Meine Erinnerungen an das Kriegsende
Nach dem Lazarettaufenthalt im Kurhaus von Bad Brambach erhielt ich am 13. Januar 1945 nach meiner 2. Verwundung Genesungsurlaub und fuhr mit der Eisenbahn durch das teilweise zerstörte Berlin über Landsberg a.W. in meinen Heimatort, Waldowstrenk. An diesen Tagen hielt noch die Natur, unter der Kältewelle erstarrt, einen friedlichen Winterschlaf. Eine innere Unruhe, Sorgen und Kummer bewegten die eigenen Familienangehörigen, da mein Bruder vom Feindflug nicht zurückgekehrt der Onkel in Russland vermisst und im Ort bereits viele Söhne gefallen waren. Bald jedoch‚ durch die Winteroffensive der Roten Armee ausgelöst, war auch der äußere Friede vorbei. Es zogen Flüchtlingswagen aus den polnischen Gebieten die Reichsstrasse von Schwerin/Warthe kommend in Richtung Westen. Viele machten einen kurzen Stopp auf dem Gehöft, um mit warmen Getränken versorgt zu werden.
Vorbereitungen wurden getroffen, um im Notfall selbst Richtung Westen mit dem Pferdefuhrwerk fahren zu können. Ein Koffer mit Zivilsachen für mich wurde mit der Bahn zu Verwandten in den Westen geschickt.
Am Samstag , den 27.1.45, war für mich der Urlaub zu Ende, ich verabschiedete mich von Mutter und Vater, den ich nie wieder sehen sollte, und fuhr abends mit dem fast leeren Zug über Landsberg nach Meseritz. Hier war mein Ersatztruppenteil der 48. Infantriedivision stationiert. Dort angekommen wurde ich gleich zur Wache eingeteilt. Die wirkliche Lage hatte ich damals falsch eingeschätzt. Aufgrund einer Rückfrage seitens der Bevölkerung hatte ich geäußert, dass eine Flucht noch nicht so eilig sei, da ja erst eigene Truppen zurückkommen müssten, ehe die Russen kämen. Es kamen aber keine Fronttruppen mehr, sodass dann Meseritz am Dienstag, den 30.1. von uns zusammen mit einer ungarischen Einheit geräumt wurde. Es wurde der Bunker des Ostwalls – mit den verschneiten Laufgräben neben der Strasse nach Pieske besetzt. Der dort eingesetzte Volkssturm wurde von uns abgelöst und in Richtung Westen geschickt. Es dauerte nicht lange bis sich 2 oder 3 T34 vor der Panzersperre postierten und die Stellungen unter Beschuss nahmen. Beim Sprung über die Strasse krachte wieder eine Granate hinter mir, doch es waren diesmal nur gefrorene Erdbrocken, die mir ins Kreuz flogen. Mehrere Verwundete konnten noch in der Nacht mit einem Sanka abtransportiert werden. Ob sie noch durchgekommen sind, ist mir nicht bekannt. In der Kuppel des Bunkers waren keine Abwehrwaffen mehr montiert, die Lichtmaschine ohne Funktion. so dass ich den Auftrag erhielt, Wachskerzen aus dem Ort Pieske zu holen. Hier hatten die Bewohner fluchtartig die Häuser verlassen. In einem offenen Hause standen noch gebrauchte Kaffeetassen und Sirup auf dem Tisch. Bewohner im Ort und auch Kerzen waren nicht zu finden. Wegen des näher rückenden Gefechtslärmes musste ich davon ausgehen, dass die Stellung aufgegeben wurde. Ich meldete mich beim Stab der in einem Gebäude, es müsste wohl in Tempel gewesen sein, untergebracht war. Am nächsten Tag zogen wir uns über Schermeissel, Wandern, Zielenzig und Langenfeld zurück. Durch Zielenzig und Langenfeld müssen schon vorher dem Augenschein nach sowjetische Truppen gezogen sein. Gegen Mittag des 2.2.45 wurde der inzwischen mit Flüchtlingswagen durchsetzte Treck durch Artillerie aus Richtung Herzogswalde beschossen, wobei die Granaten auf dem gefrorenen Boden des offenen Feldes Verluste anrichteten. Der Zug kam ins Stocken. Vor dem Waldgelände in Richtung Heinersdorf wurde die Auflösung der auf ca. 150 Mann starken zusammengewürfelten Einheit befohlen, da damals Drossen bereits von der Roten Armee besetzt sein sollte. Jeder sollte sich auf eigene Faust zu den deutschen Stellungen durchschlagen. In kleinen Gruppen, wo auch oft die Partner wechselten, wurde dieses versucht. Nachts wurde durch die Wälder gelaufen und morgens irgendwo im Wald ein Versteck gesucht oder ich mit einer größeren Gruppe eingeigelt. Ortschaften mussten gemieden werden, da diese überall bereits von den Russen besetzt waren. Da meist ein Haus im Orte brannte, markierten sich diese, und wir kamen in genügendem Abstand Richtung Westen vorwärts. In dem freieren Gelände hatten wir am Morgen des 7.2. auf einem Strohschober in der Nähe von Zohlow-Kohlow Unterschlupf suchen müssen, da wir auch durch fehlende Ernährung und das viele Einbrechen beim Laufen durch den oben verharschten Schnee total erschöpft waren, obwohl am Fuße des Schobers eine tote vergewaltigte Frau lag. Eine am Strohschober vorbeireitende russ. Patroullie muss wohl doch etwas von unserer Anwesenheit gemerkt haben und alarmierte die im Ort stationierte Einheit. Beim Einbrechen der Dunkelheit kamen etwa 50 Mann schießend auf unser Versteck zu wobei einer von uns bereits verwundet wurde. Der am Tage zuvor zu unserer kleinen Gruppe gestoßene Offizier war bereits vorher einmal in Gefangenschaft geraten und er riet mir, mit ihm den Russen entgegen zu gehen. damit diese das Feuer einstellten. Nachdem dieses dann auch geschah, kamen die anderen ohne jedoch den Verwundeten mitschleppen zu können. Als wir bei den Russen angekommen waren, gab es ein Handgemenge zwischen einem mit der Maschinenpistole herumfuchtelnden Soldaten und seinem Offizier, das aber Gott sei Dank zu unseren Gunsten ausging. Ich sah noch. dass der Verwundete. der nun nachkommen wollte in den Strohschober zurückgestoßen wurde und gleich darauf der Strohschober in Flammen aufging.
Danach fanden wir uns in einem dunklen Tiefkeller mit Kartoffeln wieder. Die Einwurfsluke ging auf und es zeigte sich gegen den Nachthimmel ein freundlich grinsendes, mongolisches Gesicht, dessen Besitzer uns eine Fleischbüchse herunterwarf. Wohl auf Anweisung des Kommandanten hatte die Bauersfrau für uns Kartoffelbrei gekocht, der unseren großen Hunger stillte. Am nächsten Tage wurden dann die verschiedenen Gefangenengruppen zusammengeführt und in die Pionierkaserne nach Zielenzig transportiert. Getrennt wurde hier nach alliierten Kriegsgefangenen. Offizieren und Mannschaften, die in den einzelnen massiven eingeschossigen Gebäuden untergebracht wurden. Verhöre oder politische Schulungen wurden damals noch nicht ausgeführt. Im Lager wurde eine Tafel mit den uns zustehenden Lebensmittelrationen aufgestellt, deren Erfüllung aber während meiner Kriegsgefangenschaft nicht eingetreten ist. Dieses ist aber auch durchaus verständlich, da die Bevölkerung in Osteuropa fast überall hungern musste. Im Lager kam es wegen der Essenszubereitung teilweise Kartoffeln mit Schalen und Keimen in der Suppe, dem Klietschbrot sowie Unterernährung zu Durchfall und Ruhr. Die verstorbenen Kameraden wurden in einer Ecke des Geländes beigesetzt Die Grabstelle war am Anfang noch durch ein Birkenkreuz gekennzeichnet.
Während dieser Zeit war eine Narbe am Unterschenkel meines rechten Beines aufgegangen. Einen dort noch steckenden Tuchfetzen des Hosenbeines. der in den dunklen Gewölben des Verbandsplatzes der Karpaten versehentlich mit eingenäht wurde, konnte ich entfernen, mit den im Gelände herumliegenden Verbandspäckchen verbinden, sodass sich die Wunde langsam wieder schloss.
Zu den morgens am Kasernentor zusammengestellten Arbeitskommandos habe ich mich. sobald es ging , oft gemeldet. Hatte ich doch gehofft, bei diesen Einsätzen auch einmal in meinem Heimatort vorbeifahren zu können. Die Arbeitseinsätze waren von den meisten Gefangenen deshalb begehrt, weil es am Mittag dort einen zusätzlichen Eintopf gab und die im Lager übliche Kartoffelsuppe für die Arbeitskommandos dann abends ausgegeben wurde. Es waren die verschiedensten Arbeiten auszuführen:
Aufräumungsarbeiten in den Kasernen des Truppenübungsplatzes Wandern, am 1. März, noch bei Schneetreiben, auf dem in Wandern errichteten Feldflugplatz die Fliegerbomben umstapeln, sowie die Demontage eines Sägewerkes in Kriescht. (Später sah ich bei der Hin- und bei der Rückfahrt östlich von Brestlitowsk Maschinenteile beidseits der Bahnlinie unverändert im Freien stehen. Es war nur noch Schrott.) Bei den einzelnen Maschinen wurden keine Zeichnungen oder Bezeichnungen angefertigt, wie die einzelnen Teile wieder zusammengehörten. Die Sowjets waren wohl der Auffassung, dass es in Deutschland auch nur einen Fabrikanten für Sägewerksgatter gäbe. Im Nachhinein sind diese Maßnahmen vollkommen unverständlich, da ja unsere Heimat ihren Bundesgenossen, dem polnischen Volk. bereits zugesprochen war.
Ein weiterer Einsatz erfolgte auf einem Bahngelände, wo wir mit einer Handpumpe von einem Tankwagen Öl in 200-l-Fässer pumpen mussten. Hier sind mir die Vorwürfe und Anschuldigungen eines jüdischen Kommissars peinlich in Erinnerung, die er uns wegen des Vorgehens in Katyn machte. Die damalige Erschießung polnischer gefangener Offiziere durch die Rote Armee war uns damals noch nicht bekannt, und ist wohl auch erst beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg aufgeklärt worden.
Bei den Fahrten mit den von Amerika gelieferten LKWs fielen die vielen über die Straße gespannten Spruchbänder auf, die wir nicht lesen konnten, doch wohl vom Regime gleich hinter der Front als kriegswichtig erachtet wurden.
Mitte April brachte uns ein Lkw, der durch Lagow mit einem solchen Tempo fuhr dass wir beinahe von der Pritsche flogen, an die Oder. Richtung Nord-Westen brannte die Innenstadt von Frankfurt. Die Sowjets waren dabei, an der früheren Eisenbahnbrücke eine Holzbrücke über die Oder zu bauen, für die wir Baumstämme transportieren sollten. Am 28.4. kam dann der Tag, an dem ich mein Heimatdorf wiedersehen sollte. Aus dem Lager setzte sich eine Marschkolonne von etwa 200 Gefangenen über Meekow Rauden und Neudorf in Bewegung. Trotz der flankierenden Posten konnte ich einen im Laufen geschriebenen Zettel beim Hause unseres Schuhmachers in Rauden abwerfen. In Neudorf habe ich dann wohl ein weiteres Schreiben einem Bewohner in die Hand gedrückt. Eine dritte Benachrichtigung ließ ich in den Weg zum hinteren Garteneingang des Kalkmühlengrundstückes fallen. Die Kolonne machte ihre einzige Rast in dem Wäldchen neben der Straße mit Blick auf die Kalkmühle. Der Ort war menschenleer, fast alle Gebäude ausgebrannt, sodass die leeren Außenmauern in den blauen Himmel ragten. Bei dem Haus von Friedrichs und Arndts war nur eine Brandspur im oberen Giebelfenster zu erkennen. Das war das einzigste Gebäude, das noch im Ort stand, Die Felder waren unbestellt, der Kuhmist lag noch in Haufen auf den Feldern wie beim Verlassen des Elternhauses vor einem Jahr. Die Heimat war tot.
Der Marsch ging weiter in Richtung Landsberg, die Straße, die ich Jahre zuvor vielmals mit dem Rade zur Schule gefahren bin an der Waldschule vorbei, über Blockwinkel. Schönewald, Egloffstein. Roßwiese, Brückenvorstadt, einer Holzbrücke über die Warthe, der ausgebrannten Innenstadt von Landsberg und schließlich die Friedeberger Str. entlang zum Lager in der IG-Farbenfabrik.
Dank der Hilfsbereitschaft der Restbevölkerung, die Vertreibung hatte ja noch nicht begonnen. kamen meine Lebenszeichen kurzfristig in die Hände meiner Mutter, die damals noch in der Hammer-Schneidemühle lebte. Während meines letzten Aufenthaltes in der Kalkmühle war geplant, dass im Ernstfall alle Bewohner des Gehöftes die Flucht mit Pferdefuhrwerken antreten sollten, wobei als späterer Treffpunkt das Haus der Verwandten in Strausberg bei Berlin vorgesehen war.
(Fortsetzung folgt) Otto-Karl Barsch