 1945 garantieren, dass wir sie zurückbekommen. Mit Läusen wollte uns Berlin nicht haben.
Dann erführen wir, dass in Berlin am Alexanderplatz ein Büro sei, das den Vertriebenen Orte westlich von Berlin benannte, in denen sie aufgenommen werden sollten. Mutti, Frau Teschner und Herr Herfurth machten sich auf den Weg. Von Lübars bis zum Alexanderplatz und zurück war damals eine Tagesreise. Uns wurde die Kleinstadt Wildberg nordwestlich von Berlin genannt.
Am 3. August 1945 setzten wir drei Familien uns früh in Lübars in Richtung Lehrter Bahnhof in Bewegung. Auf,, meinem“ Karren verstauten wir die Sachen der drei Familien. Wir hatten ca. zwölf km zurückzulegen und kamen nachmittags an. Der Bahnhof war völlig zerstört. Ein Güterzug in Richtung Wittenberge führ gegen Abend ab. Wir hatten in einem gedeckten Güterwagen Platz gefunden und es gelang uns auch, den Karren einzuladen. Wir reisten nun sehr langsam aber kostenlos.
Es begann bald nach der Abfahrt zu regnen. Neustadt/Dosse erreichten wir um Mitternacht. Wir hätten in einen Zug nach Neuruppin umsteigen müssen. Doch fehlende Ansagen, die Nacht und der Regen bewirkten, dass wir den Umsteigebahnhof gar nicht bemerkten. Als wir wach wurden, näherten wir uns Wittenberge. Hier stiegen wir aus und quartierten uns in einem Warteraum des Bahnhofs ein. Unseren Karren durfte ich nicht im Gebäude abstellen.
Er musste auf dem Bahnsteig stehen und ich schlief unter ihm, damit er nicht gestohlen würde. An ein Bleiben war auch hier nicht zu denken.
Eine große Überraschung war für uns eine Portion Mittagessen in einer Gaststätte für einen normalen Preis. Unerwartet wurden dann Frauen, die melken konnten, aufgerufen zum Güterbahnhof zu kommen, um Kühe zu melken. Dort stand ein langer Güterzug mit Milchkühen, die in die Sowjetunion transportiert wurden. Mutti ging mit unserem leeren Wassereimer hin und brachte ihn nach ca. 1,5 Stunden voller noch warmer Milch zurück. Es war nun schwierig, die Milch ohne Verlust zu verbrauchen, denn wir besaßen ja nur einen Kochtopf, den Wassereimer und nicht für jeden eine Tasse oder einen Teller. Auch die beiden anderen Familien waren zum Melken gegangen. Alle hatten nun Angst, die viele fette Milch würde uns nicht bekommen.
Nach zwei Tagen fuhren wir wieder mit einem Güterzug weiter und kamen am 6. August 1945, dem Tag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, gegen Mittag in Schwerin an. Wir fanden im Arsenal, einem Kasernenblock noch aus der Kaiserzeit, eine Unterkunft. In einem großen Saal kampierten hier ca. 400 Flüchtlinge und Vertriebene auf dem Fußboden. Zu den unsauberen Toiletten in der Etage unter dem Saal gelangte man über eine lange Treppe ohne Geländer.
Durch den Abszess am Hals, der sich seit dem Aufenthalt in Blankenfelde entwickelt hatte, war der Gesundheitszustand unserer Mutter jetzt bedrohlich geworden. Sie konnte kaum noch laufen und war willenlos. Ich lief los einen Arzt zu finden und hatte Glück. Wenige hundert Meter vom Arsenal entfernt las ich: „Hals-, Nasen- und Ohrenarzt, Dr. …“. Ich berichtete dem Arzt über den Zustand unserer Mutter und über unsere Situation. Er versprach sofortige Hilfe. Um 14 Uhr brachte ich Mutti zu ihm und um 17 Uhr operierte er sie. Alles verlief gut. Nach drei Wochen wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen. Die medizinische Behandlung und der Krankenhausaufenthalt erfolgten kostenlos. Der behandelnde Arzt hatte von uns kein Geld erwartet.
Am 7. August wurden wir drei Familien angewiesen, Schwerin umgehend zu verlassen und uns in einem Dorf in Mecklenburg einzufinden. Da wir unsere kranke Mutter nicht allein zurücklassen wollten, wandte ich mich gegen diese Weisung. Ich ging bis zum Oberbürgermeister von Schwerin und erreichte, dass wir im Arsenal bleiben durften und ab 8. August 1945 Lebensmittelkarten erhielten. Jetzt nicht mehr für das notwendigste Essen betteln zu müssen, war für uns eine Wohltat und ein gewaltiger Fortschritt. Doch von Karl (60) und Emma Herfurth (52) sowie von Bertha (53), Ema (20) und Karl Teschner (12) mussten wir uns trennen.
Wenige Tage nachdem Mutti aus dem Krankenhaus entlassen worden war, bekam ich Typhus und wurde nun um den 30. August in die Typhusstation „Am Großen Moor“ eingeliefert. Ich lag nun in einem Bett und nicht mehr auf dem Fußboden, aber die Lebensmittel musste mir täglich einmal mein 13-jähriger Bruder Eckhard bringen. Da unsere Familie schon ein oder zwei Tage später vom Arsenal in ein früheres Kriegsgefangenenlager nach Schwerin-Zippendorf verlegt wurde, musste mein Bruder nun täglich ca. acht km laufen. Gesund wurde ich wohl, weil er mir täglich eine 0,7 l Flasche mit Indischem Tee brachte. Er war meine Rettung.
Anfang Juni 1945 hatte ich in Herzogswalde ein Päckchen mit Indischem Tee in Originalverpackung auf der Dorfstraße gefunden.
Nach ca. zwei Wochen, um den 15. September, wurde ich entlassen und ging nun auch eilends zu unserer Familie nach Schwerin-Zippendorf. In einer üblichen Kriegsgefangenenbaracke waren mehrere Familien untergebracht. Wir kochten wieder unter freiem Himmel.
Ein Problem war das knappe Brennholz. Da half mir mein Beil aus Herzogswalde, das Frau Bolle beim ersten Halt nach dem Abmarsch weggeworfen hatte. Für Männer und Frauen gab es je eine Toilette mit offener Grube und einem Sitzbalken. Unter diesen Bedingungen würden alte Leute den kommenden Spätherbst und den Winter nicht lebend überstehen, befürchteten wir. Wir baten daher unsere Großmutter zu ihrer Schwester nach Fehrbellin zu fahren und dort zu bleiben. Oma hatte alles für uns getan und für uns gebettelt. Doch jetzt musste ihre Situation verbessert werden und sie wagte es, unter den Bedingungen von 1945 die Reise anzutreten. Es war um den 1. Oktober. Mutti und wir fünf Jungen waren verlaust und heruntergekommen. Wir wagten nicht dorthin zu gehen.
Mitte Oktober wurden wir in einer eiligen Aktion mit anderen Familien nach Rabensteinfeld, einem zehn km von Schwerin entfernten Dorf, verlegt. Wir wurden wie Gepäckstücke behandelt. Unser Klaus wäre dabei fast zu Schaden gekommen. Mit kaschubischen und ostpreußischen Familien wurden wir hier in dem großen Inspektorhaus des Gutes Rabensteinfeld untergebracht. Es war ein Haus voller Frauen und Kinder ohne Männer. Wir teilten uns ein größeres Zimmer mit drei Familien aus der Kaschubei und lagen wie vorher auf dem Holzfußboden. Einen Tisch und Stühle gab es nicht. Es stand uns ca. 15 Familien in diesem Haus aber eine große Küche mit einem entsprechenden Herd zur Verfügung. Bei dem Wenigen, was zu kochen war, einigten sich die Frauen über die Reihenfolge am Herd ohne Probleme und hielten Ordnung – Auch die Außentoilette hielten alle sauber.
Alle versuchten unter diesen Bedingungen, für den nahenden Winter vorzusorgen. Es wurden Kartoffeln gestoppelt und auch von den Kartoffelmieten der Russen, die das Gut verwalteten, gestohlen. Ein besonderes Ziel war ein mehrere Hektar großes Zuckerrübenfeld. Es wurde von russischen Soldaten bewacht. Eines abends suchte ich es auf, um Zuckerrüben zu „ernten“. Ohne ein Werkzeug konnte man sie nur deshalb aus dem Boden ziehen, weil sie noch im April 1945 gesät aber danach nicht verzogen wurden. Vielleicht hatte ich 12 kg in meinem Beutel, als ich mich erhob, um ins Quartier zu gehen und ein russischer Wachposten in die Luft schoss. Ich warf mich hin, schüttete den Beutel aus, merkte mir diese Stelle und schlich zurück in die Unterkunft. Am nächsten Abend trieb es mich wieder auf das Feld. Ich fand dieses Häufchen Zuckerrüben und schaffte es unbemerkt in unser Quartier. Wir freuten uns alle.
Jede Familie war bestrebt diesen Tiefpunkt ihres Lebens, der durch den Tod oder die Gefangenschaft der Ehemänner und Väter, die Heimatlosigkeit, den Hunger und die absolute Armut verursacht wurde, zu überwinden. Das Glück war dabei ungleich verteilt. In dieser Situation rief mein Bruder Eckhard am 26. November 1945 in der großen Küche: „ Papa!“ Unser Vater war nach seiner Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im September 1945 zu seiner Tante nach Fehrbellin gegangen und fand dort seine Mutter, unsere Oma. Sie berichtete ihm, wo wir uns in Mecklenburg aufhielten. Er machte sich umgehend auf den Weg, uns zu suchen. Aber er fand uns nicht. Er kehrte dann zu einem alten Bauern in einem Dorf bei Fehrbellin zurück, den er nach der Gefangenschaft auf dem Weg nach Fehrbellin kennengelernt und der ihm Arbeit angeboten hatte. Sein Sohn war noch 1945 gefallen. Bei diesem Bauern arbeitete und wohnte dann mein Vater. Als die Herbsternte eingebracht worden war, ging er erneut los, um uns zu suchen. Der Bauer hatte ihm zugesagt, unsere Familie aufzunehmen und auch mich zu beschäftigen. Als wir zwangsweise mit Mecklenburg mehr in Berührung kamen, wuchs der Wunsch, nach Brandenburg zurückzukehren. Das ist ja unweit der Heimat und wenn es wieder zurück in die Heimat geht, ist der Weg nicht weit, wünschten wir uns. Als unser Vater nun bei uns war, gab es kein Überlegen. Wir wollten das Angebot des Bauern Z. in Betzin annehmen. Wir bereiteten uns auf unseren Umzug vor. Unseren geringen Notvorrat an Kartoffeln und die Zuckerrüben gaben wir einer Ostpreußin mit mehreren Kindern.
Am 6. Dezember liefen wir ca. zwölf km zum Hauptbahnhof Schwerin und übernachteten dort. Am nächsten Tag fuhren wir in einem Güterzug mit offenen Wagen mehrere Stunden bis Neustadt/Dosse. Wir mussten einige Stunden auf einen Zug nach Neuruppin warten und kamen dort gegen 20 Uhr an. Es war kalt geworden seit unserem Abmarsch von Rabensteinfeld, aber der kleine Warteraum des Bahnhofs Neuruppin wurde gut geheizt und wir konnten uns neben einigen russischen Soldaten ausruhen.
Am nächsten Morgen fuhren wir in einem Personenzug nach Fehrbellin und suchten dort unsere Großmutter in der Familie ihrer Schwester auf. Alle hatten sich auf uns vorbereitet. Mittags konnten wir uns richtig satt essen. Dann übergab man uns Kleidungsstücke, Geschirr und Haushaltsutensilien, denn wir besaßen ja nichts für einen normalen Haushalt. Oma hatte die Fäden von Gewebesäcken verwendet und uns Handschuhe gestrickt. Die brauchten wir auch ganz dringend, denn die Tagestemperatur betrug ca. -5° C.
Auf einem geliehenen Handwagen verstauten wir unseren plötzlich stark vergrößerten Besitz und machten uns zuversichtlich auf zum sieben km entfernten Bauerndorf. Ein eisiger, rauher Westwind und der schlechte Zustand eines Steiges neben der Eisenbahnstrecke von Paulinenaue nach Fehrbellin machten diese letzte Etappe unserer „Wanderung seit dem 25. Juni“ zu einer Qual. Aber unser Ziel spornte uns an.
Wir gingen zum Hoftor des Bauernhofes und unser Vater betrat den Hof und kündigte uns beim Bauern Z. an. Als er und seine Schwiegertochter, die selbst Mutter von vier Kindern war, uns frierende und kraftlose Gestalten sahen, weigerten sie sich, uns aufzunehmen! Was nun? Unser Vater ging zum Bürgermeister und forderte für uns den vom Bauern zugesagten Aufenthalt. Der Bürgermeister aber wollte uns in ein Flüchtlingslager nach Eberswalde schicken. Unser Vater weigerte sich, mit uns das Dorf zu verlassen. Wir standen in dieser Zeit frierend am Ortseingang und sahen dann, wie der Bürgermeister mit Vater zum Bauern ging. Es folgte wieder ein trübseliges Warten. Es wurde bald Abend. Dann kam Vater endlich. „Ja, wir bleiben hier,“ war seine Botschaft.
Durch die Küche des Bauern wurden wir in den Teilbereich der Ausgedingerwohnung mit einer Küche für zwei Personen und einem ca. 18 qm großen Zimmer mit einem Alkoven eingewiesen. Im Zimmer standen ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, zwei Sessel und ein guter Kachelofen.
Wir machten zuerst im Ofen Feuer und kochten einen Topf voller Pellkartoffeln. Die aßen wir dann bei geöffneter Ofentür auf den beiden Stühlen und auf dem Fußboden vor dem Ofen sitzend. Die allabendliche Stromsperre hatte uns zu dieser Sitzordnung gezwungen. Doch wir waren glücklich: Vater hatte den Krieg überlebt und der lange Weg der Vertreibung war mit der Einweisung in diese Wohnung zurückgelegt. – Jetzt würden wir wieder Fuß fassen!
Das war der 8. Dezember 1945 in Karwesee, Kreis Neuruppin. – Mein 15. Geburtstag.
Dr.-Ing. Helmut Munkow
Schulzendorfer Str. 26, 15732 Eichwalde,
3. August 2014