Unsere Vertreibung aus Herzogswalde am 24. Juni 1945 und der Weg zu einem fremden Wohnort
Herzogswalde im Kreis Oststernberg, Provinz Mark Brandenburg, war ein sehr gut entwickeltes Bauerndorf. Es wurde 1461 erstmals urkundlich erwähnt und hatte 1938 269 Einwohner. Neben den 12 Bauern, 8 Kossäten und dem Gut gab es einen Schmied sowie einen Gasthof mit Lebensmittelhandlung und Poststelle. Die Post wurde an den Werktagen gegen 9 Uhr und 18 Uhr und sonntags nur morgens mit einem Postauto angeliefert, das auch 4 Personen befördern konnte.
Seit Jahrhunderten war hier der Sitz des Pfarrers für das Kirchspiel Herzogswalde – Meekow-Arensdorf und es gab eine einklassige Volksschule.
Im Jahre 1923 erfolgte der Anschluss an das Elektroenergienetz und 1934 wurde die örtliche zentrale Wasserversorgung, auch mit Hydranten für die Feuerwehr, in Betrieb genommen. Zwei Bauern, der Lehrer und der Förster besaßen ein Auto und drei Bauern, ein Land -arbeiter, der Schmied, der Stellmacher, der Inspektor des Gutes und ein Autoschlosser ein Motorrad.
Kein Herzogswalder war im Januar 1945 geflüchtet. Die Rote Armee besetzte Herzogswalde am 31. Januar 1945 gegen 23 Uhr kampflos.
Am Sonntag dem 24. Juni 1945 waren viele Herzogswalder junge Frauen und Jugendliche in den Ankenbergen im Süd-West-Bereich des Ankensees zum Blaubeeren pflücken. Alle waren darauf konzentriert, fleißig zu sein. Da kam gegen 7 Uhr unerwartet der Jugendliche Karl Niele, der im Auftrag des Bürgermeisters befahl, sofort nach Hause zu kommen. Wir dachten, wir müssten an diesem Sonntag – wie schon einige Male vorher – wieder arbeiten. Doch zu 9:30 Uhr wurden wir zum Gutshof bestellt. Ein gut Deutsch sprechender junger polnischer Unteroffizier teilte uns dann kurz und bündig mit:
„Die neue polnische Grenze sind Oder und Neiße. Da in Polen viel zerschossen ist, kommen die Polen hierher und Ihr müsst über die Oder. Jeder darf 16 kg Gepäck mitnehmen und muss in l Stunde mit seinem Gepäck wieder hierher kommen.“ Nach ca. 1 1/4 Stunden setzten sich die Dorfbewohner mit ihrem Gepäck, zumeist auf Handwagen, Karren oder Kinderwagen, in Richtung Zielenzig in Bewegung. Wir wurden aber zur Straße vor dem Gutshof zurückgeholt. Dann erfolgte durch eine Gruppe von ca. 10 Soldaten eine willkürliche Kontrolle der Menge des Gepäcks der Familien mit teilweiser Requisition. Unserer Familie, Mutter, 5 Jungen und Großmutter, nahm man von zwei Zuckersäcken einen voller Kleidung und Schlafdecken weg. Das war für uns ein schwerer Verlust, denn an dem ca. 28°C warmen Tag waren wir alle ja nur leicht bekleidet. Nachdem wir schon ca. eine halbe Stunde unweit unseres Hauses auf dem Dorfanger gestanden hatten, bemerkten wir, dass unser dreijähriger Klaus barfuss umherlief. Ein gutmütiger und hilfsbereiter junger Soldat erlaubte mir, unser Haus noch einmal zu betreten, um für Klaus die Schuhe zu holen, als der leitende Offizier nicht anwesend war. Weil die Bewohner der Nachbargemeinde Gleißen, mit denen wir gemeinsam deportiert werden sollten, erst gegen Abend in Herzogswalde eintrafen, mussten wir in dieser Zeit auf dem Dorfanger stehend oder sitzend warten. Es ging auch ein Gewitterregen auf uns nieder. Wir übernachteten noch einmal im Schloss und in Gebäuden des Gutshofs.
Am Montag dem 25. Juni um 4 Uhr mussten wir unter militärischer Bewachung Herzogswalde verlassen. Ungefähr 12 nicht mehr gehfähige alte Leute wurden auf einem Leiterwagen gefahren. Bei sommerlicher Hitze um 28° C mussten wir an diesem 1. Tag unseres Marsches in das Ungewisse über Zielenzig, Langenfeld, Heinersdorf und Drossen bis nach Zweinert 28 km laufen. Nachdem unser Leidenszug Langenfeld durchquert hatte, bot sich uns Herzogswaldern noch einmal die Möglichkeit, über das Postumtal zu blicken und unser Heimatdorf mit der markanten achteckigen Kirche zu sehen. Wir verabschiedeten uns mit einem wehmütigen letzten Blick von Herzogswalde.
In Heinersdorf versorgten wir uns an den Wasserpumpen der Gehöfte eilig mit Trinkwasser und dann ging es wieder weiter. Nach ca. 4 km bei brütender Hitze brach eine junge Frau aus Gleißen zusammen. Ihre ungefähr zweijährige Tochter saß neben ihr und blicke auf ihre auf dem Erdboden liegende Mutter. Der Treck der Vertriebenen zog an ihr vorbei.
Das stark gebrandschatzte Drossen durchquerten wir auf der Hauptstraße, die nun schon Marschall-Stalin-Straße hieß.
Wir übernachteten in Zweinert in einem Kuhstall. Alle mussten sich selbst verpflegen.
Von Zweinert ging es am 26. Juni, wieder an einem sehr warmen Tag, weiter über die Dörfer Groß Rade, Klein Rade und Lässig nach Göritz. Gegen 16 Uhr überquerten wir auf einer Pontonbrücke die Oder. Niemand erwartete uns auf der Westseite! Auf dem zerfahrenen Oderdamm schleppten wir uns noch ca. 2 km weiter in Richtung Lebus. An diesem Tag waren wir 22 km gelaufen. Jetzt zerbrach die Dorfgemeinschaft. Als einzelne Familien oder in Gruppen versuchten alle durchzukommen. Wir übernachteten zuerst in einem Haferfeld und dann, vor einem Gewitterregen Schutz suchend, in einem verwahrlosten Haus der ehemaligen Front.
Am Mittwoch dem 27. Juni zogen wir weiter. Wir, die Familien Johanna Munkow, Bertha Teschner, Karl Herfurth, Karl Irmscher und Carl Mechelke, waren jetzt eine Gruppe. Für zusammen 16 Personen hatten wir einen Handwagen für die verbliebenen Sachen und einen kleinen Handwagen für unseren dreijährigen Bruder Klaus. Auf dem zerfahrenen und durch das nächtliche Gewitter aufgeweichten Oderdamm quälten wir uns zum ca. 5 km entfernten Lebus. In der frontmäßig ausgebauten Post fanden wir ein Dach über dem Kopf. Auch hier erwartete uns niemand ! Es gab keine Verwaltung, die sich um uns kümmerte! Lebus war ja von Februar 1945 bis Mitte April Frontgebiet. – Es gab dort nichts, aber ich entdeckte 2 grüne Äpfel.
Während des Aufenthalts in Lebus begann ich, ein Tagebuch über die Vertreibung zu führen. Ich berichtete aber nur über das Geschehen vom 24.-26. Juni mit den entscheidenden Erlebnissen. Dann fehlte mir wohl die Kraft.
Nach 2 Ruhetagen zogen wir am 29. Juni weiter und erreichten nach 20 km Seelow. In einem unbewohnten halbzerstörten Haus quartierten wir uns ein. Aus einem Keller im Stadtzentrum durften wir uns Kartoffeln holen. Wir blieben 2 Tage.
Am l. Juli quälten wir uns in einem Tagesmarsch bei Regenwetter zum 18 km entfernten Müncheberg. Wir übernachteten bei einem Bauern in der Scheune. Man hatte für uns nichts übrig und hätte uns lieber nicht aufgenommen.
Am 2. Juli ging es über Waldsieversdorf in das 18 km entfernte Ruhlsdorf. Wir schliefen wieder in einer Scheune, ruhten uns einen Tag aus und mussten dann wieder das Dorf verlassen.
Am 4. Juli zogen wir weiter. Über Hohenstein, Strausberg und Strausberg-Vorstadt gelangten wir nach Hennickendorf, 19 km waren das wieder! Herr Herfurth versuchte über dort wohnende Bekannte eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Vergeblich, wir mussten weiterziehen. Als unser sechsjähriger Hans-Dieter in Strausberg die Straßenbahngleise sah, sagte er:
„Mutti, wir essen alles auf, was wir noch haben und legen dann den Kopf auf die Schienen und lassen uns tot fahren“. Doch sein 3 Jahre älterer Bruder Karl-Heinz verzagte nicht.
Am 5. Juli liefen wir von Hennickendorf über Tasdorf nach Petershagen nur 9 km. Ein Bauer gewährte uns in seiner Scheune Quartier. Es waren auch noch weitere Vertriebene dort. Einer von ihnen stahl uns ein Fläschchen kostbares Speiseöl. Der Bauer verhielt sich entgegenkommend und wir blieben 2 oder 3 Tage.
Um den 7. Juli ging es dann über Alt Landsberg bis nach Seeberg, einem kleinen Dorf am nördlichsten Teil der Autobahn „Berliner Ring“. Unser Quartier war wieder eine Scheune auf einem Bauernhof. -Wir durften wieder nicht im Dorf bleiben ! Nach einem Ruhetag liefen wir nun weiter in Richtung Westen und überschritten die Berliner Stadtgrenze. Wir erreichten nach ca. 10 km ein kirchliches Gebäude in Berlin-Marzahn. Seit dem Kampf um Berlin stand es leer. Wir kochten wie immer unter freiem Himmel, schliefen aber auf Holzbänken. In diesem Haus blieben wir 3 oder 4 Tage.
Von Marzahn gingen wir am 11. Juli in Richtung Zentrum über Lichtenberg zur Frankfurter Allee und bogen in die Petersburger Straße ab. Hier trennten sich Pauline (73) und Karl Irmscher (75), die ältesten unserer Gruppe, von uns und nahmen den großen Handwagen mit. Sie wollten zu einer ihrer Töchter, die in der Petersburger Straße wohnte. Unser Sack mit unserem Besitz kam nun auf den kleinen Handwagen und Klaus, unser Jüngster, saß auf dem Sack. Die Familien Herfurth, Teschner und Mechelke mussten nun ihr gesamtes Gepäck tragen. So erreichten wir nach insgesamt 15 km eine Schule in Pankow, die im Krieg ein Reservelazarett war. Hier erlebten wir erstmals, dass an Vertriebene ein warmes Essen ausgegeben wurde. Beim Anstehen nach unseren Rationen wurde ich ohnmächtig. Herr Herfurth half und brachte auch für unsere Familie das Essen mit. Die Hilfsstelle für Vertriebene in Pankow mussten wir am nächsten Morgen verlassen.
Wir zogen am 12. Juli über Berlin- Buchholz und die Buchholzer Straße in Richtung Berlin-Blankenfelde. Es war ein Sonntag und nur wir waren unterwegs. Da erreichten wir ein Kartoffelfeld. Wir dachten nicht an das 8. Gebot, sondern „ernteten“ Kartoffeln. Plötzlich tauchte ein Radfahrer auf- der erste, den ich nach dem Einmarsch der Russen sah. Er sagte uns: „Der russische Kommandant in Blankenfelde lässt alle erschießen, die von den Feldern stehlen.“ Wir glaubten das nicht, aber mit den Russen wollten wir keine Problem haben und so verließen wir schnell das Kartoffelfeld . Später stellte sich heraus, dass es in Blankenfelde keinen russischen Kommandanten gab. Der Besitzer des Feldes hatte uns wohl auf diese einfache Art zum schnellen Weiterziehen veranlasst. Nach ca. l km erreichten wir Blankenfelde. Insgesamt hatten wir an diesem Sonntag ca. 8 km zurückgelegt. Es war ein Glückstag. Problemlos und mit Verständnis für uns kamen wir beim Bauern Blanke in Blankenfelde unter – wir 14 Personen und noch eine Frau mit 6 Kindern von der „Seidenfabrik“ Hohentannen bei Königswalde.
Bauer Blanke gab uns kostenlos so viel Kartoffeln, dass wir uns sattessen konnten und er sprach mit uns! Von der Gemeinde erhielten wir karge Brotrationen und einmal auch Pferdefleisch. Unser Hans-Dieter wurde von Frau Blanke besonders versorgt und er spielte mit ihren beiden Töchtern.
Frau Anna Mechelke (57) konnte sich bei unserem Aufenthalt in Blankenfelde nicht von den Anstrengungen unseres bisherigen Marsches erholen. Es gelang ihr mit ihrem Mann Carl (64) in Blankenfelde in einem Altersheim aufgenommen zu werden. In Blankenfelde bemühten wir uns – Carl Mechelke, Karl Herfurth und ich – um Auskünfte über Zufluchtsorte. Bei einer Vorsprache im benachbarten Dorf Schildow baten wir, uns verbliebenen 3 Familien -Herfurth,Teschner, Munkow- mit 12 Personen in Unterkünfte einzuweisen . Doch ein „ Aktivist der ersten Stunde“ erklärte uns : „Ihr hinter der Oder seid alle Nazis. Ihr könnt bis zum Ende der Welt wandern – mit Euch wird niemand Mitleid haben!?“ Sollten die Straße und das Betteln wirklich unsere Zukunft sein?
Nach ca. 10 Tagen beim Bauern Blanke mussten wir uns wieder auf den Weg machen. Wir zogen nun um den 30. Juli in den Berliner Ortsteil Lübars in ein Barackenlager aus der Kriegszeit. Auf einem unbefestigten Weg hatten wir nur 3 km zurückzulegen. Aber es war eine starke Belastung, denn unser kleiner Handwagen kippte einige Male um und unser Kleinster musste viel laufen. Mutti konnte ihn nicht immer tragen, denn sie war 14 Tage vor der Vertreibung in Zielenzig an einem Abzess am Unterleib operiert worden. Nun begann eine Entzündung am Hals. Von russischen Ärzten hatte sie in Blankenfelde ein Medikament bekommen. Aber die Entzündung wurde stärker.
Bei einem Erkundungsgang durch eine Gartenkolonie in Lübars entdeckte ich auf einem unbewohnten und nicht beackerten Gartengrundstück einen leichten zweirädrigen Karren. „Der wird nun unseren Marsch erleichtern“, waren meine Gedanken! Ich kletterte über den Zaun . Wie ich es geschafft habe den Karren über den Zaun zu heben, ohne ihn zu beschädigen, weiß ich bis heute nicht.
In diesem Lager bekamen wir Essenrationen. Eines Tages kam ein Arzt, der uns Kinder untersuchen sollte. Als er uns 5 Jungen sah, sagte er zu unserer Mutter: „Ich kann hier mit meiner Untersuchung nicht helfen. Schicken Sie Ihre Jungen Kartoffeln stehlen.“ Durch Vermittlung der Berlinerin Frau Engelmann, die mit ihren 2 Kindern bis zum 31.01. 1945 bei uns in Herzogswalde evakuiert war, versuchten wir eine Aufenthaltsgenehmigung in Berlin -Tegel zu bekommen. Voraussetzung dafür war eine Entlausung. Gern hätten wir die mitgemacht, doch unsere 2 Kopfkissen und 2 Schlafdecken sollten nicht mit uns, sondern separat an einem anderen Ort entlaust werden. Dafür gaben wir unsere Sachen nicht weg, denn niemand konnte damals im Juli 1945 garantieren, dass wir sie zurückbekommen. Mit Läusen wollte uns Berlin nicht haben.
Dann erführen wir, dass in Berlin am Alexanderplatz ein Büro sei, das den Vertriebenen Orte westlich von Berlin benannte, in denen sie aufgenommen werden sollten. Mutti, Frau Teschner und Herr Herfurth machten sich auf den Weg. Von Lübars bis zum Alexanderplatz und zurück war damals eine Tagesreise. Uns wurde die Kleinstadt Wildberg nordwestlich von Berlin genannt.
Am 3.8.1945 setzten wir 3 Familien uns früh in Lübars in Richtung Lehrter Bahnhof in Bewegung. Auf,, meinem“ Karren verstauten wir die Sachen der 3 Familien. Wir hatten ca. 12 km zurückzulegen und kamen nachmittags an. Der Bahnhof war völlig zerstört. Ein Güterzug in Richtung Wittenberge führ gegen Abend ab. Wir hatten in einem gedeckten Güterwagen Platz gefunden und es gelang uns auch, den Karren einzuladen. Wir reisten nun sehr langsam aber kostenlos.
Es begann bald nach der Abfahrt zu regnen. Neustadt/Dosse erreichten wir um Mitternacht. Wir hätten in einen Zug nach Neuruppin umsteigen müssen. Doch fehlende Ansagen, die Nacht und der Regen bewirkten, dass wir den Umsteigebahnhof gar nicht bemerkten. Als wir wach wurden, näherten wir uns Wittenberge. Hier stiegen wir aus und quartierten uns in einem Warteraum des Bahnhofs ein. Unseren Karren durfte ich nicht im Gebäude abstellen.
Er musste auf dem Bahnsteig stehen und ich schlief unter ihm, damit er nicht gestohlen würde. An ein Bleiben war auch hier nicht zu denken.
Eine große Überraschung war für uns ein Portion Mittagessen in einer Gaststätte für einen normalen Preis. Unerwartet wurden dann Frauen, die melken konnten, aufgerufen zum Güterbahnhof zu kommen, um Kühe zu melken . Dort stand ein langer Güterzug mit Milchkühen, die in die Sowjetunion transportiert wurden. Mutti ging mit unserem leeren Wassereimer hin und brachte ihn nach ca. 1,5 h voller noch warmer Milch zurück. Es war nun schwierig, die Milch ohne Verlust zu verbrauchen, denn wir besaßen ja nur einen Kochtopf, den Wassereimer und nicht für jeden eine Tasse oder einen Teller. Auch die beiden anderen Familien waren zum Melken gegangen. Alle hatten nun Angst, die viele fette Milch würde uns nicht bekommen.
Nach 2 Tagen führen wir wieder mit einem Güterzug weiter und kamen am 6. August 1945, dem Tag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, gegen Mittag in Schwerin an. Wir fanden im Arsenal, einem Kasernenblock noch aus der Kaiserzeit, eine Unterkunft. In einem großen Saal kampierten hier ca. 400 Flüchtlinge und Vertriebene auf dem Fußboden. Zu den unsauberen Toiletten in der Etage unter dem Saal gelangte man über eine lange Treppe ohne Geländer.
Durch den Abszess am Hals, der sich seit dem Aufenthalt in Blankenfelde entwickelt hatte, war der Gesundheitszustand unserer Mutter jetzt bedrohlich geworden. Sie konnte kaum noch laufen und war willenlos. Ich lief los einen Arzt zu finden und hatte Glück. Wenige hundert Meter vom Arsenal entfernt las ich: „Hals-, Nasen – und Ohrenarzt, Dr. …“ . Ich berichtete dem Arzt über den Zustand unserer Mutter und über unsere Situation. Er versprach sofortige Hilfe. Um 14 Uhr brachte ich Mutti zu ihm und um 17 Uhr operierte er sie. Alles verlief gut. Nach 3 Wochen wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen. Die medizinische Behandlung und der Krankenhausaufenthalt erfolgten kostenlos. Der behandelnde Arzt hatte von uns kein Geld erwartet.
Am 7. August wurden wir 3 Familien angewiesen, Schwerin umgehend zu verlassen und uns in einem Dorf in Mecklenburg einzufinden. Da wir unsere kranke Mutter nicht allein zurücklassen wollten, wandte ich mich gegen diese Weisung. Ich ging bis zum Oberbürgermeister von Schwerin und erreichte, dass wir im Arsenal bleiben durften und ab 8. August 1945 Lebensmittelkarten erhielten. Jetzt nicht mehr für das notwendigste Essen betteln zu müssen, war für uns eine Wohltat und ein gewaltiger Fortschritt. Doch von Karl (60) und Emma Herfurth (52) sowie von Bertha (53), Ema (20) und Karl Teschner (12) mussten wir uns trennen.
Wenige Tage nachdem Mutti aus dem Krankenhaus entlassen worden war, bekam ich Typhus und wurde nun um den 30. August in die Typhusstation „ Am Großen Moor“ eingeliefert. Ich lag nun in einem Bett und nicht mehr auf dem Fußboden, aber die Lebensrnittel rnusste mir täglich einmal mein 13 jähriger Bruder Eckhard bringen. Da unsere Familie schon ein oder zwei Tage später vom Arsenal in ein früheres Kriegsgefangenenlager nach Schwerin-Zippendorf verlegt wurde, musste mein Bruder nun täglich ca. 8 km laufen. Gesund wurde ich wohl, weil er mir täglich eine 0,71 Flasche mit Indischem Tee brachte. Er war meine Rettung.
Anfang Juni 1945 hatte ich in Herzogswalde ein Päckchen mit Indischem Tee in Originalverpackung auf der Dorfstraße gefunden.
Nach ca. 2 Wochen, um den 15. September, wurde ich entlassen und ging nun auch eilends zu unserer Familie nach Schwerin – Zippendorf. In einer üblichen Kriegsgefangenenbaracke waren mehrere Familien untergebracht. Wir kochten wieder unter freiem Himmel.
Ein Problem war das knappe Brennholz. Da half mir mein Beil aus Herzogswalde, das Frau Bolle beim ersten Halt nach dem Abmarsch weggeworfen hatte. Für Männer und Frauen gab es je eine Toilette mit offener Grube und einem Sitzbalken. Unter diesen Bedingungen würden alte Leute den kommenden Spätherbst und den Winter nicht lebend überstehen, befürchteten wir. Wir baten daher unsere Großmutter zu ihrer Schwester nach Fehrbellin zu fahren und dort zu bleiben. Oma hatte alles für uns getan und für uns gebettelt. Doch jetzt musste ihre Situation verbessert werden und sie wagte es, unter den Bedingungen von 1945 die Reise anzutreten. Es war um den l. Oktober. Mutti und wir 5 Jungen waren verlaust und heruntergekommen. Wir wagten nicht dorthin zu gehen.
Mitte Oktober wurden wir in einer eiligen Aktion mit anderen Familien nach Rabensteinfeld, einem 10 km von Schwerin entfernten Dorf, verlegt. Wir wurden wie Gepäckstücke behandelt. Unser Klaus wäre dabei fast zu Schaden gekommen. Mit kaschubischen und ostpreußischen Familien wurden wir hier in dem großen Inspektorhaus des Gutes Rabensteinfeld untergebracht. Es war ein Haus voller Frauen und Kinder ohne Männer. Wir teilten uns ein größeres Zimmer mit 3 Familien aus der Kaschubei und lagen wie vorher auf dem Holzfußboden. Einen Tisch und Stühle gab es nicht. Es stand uns ca. 15 Familien in diesem Haus aber eine große Küche mit einem entsprechenden Herd zur Verfügung. Bei dem Wenigen, was zu kochen war, einigten sich die Frauen über die Reihenfolge am Herd ohne Probleme und hielten Ordnung – Auch die Außentoilette hielten alle sauber.
Alle versuchten unter diesen Bedingungen, für den nahenden Winter vorzusorgen. Es wurden Kartoffeln gestoppelt und auch von den Kartoffelmieten der Russen, die das Gut verwalteten, gestohlen. Ein besonderes Ziel war ein mehrere Hektar großes Zuckerrübenfeld. Es wurde von russischen Soldaten bewacht. Eines abends suchte ich es auf, um Zuckerrüben zu „ernten“. Ohne ein Werkzeug konnte man sie nur deshalb aus dem Boden ziehen, weil sie noch im April 1945 gesät aber danach nicht verzogen wurden. Vielleicht hatte ich 12 kg in meinem Beutel, als ich mich erhob, um ins Quartier zu gehen und ein russischer Wachposten in die Luft schoss. Ich warf mich hin, schüttete den Beutel aus, merkte mir diese Stelle und schlich zurück in die Unterkunft. Am nächsten Abend trieb es mich wieder auf das Feld. Ich fand dieses Häufchen Zuckerrüben und schaffte es unbemerkt in unser Quartier. Wir freuten uns alle.
Jede Familie war bestrebt diesen Tiefpunkt ihres Lebens, der durch den Tod oder die Gefangenschaft der Ehemänner und Väter, die Heimatlosigkeit, den Hunger und die absolute Armut verursacht wurde, zu überwinden. Das Glück war dabei ungleich verteilt. In dieser Situation rief mein Bruder Eckhard am 26. November 1945 in der großen Küche: „ Papa!“ Unser Vater war nach seiner Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im September 1945 zu seiner Tante nach Fehrbellin gegangen und fand dort seine Mutter, unsere Oma. Sie berichtete ihm, wo wir uns in Mecklenburg aufhielten. Er machte sich umgehend auf den Weg, uns zu suchen. Aber er fand uns nicht. Er kehrte dann zu einem alten Bauern in einem Dorf bei Fehrbellin zurück, den er nach der Gefangenschaft auf dem Weg nach Fehrbellin kennen gelernt und der ihm Arbeit angeboten hatte. Sein Sohn war noch 1945 gefallen. Bei diesem Bauern arbeitete und wohnte dann mein Vater. Als die Herbsternte eingebracht worden war, ging er erneut los, um uns zu suchen. Der Bauer hatte ihm zugesagt, unsere Familie aufzunehmen und auch mich zu beschäftigen. Als wir zwangsweise mit Mecklenburg mehr in Berührung kamen, wuchs der Wunsch, nach Brandenburg zurückzukehren. Das ist ja unweit der Heimat und wenn es wieder zurück in die Heimat geht, ist der Weg nicht weit, wünschten wir uns. Als unser Vater nun bei uns war, gab es kein Überlegen. Wir wollten das Angebot des Bauern Z. in Betzin annehmen. Wir bereiteten uns auf unseren Umzug vor. Unseren geringen Notvorrat an Kartoffeln und die Zuckerrüben gaben wir einer Ostpreußin mit mehreren Kindern.
Am 6. Dezember liefen wir ca. 12 km zum Hauptbahnhof Schwerin und übernachteten dort. Am nächst Tag führen wir in einem Güterzug mit offenen Wagen mehrere Stunden bis Neustadt/Dosse. Wir mussten einige Stunden auf einen Zug nach Neuruppin warten und kamen dort gegen 20 Uhr an. Es war kalt geworden seit unserem Abmarsch von Rabenstein-feld, aber der kleine Warteraum des Bahnhofs Neuruppin wurde gut geheizt und wir konnten uns neben einigen russischen Soldaten ausruhen.
Am nächsten Morgen führen wir in einem Personenzug nach Fehrbellin und suchten dort unsere Großmutter in der Familie ihrer Schwester auf. Alle hatten sich auf uns vorbereitet. Mittags konnten wir uns richtig satt essen. Dann übergab man uns Kleidungsstücke, Geschirr und Haushaltsutensilien, denn wir besaßen ja nichts für einen normalen Haushalt. Oma hatte die Fäden von Gewebesäcken verwendet und uns Handschuhe gestrickt. Die brauchten wir auch ganz dringend, denn die Tagestemperatur betrug ca. -5° C.
Auf einem geliehenen Handwagen verstauten wir unseren plötzlich stark vergrößerten Besitz und machten uns zuversichtlich auf zum 7 km entfernten Bauerndorf. Ein eisiger, rauher Westwind und der schlechte Zustand eines Steiges neben der Eisenbahnstrecke von Paulinenaue nach Fehrbellin machten diese letzte Etappe unserer „Wanderung seit dem 25. Juni“ zu einer Qual. Aber unser Ziel spornte uns an.
Wir gingen zum Hoftor des Bauernhofes und unser Vater betrat den Hof und kündigte uns beim Bauern Z. an. Als er und seine Schwiegertochter, die selbst Mutter von 4 Kindern war, uns frierende und kraftlose Gestalten sahen, weigerten sie sich, uns aufzunehmen! Was nun? Unser Vater ging zum Bürgermeister und forderte für uns den vom Bauern zugesagten Aufenthalt. Der Bürgermeister aber wollte uns in ein Flüchtlingslager nach Eberswalde schicken. Unser Vater weigerte sich, mit uns das Dorf zu verlassen. Wir standen in dieser Zeit frierend am Ortseingang und sahen dann, wie der Bürgermeister mit Vater zum Bauern ging. Es folgte wieder ein trübseliges Warten. Es wurde bald Abend. Dann kam Vater endlich. „ Ja, wir bleiben hier,“ war seine Botschaft.
Durch die Küche des Bauern wurden wir in den Teilbereich der Ausgedingerwohnung mit einer Küche für 2 Personen und einem ca. 18 qm großen Zimmer mit einem Alkoven eingewiesen. Im Zimmer standen ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, zwei Sessel und ein guter Kachelofen.
Wir machten zuerst im Ofen Feuer und kochten einen Topf voller Pellkartoffeln. Die aßen wir dann bei geöffneter Ofentür auf den beiden Stühlen und auf dem Fußboden vor dem Ofen sitzend. Die allabendliche Stromsperre hatte uns zu dieser Sitzordnung gezwungen. Doch wir waren glücklich: Vater hatte den Krieg überlebt und der lange Weg der Vertreibung war mit der Einweisung in diese Wohnung zurückgelegt. – Jetzt würden wir wieder Fuß fassen!
Das war der 8. Dezember 1945 in Karwesee, Kreis Neuruppin. – Mein 15. Geburtstag,
Dr.- Ing. Helmut Munkow