1976 – Wieder gemeinsame Busreise nach Königswalde
Auszüge aus dem gleichnamigen Text von Fritz Praetsch,
entnommen dem Heimatbrief 8, Frühjahr 1977.
Mit Zwischentexten (in kursiv) von Michael Praetsch, Winter 2011.
Im Februar oder März 1976 berichtet mir mein Vater, dass er in einigen Monaten wieder eine Heimatreise anbietet und fragt, ob ich denn Interesse daran habe ihn zu begleiten und seine (und die meiner Tanten Fridel Schmaus und Dora Quast) frühere Heimatstadt Zielenzig und Umgebung kennenzulernen. Spontan stimme ich diesem Angebot zu, jedoch mit einem schlechten Gefühl im Magen… was ist wenn… schließlich ist Vater schon 74 Jahre alt…
Nach einer Autofahrt von Wichmannshausen (Werra-Meissner-Kreis, Nordhessen), der „Neuen Heimat“ meines Vaters, steigen wir in Hannover in den Bus ein, der uns nach der verlorenen Heimat meines Vaters und seiner Mitreisenden bringen soll. Mein Vater, als Organisator und Reiseleiter seiner mittlerweile 2. Heimatreise, begrüßt die Teilnehmer und ich bemerke, dass sich einige nicht gerade auf die Grenzkontrollen freuen können. Die nächtliche Busfahrt auf der Autobahn ist irgendwann für alle ermüdend, viele Teilnehmer haben auch schon das 60. Lebensjahr überschritten, allmählich nicken die meisten ein.
Gegen 6 Uhr fahren wir über die Oder und haben die deutsch-polnische Grenzkontrolle erreicht. Hier warten wir nun auf den polnischen Reiseleiter und schauen uns inzwischen ein wenig um. Da ist stromabwärts die Eisenbahnbrücke zu sehen, die nach der Sprengung 1945 sofort wieder aufgebaut wurde, wobei auch Frauen und Kinder helfen mußten. Manche wechseln Geld ein, andere suchen den Intershop-Laden auf, der noch nicht geöffnet ist, dessen Auslagen aber verraten, was man für harte DM zollfrei einkaufen kann; wirklich günstig sind dann nur Spirituosen und Zigaretten! Um 7.30 Uhr aber meint Karl-Heinz, unser Fahrer: „Länger warten wir nicht“, und so geht es nun weiter ohne Reiseleiter auf dem neuerbauten Zubringer nach Bottschow-Sternberg-Zielenzig-Königswalde.
Wir sind neben dem Neuen Schloß in einem neuerbauten Komplex untergebracht, und als wir vor dem Verwaltungsgebäude halten, kommen uns die Polen entgegen mit Reitergruppe und Festwagen, sie wollen an der Maifeier teilnehmen, wählen aber schnell einen anderen Weg, weil sie nicht vorbeikönnen. Uns aber wird in dem Verpflegungs- und Aufenthaltsraum ein gutes Frühstück gereicht, was sich nach der doch anstrengenden Fahrt als recht belebend erweist. – Die Unterbringung erfolgt in einem mehrfach gegliederten zweistöckigen, zentralbeheizten Bau in Zweibettzimmern.
Vater und ich beziehen unsere Zimmer, die einfach und praktisch eingerichtet sind. Ein Radio oder einen Fernseher gibt es nicht, wozu auch. Ich inspiziere die Dusche, warmes Wasser gibt es nur am Morgen, das verwöhnte Söhnchen meckert innerlich.
An einem Nachmittag beteiligen sich viele an der Fahrt nach Lagow über Schermeisel, Egelofuhl (nur noch die Grundmauern), Langenpfuhl. Schönow, und da die Straße nach Neulagow gesperrt ist, über Selchow und Grunow. Kurz vor Lagow ist immer ein kurzer Halt, weil sich hier ein eindrucksvoller Blick auf Lagow und die Burg bietet.
Die Burg war mir schon in meiner Kinderzeit ein Begriff, insbesondere durch ein kleines Bild, gemalt von meiner Tante Dora mit der typischen Ansicht des Turms und eines Nebengebäudes, gesehen durch den Bogen des Torhauses. Nun bin ich also selbst mit Vater auf dem Turm und wir überblicken die Gegend mit Seen und Ort. Tante Dora bezeichnete die Gegend um Zielenzig als das „Blaue Ländchen“. Damals für mich eine unbedeutende Bezeichnung, heute verstehe diese Aussage. Ich weiß heute nicht mehr mit Sicherheit, ob im Jahr 1976 schon ein kleines Museum im Turm oder einem Nebengebäude untergebracht war, denke aber, dass das Museum existierte?
Vater und ich durchstreifen Zielenzig, wir sind auf den Spuren seiner Jugend und der frühen Zeit des Erwachsenenseins. Der Marktplatz macht auf mich einen grauen, traurigen Eindruck. Wo einst das architektonisch eigenwillige Rathaus, die anmutigen Bürgerhäuser standen, jetzt Wohn-Neubauten im typisch sozialistischen Stil der 70er Jahre. Durch die Kriegseinwirkungen geschrumpft, der Glockenturm der Nikolaikirche. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal ebenfalls Geschichte, eine Art Brunnen ziert den öden Markplatz. Wir gehen in eine Straße, die Breitenstrasse sagt, mein Vater.
Er orientiert sich und findet den Bereich, in dem das Elternhaus der Familie stand. Wir blicken auf eine Grasfläche und dahinter Wohnbauten, einige Frauen sehen aus den Fenstern und unterhalten sich, mit Sicherheit über den alten und den jungen Deutschen.
Mein Vater wird ruhig, mit feuchten Augen verlassen wir diese Stätte. Am Abend ist Vater noch ruhiger und irgendwann brüllt er mich sogar an. Warum? Ich weiß es bis heute nicht, vielleicht weil es ihm immer noch weh tut, auch nach 31 Jahren Leben im Westen.
An einem anderen Tage geht es mit sehr reger Beteiligung nach Posen, wo vor über 1000 Jahren bis 1296 polnische Herzöge residierten, wo 1253 von deutschen Kaufleuten auf der westlichen Wartheseite ein neuer Stadtteil gegründet wurde, der bis 1793 immer nach Magdeburger, also deutschem Recht, verwaltet wurde und nun mit dem polnischen Teil, den er an Ausdehnung schnell überflügelte, die Altstadt bildet. – Aber die meisten wissen von der Geschichte dieser Stadt und dieses Landes doch recht wenig, um so interessierter verfolgen sie den Weg, den wir nehmen: Schermeisel, Meseritz, Obrawalde – (eine Stimme: Hier bin ich geboren!) – Betsche-Wierzebaum –, erreichen hier die Chaussee Berlin-Küstrin-Schwerin-Birnbaum-Pinne – (hier endet auch die Chaussee Frankfurt/O. – Reppen-Sternberg-Schwiebus-Tirschtiegel) und gelangen nun schnell nach Posen.
Die Fahrt durch die Altstadt läßt kaum noch Kriegsschäden erkennen, wir sehen ansprechend gestaltete Plätze und bemerken Bauwerke noch aus alter und deutscher Zeit: Das Rathaus, im 16. Jh. im prächtigen Renaissancestil erbaut, den Dom mit „goldener“ Kapelle, darin die von Rauch gefertigten Bildsäulen von polnischen Herzögen, die Bibliothek von 1836 mit 24 gußeisernen korinthischen Säulen, das vom Kaufmann Berger 1865 gestiftete Realgymnasium, das Stadttheater von 1879, die Kaiserpfalz von 1900, Postamt u.a.m. Viele von uns richten die Blicke auf die Auslagen in den Schaufenstern, die genügend Ware anbieten, aber nur selten unserm Geschmack entsprechen. Der begehrte Bernsteinschmuck befindet sich nicht darunter, man muß Glück haben, wenn man etwas derartiges erstehen will. In den Geschäftsstraßen herrscht reger Verkehr, die Plastiktüten verraten, daß man eingekauft hat, jüngere Personen sind modern gekleidet, in den Kaffeehäusern findet man nur mit Mühe einen Platz. – Pausenlos wird man deutsch angesprochen, ja geradezu verfolgt von Geldwechslern, die 1:40 bieten, während der offizielle Kurs bei 1:13 liegt. Aber hierbei ist Vorsicht geboten!
Wieder einige Stunden in Zielenzig. Wir dürfen die Mittelschule besuchen. (Während seiner ersten Heimatreise war dies meinem Vater nicht vergönnt. Damals fotografierte er verschiedene Gebäude, das ehemalige Grundstück seines Elternhauses etc., was einem Polizisten wiederum nicht gefiel. Vater wurde in Gewahrsam genommen, auf der Polizeistation verhört, sein Film beschlagnahmt und er nach einigen Stunden entlassen.)
Vater spricht mit dem Schulleiter, der sich sehr freut auf einen deutschen Kollegen (mein Vater war Lehrer), der zudem in Zielenzig lebte, zu sprechen. In einigen Klassen können wir dem Unterricht beiwohnen und freuen uns, dass viele Schüler/innen das Fach Deutsch als Pflichtfach wählen.
Weitere Busfahrten bringen uns ins Warthebruch, und es stellt sich heraus, daß viele in ihrem Leben niemals hier gewesen und nun von der Eigenart dieser Landschaft doch tief beeindruckt sind. Wir befahren von Költschen aus den Warthewall, die Brücke bei Fichtwerder, stehen vor dem ausgebrannten Johanniterschloß in Sonnenburg, wo so viel verschwunden ist, aber die Kirche noch überstanden hat, wogegen sie in Kriescht mit der gesamten Bruchstraße nicht mehr zu finden ist. Wir amüsieren uns über die Kleinbahn, wo eine riesige Güterzuglokomotive, mächtige schwarze Rauchwolken ausstoßend, einen kleinen Personenwagen hinter sich herzieht, in dem der Schaffner der einzige Passagier zu sein scheint, deren gemächlichem Tempo sich unser Bus anpaßt, was den Lokomotivführer zum Überholen mit nun „wildgewordener“ Maschine veranlaßt. Am Bahnhof in Mauskow reichen wir ein paar Flaschen deutsches Bier hinüber, mit denen wir zuvor gewinkt hatten. Wir freuen uns über die Störche, die hier und da noch nisten, aber am meisten wohl über das Kriegerdenkmal in Trebow, das unversehrt die Namen der Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg trägt. Bauern erzählen, daß auslaufende Höfe an den Staat fallen, die Kinder sich verunsichert fühlen und nach einer Beschäftigung in der Stadt Ausschau halten; fast alle Wassermühlen sind stillgelegt, wie auch Bäckereien und Fleischereien, wo Großbetriebe diese Arbeiten übernommen haben.
Die Abende verbringt man sehr unterhaltsam in der Bar des Neuen Schlosses, wo man für Zloty vielerlei an Getränken erhält, aber doch nicht auf die preisgünstigen Südweine und den Krimsekt (umgerechnet 6,- DM die Flasche) verzichten sollte. Andere Kurzweil wird indes mit Dollar oder DM abgegolten, wie z.B. die Kutschwagenfahrten, die Reitstunden, die unsere drei Teenager mit Enthusiasmus absolvieren, wenn sie wie die Amazonen durch die Wälder traben.
Auf einer Art Turnierplatz ist schon das Lagerfeuer entfacht worden, das nun hoch auflodert und in dessen Glut die auf lange Ruten gesteckten Wurststücke gebraten werden. Wir stehen oder sitzen um das Feuer, trinken Bier und Limo, nehmen schemenhaft die Gespanne wahr, die am Rande stehen und üben die sich das milde Licht der Wagenlaternen ergießt, der Geruch von Pferden und Leder, vermischt mit dem Klirren von Ketten, die Silhouette der hochaufsteigenden Kiefern, überschienen vom Glanz des nächtlichen Mondes. Das alles weckt Erinnerungen, die nun sehr weit zurückliegen in einer Welt, die es heute kaum mehr gibt, die man aber hatte, vielleicht, wenn man von einem Ausflug nach dem Buchwald zu später Nachtstunde in einer lauen Sommernacht mit dem Leiterwagen oder sonst von einem Besuch heimkehrte. Es ist schwer, in einem Land zu Gast zu sein, wo man einmal zu Hause war.
Das Feuer ist niedergebrannt, die Wagen fahren vor, einer hat Schaden genommen und kann nicht mehr benutzt werden, was sich gar nicht als so schlimm erweist; denn wir sind in einem großen Bogen gefahren und haben in der Nähe von Königswalde gerastet, so daß die Fußgänger auch schnell die Unterkünfte erreichen.
Den Abschluß bildet wie immer ein Bankett, bei dem es sehr lustig hergeht. Daß der Plattenspieler mit seiner. Schellackulatten etwas antik wirkt, tut den Tanzenden keinen Abbruch.
Epilog
An manche Orte, die wir als Reisegruppe besuchten, habe ich leider keine Erinnerung mehr. Und auch die Orte und Begegnungen, die mein Vater eindrucksvoll in seinem Bericht beschreibt, sind vergessen. Manches ist jedoch geblieben. Die Gespräche mit älteren Reiseteilnehmern in einer kleinen Dorfkneipe in Königswalde, wo wir wohlwollend von den Gästen akzeptiert wurden, zumindest habe ich keine negativen Erinnerungen. Oder die Abende in der Bar des Neuen Schlosses, in der ich doch einigen Gläsern Krimsekt zugeneigt war. Und an die Teenager, die mein Vater in seinem Reisebericht erwähnt, kann ich mich nur schemenhaft erinnern. Vielleicht waren ja auch sie oder Sie Teilnehmer der Heimatreise nach Königswalde vom 30. April bis 6. Mai 1976?
Sie vermissen in diesem Text Fotos?
Ja, ich habe vieles fotografiert. Durch unsachgemäße Lagerung sind jedoch die meisten Bilder unbrauchbar geworden. Statt schlechter Fotos wurden Bilder meiner Tante Dora und eine Bleistiftzeichnung meines Vaters eingefügt.
Obwohl ich seit Kindertagen durch die Unterhaltungen der Erwachsenen über die Heimat meines Vaters und meiner Tanten Dora und Fridel hörte, war und ist es doch ein bekanntes – unbekanntes – „Blaues Ländchen“.